Von puristischer Schönheit und 11 Prozent Steigung: Über den vielleicht härtesten weißen Akt der Ballettgeschichte
24 in weiße Tütüs gekleidete elfengleiche Wesen schreiten mit einer sich fast tranceartig wiederholenden Schrittkombination eine Bühnenrampe hinab. Perfekt hintereinander aufgereiht absolvieren die Tänzerinnen im Probensaal bis zu 38 Arabesque penchés (*Bewegung, bei der das Spielbein gerade nach hinten oben ausgestreckt und der Oberkörper etwas nach vorne gebeugt wird) - musikalisch eingehüllt vom warmen Klang der Partitur Ludwig Minkus‘.
Es ist der Beginn des Schattenaktes aus La Bayadère. Das vielleicht bekannteste Beispiel für ein ballet blanc. Und in der Geschichte des Balletts ein fast schon ikonisches Bild, das die puristische Schönheit klassischen Tanzes zeigt. Diese im 19. Jahrhundert beliebten Gruppenchoreographien, derer sich auch Choreograph Marius Petipa oft bediente, verfolgten mit ihrem atmosphärischen Charakter in erster Linie das Ziel, den Zuschauenden die Anmut und Eleganz klassischen Tanzes zu vermitteln. Bis heute mit Erfolg.
Die Schönheit einer solchen Szene lässt nur noch erahnen, wieviel Arbeit dahinter steckt:
„Der Schattenakt aus La Bayadère ist wahrscheinlich der härteste weiße Akt der Ballettgeschichte
und technisch unglaublich anspruchsvoll für die Tänzerinnen“, stellt Margaret Whyte fest. Das Ensemblemitglied tanzt erstmals La Bayadère mit dem Bayerischen Staatsballett. Sie tritt als erste der 24 Schatten auf die Rampe und darf somit mit insgesamt 38 die meisten Arabesquen aller Tänzerinnen hintereinander absolvieren.
Eine besondere Herausforderung in dieser Szene ist das Tanzen auf der Rampe. Im Vorfeld jeder Wiederaufnahme von La Bayadère gibt es daher für die Tänzerinnen extra „Rampenproben“ – aus Platzgründen im Wernicke-Saal im Probengebäude der Bayerischen Staatsoper. Die Corps-de-ballet-Mitglieder lernen hier, wie sie mit dem engen Raum und der Schräge des Bodens zurechtkommen.
„Die Rampe hat eine Steigung von ca. 6,5 Grad also 11,4 Prozent.
Im Original ist sie 1,8m hoch, die Gesamtbreite inklusive Podesten beträgt 14 Meter“, erklärt Tim Jablonski, der technische Direktor des Balletts. Die Breite des Korridors, auf dem die Tänzerinnen bergab schreiten, beträgt gerade einmal einen Meter, der Abstand zwischen den einzelnen Tänzerinnen jeweils 1,6 Meter. „Wir müssen sehr aufeinander achten und immer aufpassen, dass wir uns nicht gegenseitig die Füße ins Gesicht schlagen“, berichtet Maggie Whyte lachend. Viel Platz ist da oben also nicht. Und bei einer anfänglichen Höhe von fast 2 Metern sollte man auch keine Höhenangst haben.
Grund genug also, die Szene nicht nur im ebenerdigen Ballettsaal, sondern tatsächlich auf einer Rampe zu proben. Zumal sich durch die Neigung des Bodens auch die Achse und die Gewichtsverteilung der Tänzerinnen ändert: Bei einer Arabesque ist der Oberkörper per se leicht nach vorne geneigt. Wenn der Boden aber eine Neigung hat, dann würde die Tänzerin bei einer normalen Arabesque mit nach vorne geneigtem Oberkörper zu weit nach vorne kippen und umfallen. „Man muss die Achse ein bisschen verschieben. Aber nicht dauernd, denn dort, wo es auf der Rampe um die Ecke geht, ist der Boden wieder ebenerdig. Das erfordert sehr viel Konzentration und Kraft“, resümiert Margaret Whyte ihre bisherigen Probenerfahrungen.
Hat man den Weg über die Rampe nach unten geschafft, geht es für die Tänzerinnen eigentlich erst richtig los. Denn nun schließt sich der Adagio-Teil an. Die Tänzerinnen, bereits sehr gefordert von den Serpentinen-Arabesquen, müssen in einer exakten geometrischen Bühnenformation nochmal alles geben:
„Das ist der absolut härteste Moment, wenn du nach den 38 Penchées ins Adagio übergehst. Der Rücken ist da schon sehr beansprucht, die Füße krampfen und dann muss du runterkommen und in aller Ruhe im Lichtkegel diese Developpés machen, also das Spielbein langsam nach oben führen. Natürlich ohne zu wackeln,“ so Whyte.
70 Takte ist dieser erste, vom Corps de ballet getanzte Teil des Schattenaktes lang. 70 Takte weißer Zauber und anmutige Schönheit von 24 Ballerinen auf ca. 600 Quadratmetern Bühne. Es ist die Stelle im Stück, an der sich Solor, opiumbenebelt, seiner kürzlich ermordeten Nikija erinnert und zu ihr zurücksehnt. Eine geträumte Vision in weiß. Nicht ohne Grund hat dieses ballet blanc von Marius Petipa, das der Choreograph der Münchner Fassung, Patrice Bart, im tradierten Original übernommen hat, die Jahrhunderte überdauert. Ein Akt, unendlich schön; und unfassbar schwer.
Aber: „Es ist so befriedigend, wenn du es geschafft hast. Jedes Mal denke ich, oh Gott, ich bin tot. Aber es fühlt sich einfach wahnsinnig gut an“. Und damit verschwindet der erste der Schatten, Margaret Whyte, in der Kulisse.
Autorin: Annette Baumann