Draußen auf dem Max-Joseph-Platz hüpfen die Regentropfen in die Pfützen. Auch drinnen, in der Parkettgarderobe des Münchner Nationaltheaters, blubbert es leise; die Klangkünstlerin Christine Börsch-Supan kreiert Live-Sounds mit Wassergeräuschen, an den Wänden steigen per Projektion Blubberblasen auf und schwimmen ein paar Meeresbewohner herum, der Raum ist in ein sanftes blau-grünes Licht gehüllt. Der Saal, der sonst die Wollmäntel und Regenschirme der Zuschauer beherbergt, hat sich für das Kindertanztheater Wie der Fisch zum Meer fand, in eine Unterwasserwelt verwandelt.

In dieser Welt schwimmt ein kleiner Fisch, dargestellt von der Tänzerin Judith Seibert. Wie die drei echten Goldfische, die im Aquarium auf dem Tresen friedlich ihre Kreise ziehen, und die beiden befreundeten Kameraden aus dem Fischschwarm (Ensemblemitglieder Sinéad Bunn und Severin Brunhuber) bewegt sich auch die Darstellerin in ihrem orangefarbenen Gewand fröhlich durch die imaginären Wellen. Bis der Fisch ins Grübeln verfällt.

Ob und wie Fische im echten Leben denken, wissen wir nicht. Der kleine Fisch in der Parkettgarderobe jedenfalls tut es.

Entsprechend der literarischen Vorlage von Alan Watts Bilderbucherzählung Wie der Fisch zum Meer fand (The Fish Who Found The Sea) aus dem Jahr 1944 denkt er so stark darüber nach, warum und wie er eigentlich schwimmen kann, dass er darüber fast seine Fähigkeit zur Fortbewegung verliert. Aber zum Glück nur fast. Denn im Verlauf des Stücks überwindet er seine Blockade.

Gebannt verfolgt das junge Publikum, wie die Tänzerin zunächst mit ruhigen, symmetrischen Bewegungen ihre schwimmenden Runden durch den Raum zieht. Doch zu sehr über etwas nachzudenken und automatisierte Abläufe in Frage zu stellen, tut selten gut. Und so verfällt der kleine Fisch plötzlich in Panik. Arme und Beine beginnen hektisch zu strampeln, die Erzählstimme, die zugleich das den Fisch umgebende Meer darstellt, wird nervös. Doch dann fasst sich das Meer ein Herz: „Wenn du nicht schwimmen könntest, wieso bist du dann noch nicht auf den Meeresgrund gefallen?“, fragt die Stimme beruhigend aus dem Off.

Und so findet der kleine Fisch schließlich wieder zu sich selbst und seinen Fähigkeiten zurück. Als sich die Wogen und Emotionen in der Unterwasserwelt wieder geglättet haben, verzaubern Sinéad Bunn und Severin Brunhuber die Kinder mit einem anmutigen Fisch-Pas-de-deux, der kleine Fisch tanzt beglückt um seine Badewannenwohnung herum und die Klangkulisse hüllt den Raum in eine plätschernd-beruhigende Atmosphäre. Auch physisch erfährt das junge Publikum die Unterwasserwelt: Immer wieder ermuntern die beiden Tänzerinnen und der Tänzer die Kleinen, in die Fisch-Choreographie einzusteigen, die Armbewegungen zu imitieren und mit ihnen zu schwimmen und zu blubbern.

„Ich denke gerne in Erfahrungsräumen“, sagt die Regisseurin Franziska Angerer, die selbst Mutter eines fünfjährigen Sohnes ist, im Gespräch. „Die kleinen Kinder sind alle ein bisschen wie der kleine Fisch und gerade in diesem Alter dabei, vielseitige Erfahrungen zu sammeln und ihr Ich zu entwickeln.“

In dem Tanztheaterstück schafft die Absolventin der August-Everding-Akademie viele solcher Erfahrungsräume, in die die Kinder eintauchen können: visuelle, akustische, physische.

Dass Angerer, die vor ihrem Regiestudium auch noch Germanistik und Theologie auf Lehramt studiert und eine klassische Tanzausbildung absolviert hat, dabei auf existierendes choreographisches Material zurückgreifen konnte, empfindet sie als Glücksfall. Denn die Choreographie stammt ursprünglich aus Charlotte Edmonds Stück Generation Goldfish. Das Gruppenstück wurde 2021 im Prinzregententheater uraufgeführt, im Rahmen des Abends Heute ist Morgen, bei dem (junge) Nachwuchs-Choreograph:innen Werke mit dem Bayerischen Staatsballett kreierten. „Es ist schön, dass auf diese Weise auch bestehendes choreografisches Material miteinfließt, in einen anderen Kontext tritt und auf andere Stoffe trifft“ so die tanzaffine Regisseurin.

„Das könnte auch ein Modell für die Zukunft sein, als eine neue Form von Nachhaltigkeit im Theater.“

 

Den vier- bis siebenjährigen Mädchen und Jungen, die es sich auf den Matratzen in der Parkettgarderobe gemütlich gemacht haben, dürfte die Herkunft der Bewegungen egal sein. Sie freuen sich über die physisch-emotionale Erfahrung des Sich-Gemeinsam-Bewegens, über die visuellen Eindrücke der Unterwasserwelt-Projektionen und die phasenweise fast kontemplativ plätschernden Klangräume. Und so schwimmen sie nach 40 Minuten mit Gummistiefeln an den Füssen und vielen Eindrucken im Kita-Rucksack wieder über den regennassen Max-Joseph-Platz nach Hause.

 

Autorin: Annette Baumann

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