Ein Gehäuse, zu träumen - Die Bayerische Staatsoper und ihre Geschichten

Essay von Prof. Holger Noltze
Lesedauer: 10 Minuten

„Habent sua fata libelli“, so heißt ein alter lateinischer Sinnspruch, „Bücher haben ihre Schicksale“ – aber nicht nur Bücher, auch Gebäude haben ihr Schicksal, und Theater natürlich besonders. Es sind die Orte, an denen die Wirklichkeit der Wirklichkeit mit der Sphäre des Imaginären, der Illusion, des Erträumten zusammentrifft mit unseren Wunsch-, auch unseren Angstträumen. Das Theater macht ein Bild, vom Schönsten und Schrecklichsten, und das musikalische Theater kann uns, in der Dunkelheit des Zuschauerraums, auch da erreichen und dahin mitnehmen, wo Worte nichts mehr zu sagen haben. Opernhäuser sind Gehäuse wirklicher Immersion. Lange bevor es das Wort dafür gab.

In den ersten 175 Jahren ist Oper in München, wie fast überall, ein Vergnügen und Ritual des Hofes.

Als 1653 zum wahrscheinlich ersten Mal Musiktheater in der kurbayerischen Residenz zu erleben war, eine dramatische Kantate mit dem schön bezeichnenden Titel L’Arpa festante von Giovanni Battista Maccioni, war das nicht nur der Beginn einer heute mehr als dreieinhalb Jahrhunderte langen Geschichte der Oper in München, sondern mutmaßlich die Initiale des Genres in Deutschland überhaupt. Und München, mit seinem Hang zum Schönen, war bestimmt kein zufälliger Ort, um, nördlich von Italien und ein paar Jahre erst nach Monteverdis Tod, der immer etwas unmöglichen Kunst der Oper einen Möglichkeitsraum zu eröffnen. Eine „festliche Harfe“, der Titel von Maccionis Kantate, das traf es schon: das gesellschaftlich Herausgehobene des Fests, die Durchbrechung von Alltäglichkeit durch den ästhetischen Reiz des Schönen. Wobei Gesellschaft hier einstweilen den begrenzten Raum des Höfischen) meint, versteht sich. In den ersten 175 Jahren ist Oper in München, wie fast überall, ein Vergnügen und Ritual des Hofes.

 

Keine Festanstellung für Mozart 

Hundert Jahre dauerte es, bis François Cuvilliés (nach dem allerersten „kurfürstlichen Opernhaus“ bei der Salvatorkirche) dem Genre dann einen eigenen Ort schuf, das (Alte) Residenztheater, ein Traum von Rokoko und bis heute die Spielstätte für das besondere, intimere Format. In der Karnevalssaison 1781 erlebte das „Cuv“ seinen musikgeschichtlich vielleicht größten Moment, die Uraufführung des Idomeneo, „Dramma per musica“ eines 25-jährigen Salzburgers. Mozarts Geniestreich war sehr wohl ein Erfolg, doch da war die allergrößte Chance für den Opernstandort München bereits versäumt. Unter dem 30. September 1777 berichtet Wolfgang Amadé aus der bayerischen Residenz dem Vater nach Hause, er habe sich dem Kurfürsten persönlich „unterthänigst zu füssen“ gelegt und ihm seine Dienste angetragen. Darauf der: „‚ja, völlig weg von Salzburg?‘ – ‚völlig weg. ja Euer Churf. Durchlaucht.‘ – ‚ja mein liebes kind, es ist keine vacatur da. mir ist leid. wen nur eine vacatur da wäre.‘ – ‚Ich versichere Eur Durchl: ich würde München gewis Ehre Machen.‘ – ‚ja das nuzt alles nicht. es ist keine vacatur da.‘ Dieß sagte er gehend.“

Keine Festanstellung, nicht einmal für einen Mozart. Dafür wurde und blieb sorgfältige Mozart-Pflege ein Pfeiler des Münchener Opernrepertoires, nahezu durchgehend, besonders prominent in Bruno Walters Epoche 1912–1923 und darüber hinaus bis heute. Mozart blieb, auch wenn sich der Münchener Operngeschmack änderte, von der Vorherrschaft des italienischen Spielplans in der Zeit von König Max I. (1806–1825) zur Entdeckung einer deutschen Kunst unter Ludwig I. (1825–1848). Der entließ die Italiener und sorgte für den Umzug der Oper aus dem inzwischen zu engen Cuvilliés-Theater ins neue, weiträumigere Nationaltheater.

Ein virtueller Rungang durch das Nationaltheater

Karl von Fischers jetzt zeitgemäßer Klassizismus war inspiriert vom Pariser Odéon, mit Blick auf ein breiteres städtisches Publikum. Nach einem kleineren Brand und allerhand finanziellen Schwierigkeiten konnte es 1818 eröffnen. Doch nur fünf Jahre später stand dieses erste Nationaltheater wieder in Flammen, am 14. Januar 1823 brannte es, nach der Aufführung einer komischen Oper von Étienne-Nicolas Méhul, bis auf die Grundmauern nieder. Die Geschichte des Nationaltheaters, des zentralen Ortes für Oper in München, sie ist die Geschichte ihrer Wiederaufbauten. Was auch bedeutet: eines mehrfach erneuerten Bekenntnisses der Stadt, einen großen Raum für ihre musikalisch-theatralen Träume haben zu wollen. Nach nur zwei Jahren konnte das Nationaltheater wiedereröffnet werden, von Leo von Klenze, Ludwigs I. allgegenwärtigem Hofarchitekten vergrößert um einen Säulen-Vorbau, die Bühne nun groß genug auch für Meyerbeers Grand Opéras. Der schnelle Wiederaufbau wurde maßgeblich finanziert durch einen zumal in München einträglichen „Bierpfennig“.

Wagner-Theater

Mit gerade 18 Jahren, 1864, wird der zweite Ludwig König in Bayern – und München für einige Jahre zum zentralen Wirkungsort seines Lieblingskomponisten und Idols Richard Wagner. Für das Genie des neuen Musikdramas des 19. Jahrhunderts war, anders für das des 18., sehr viel „vacatur“ da, und das Hof- und Nationaltheater erlebte nicht weniger als vier Geburten künftiger Zentralwerke des ewigen Weltopernrepertoires. Hans von Bülow dirigierte am 10. Juni 1865 die nach grandios gescheiterten Anläufen in Wien, Karlsruhe und anderswo als unspielbar geltende „Handlung“ von Tristan und Isolde. Es folgten, 1868, die Meistersinger von Nürnberg, wieder unter von Bülow. Weiterhin, gegen den Willen des Komponisten, aber auf ausdrücklichen Wunsch des königlichen Mäzens, 1869, Das Rheingold und im Jahr darauf Die Walküre; es dirigierte, im eigens dafür tiefergelegten Orchestergraben, Franz Wüllner, der sich den Ruhm des Uraufführungsdirigenten, aber auch den Fluch Wagners zuzog: „Hand weg von meiner Partitur. Das rath ich Ihnen, Herr; sonst soll Sie der Teufel holen!“ – Es half nichts, und für Wagnerianer ist der erste komplette Ring des Nibelungen bei den ersten Festspielen in Bayreuth 1876 ohnehin die eigentliche und amtliche Premiere. Wagner in München, das war allerseits eine so gloriose wie hysterische Geschichte, der Gesamtkunstwerker des 19. Jahrhunderts blieb auch nach seinem rauschenden Abgang ein zweiter Haupt-Pfeiler des Münchener Spielplans, und 1901 eröffnete die als Festspielhaus gedachte neue Spielstätte, das Prinzregententheater, logischerweise, mit den Meistersingern. Fußnote: Auch Wagners Frühwerk Die Feen wurde in München aus der Taufe gehoben, postum, 1888.

 

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Hofoper zur Staatsoper, bald im Zeichen legendärer Dirigenten: bis 1923 Bruno Walter, überragender Sachwalter nicht nur Mozarts und Mahlers. Danach Hans Knappertsbusch, 1935 aus dem Amt gedrängt durch die Nazis, die er öffentlich zu kritisieren gewagt hatte, aus durchaus konservativer Gesinnung. So war er prominenter Initiator jenes fatalen „Protests der Richard-Wagner-Stadt München“ gegen Thomas Manns tiefgründige Vorlesung über Leiden und Größe Richard Wagners im Juni 1933 an der Münchner Universität. Die publizistische Attacke gab den Ausschlag für Manns Gang ins Exil. Knappertsbusch interessierte sich wenig für Regie und fast gar nicht für eine Zeitgenossenschaft der Oper, aber er verstand es zu faszinieren für das, woran er glaubte.

Das Haus hat seine Geschichten, es sind ja Steine, vor allem aber der Geist, der darin weht. Ein Gehäuse für die Begegnung mit unseren Träumen, auch Ängsten. Auch Hoffnungen. Die Oper bleibt eine riskante Kunstform, ihr prominenter Ort, mitten im öffentlichen Raum, eigentlich eine Ungeheuerlichkeit.

Strauss-Pflege 

Zu den Unterzeichnern des Mann-Protests gehörte, neben mehr als 40 Persönlichkeiten, auch der gebürtige Münchener Richard Strauss, Sohn des Ersten Hornisten der Münchener Hofkapelle der Oper. 1886 wurde das komponierende, dirigierende Junggenie Dritter Kapellmeister der Hofkapelle, und es war der Entzug des Dirigats der späten Uraufführung von Wagners Feen, das ihn in München hinschmeißen ließ, Richtung Weimar und Restwelt. Doch Strauss war in München natürlich unaufhaltsam. Es begann eine kometenhafte Karriere in Dresden, Berlin, Wien und anderswo, doch schon 1910 feierte man in seiner Heimatstadt die ersten „Strauss-Tage“. So wurde Strauss zum dritten Pfeiler des Münchener Spielplans, auch wenn nur Friedenstag (1938) und das späte Capriccio (1942) hier uraufgeführt wurden.

Von 1936 an wirkte Clemens Krauss als dirigierender Intendant an der Bayerischen Staatsoper, anders als sein Vorgänger Knappertsbusch diplomatisch begabt und wendig im Umgang mit den Mächtigen des Hitlerreichs. Krauss’ Programmpolitik festigte die Linie Mozart-Wagner-Strauss, er öffnete das Haus aber auch für eine künstlerisch ambitionierte Regie, etwa durch Engagement des späteren Intendanten Rudolf Hartmann.

Strauss’ Capriccio im November 1942 war der letzte große Uraufführungsabend im alten Nationaltheater. In der Nacht auf den 3. Oktober 1943 trafen Brandbomben das Haus am Max-Joseph-Platz und zerstörten es weitgehend. Nach dem Krieg wurde alsbald im Prinzregententheater weitergespielt. Erst steuerte Georg Hartmann als Intendant das Ensemble durch die Nachkriegsjahre, dann begann der (nicht verwandte) Rudolf Hartmann den zweiten Wiederaufbau zu organisieren, wesentlich vorangetrieben auch durch das bürgerschaftliche Engagement des Vereins der Freunde des Nationaltheaters e.V.  undflankiert von bedeutenden Dirigenten: dem jungen Georg Solti, Rudolf Kempe, Ferenc Fricsay, dann als sehr geschätzter Nachfolger Joseph Keilberth, der 1968 während einer Festspielaufführung von Tristan und Isolde im Münchner Orchestergraben starb. Keilberth hatte am 21. November 1963 die festliche Eröffnung des neuen Nationaltheaters geleitet, auf dem Programm wieder einmal Meistersinger. Auch wenn es in diesem Stück um das Neue in der Kunst geht: Man kann die Rekonstruktion des Nationaltheaters – ein Wiederaufbau als „zeitgemäße“ Interpretation des architektonischen „Grundgedankens“, aber mit moderner Technik – als Bekenntnis zur Tradition verstehen. Andere Orte, andere Konzepte, waren erwogen und verworfen worden, auch der architektonischen Geschlossenheit des Residenz-Ensembles wegen.

Mit Günther Rennert folgte 1967 wieder ein Regisseur als Intendant, Wolfgang Sawallisch wurde der für lange Zeit prägende Generalmusikdirektor. Rennert inszenierte, öffnete das Haus aber auch für Kollegen, Jean-Pierre Ponnelle, August Everding, Otto Schenk und andere. Everding (1977–1982) und Sawallisch (1982–1993) führten das Haus in eine aufgeklärt traditionsbewusste Gegenwart. 1978 erlebte Aribert Reimanns Lear seine Uraufführung. Mit der Intendanz von Sir Peter Jonas (1993–2006) ist die erfolgreiche Öffnung zum Barockrepertoire und die Pflege markanter Regiehandschriften verbunden. Der riesenhafte Dinosaurier, der da in Sir Peters zweiter Neuproduktion, Händels Giulio Cesare zu Boden ging, ausgebuht und gefeiert, wurde zur Ikone einer neuen Opern-Epoche. Sir Peters Devise von der „Oper für alle“ war auch ein Anknüpfungspunkt für seine Nachfolger: Nach der zweijährigen Leitungszeit eines Direktoriums um Kent Nagano, Ulrike Heßler und Roland Schwab folgte der Österreicher Nikolaus Bachler, der 2008 vom Wiener Burgtheater an die Bayerische Staatsoper wechselte, seit 2013 mit Kirill Petrenko als GMD. Auch die Intendanz Bachler, der die Oper als Ort der Pracht und des Neuen verstand, hatte Stürme durchzustehen. Zur Signatur der Bachler-Jahre gehört die Exzellenz der musikalischen Arbeit von Kirill Petrenko, auch die Star-Power einer Anja Harteros und eines Jonas Kaufmann. Mit Das Gesicht im Spiegel und Babylon gab es, 2003 und 2012, zwei neue Opern des in München geborenen Jörg Widmann und drei weitere Uraufführungen von Miroslav Srnka.

Fragen nach dem Heute 

Die jüngere Geschichte des Hauses ist geprägt von dem Versuch, die Erwartungen an eines der größten Opernhäuser der Welt, einen funktionierenden Repertoirebetrieb mit etwa 80 Stücken, mit den drängenden Fragen der Gegenwart zu verbinden. Zu diesen Fragen gehört sicher auch die nach der gesellschaftlichen Relevanz der Sonderkunst „Oper“ heute. Serge Dorny, mit der Spielzeit 2021–22 Intendant, mit Vladimir Jurowski als GMD, sucht die Vernetzung der Bayerischen Staatsoper mit der Stadt und ihren (Kultur-)Szenen. Auch Dorny sieht seine Arbeit publikumsorientiert in einem bewusst anspruchsvollen Sinn; das Publikum werde oft unterschätzt: Aber „Mittelmäßigkeit generiert nichts. Deshalb muss man das Publikum fordern. Und es möchte gefordert werden.“

Das Haus hat seine Geschichten, es sind ja Steine, vor allem aber der Geist, der darin weht. Ein Gehäuse für die Begegnung mit unseren Träumen, auch Ängsten. Auch Hoffnungen. Die Oper bleibt eine riskante Kunstform, ihr prominenter Ort, mitten im öffentlichen Raum, eigentlich eine Ungeheuerlichkeit.

Serge Dorny im Interview mit BR-Klassik

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