Kreisende Archetypen, magische Konstellationen
Zu Toshio Hosokawas Musiktheater Matsukaze (2011)
Walter-Wolfgang Sparrer
Foto: Larm Rmah
Zu Toshio Hosokawas Musiktheater Matsukaze (2011)
Walter-Wolfgang Sparrer
Foto: Larm Rmah
„In Toshio Hosokawa erkenne ich einen Meister, in dessen Musik das westlich geprägte, vom innovativ zersetzenden Logos getriebene Hören, seine Grenzen erkennend, sich mit dem gleichen sprachlos unsere geistigen Energien mobilisierenden Zen-Wissen verbindet und klingende Situationen von einer quasi a-strukturalistischen Leichtigkeit und zugleich einer expressiven Intensität schafft, die mich noch nie gleichgültig gelassen hat.“ (Helmut Lachenmann, in: Stille und Klang, 2012)
Matsukaze, im Brüsseler Théâtre de la Monnaie 2011 uraufgeführt, ist Hosokawas drittes Werk für das Musiktheater. Vorausgegangen waren die für die Münchener Biennale komponierte Oper Vision of Lear (nach William Shakespeare, 1997/1998) sowie Hanjo (nach dem „modernen Noh-Spiel“ von Mishima Yukio, 2003/2004), zuerst in Aix-en-Provence aufgeführt. Schon Vision of Lear zeigt im – absichtsvoll „japanischen“ – Zugriff auf Shakespeare eine Annäherung an die Tradition des Noh-Theaters. Diese war vermittelt durch den Regisseur Tadashi Suzuki und die von ihm entwickelte Theaterform, in der es um eine zeitgemäße Erneuerung der Noh-Tradition geht. Dazu zählt zum Beispiel die langsame Gangart der Musik, aus Sicht des Regisseurs Suzuki aber vor allem die Ritualisierung der Bewegung in diszipliniert ausbalancierter Körperbeherrschung: Die Gestik der Sänger wird mit den Bewegungen der Beine und Füße, nach der für das Noh-Spiel charakteristischen Technik der kleinen Schritte in Beziehung gesetzt und dadurch „geerdet“.
Auf Vision of Lear – halluzinierende Rückblicke des alten Königs Lear – folgte, ebenfalls in englischer Sprache, Hosokawas zweite Oper Hanjo. Diese basiert auf einem Noh-Theaterstück Zeamis, das von Mishima Yukio hinsichtlich der Anzahl der Mitwirkenden reduziert und inhaltlich aktualisiert wurde. Hanako geht jeden Tag zum Bahnhof und wartet auf ihren Geliebten, der nicht kommt. Sie wohnt bei einer Malerin, von der sie umsorgt und begehrt wird. Während Hanako die Liebe der Malerin ignoriert, steigert sich ihre Sehnsucht nach dem abwesenden Yoshio bis hin zu wahnsinniger Entrückung. Als ihr Geliebter schließlich real vor ihr steht, erkennt sie ihn nicht: Der Mann, den sie vor sich sieht, ist nicht der, auf den sie wartet.
Das Noh-Theater, dessen Form im 15. Jahrhundert durch Zeami Motokiyo (1363–1443) kodifiziert wurde, ist ein Traumspiel, geprägt und profiliert nicht nur durch buddhistische, sondern noch weitere, möglicherweise ältere Traditionen. Trotz der Vielfalt der Handlungen und beteiligten Figuren liegt dem Noh-Theater, das wir heute wahrnehmen, ein charakteristisches formales Gerüst mit relativ bestimmten Merkmalen zugrunde. Dazu gehört das Ineinanderwirken von Text, Szene, Musik (insbesondere die perkussiv begleitete Noh-Flöte), kommentierendem Chor sowie Kostüm und Noh-Bühne, bei der die immergrüne Kiefer als Symbol der Langlebigkeit stets präsent ist.
MATSUKAZE – NOH-SPIEL UND MUSIKTHEATER
Das Noh-Spiel Matsukaze gehört zur Gruppe der Drittspiele, dem katsura mono, bei dem eine Frau die Hauptrolle spielt. Das Personal des Noh ist definiert: Zuerst tritt der waki auf, der Nebendarsteller – eine „normale“, natürliche Person ohne Maske, ein Reisender, ein Mönch, der ostasiatischer Tradition gemäß zunächst sich selber vorstellt und im weiteren Verlauf auf den shite trifft. Die erste Szene von Matzukaze spielt an der Küste von Suma: Der Mönch (Bass) begegnet dem ai, einem weiteren, dem waki zugeordneten Nebendarsteller, hier: einem Fischer (Bariton), der Erklärungen zur Geschichte des Ortes und zu den damit verknüpften Legenden gibt. Am Strand steht eine einsame Kiefer mit einer Gedenktafel für Matsukaze und ihre Schwester Murasame mit einem eingeritzten Gedicht, das an die Jahrhunderte zurückliegende unglückliche Liebe beider Frauen zu dem Edelmann Yukihira erinnert. Der Fischer bittet den Mönch um ein Gebet für die unerlösten Seelen; sie beten zu Amida (Sanskrit: Amitābha), dem Buddha der umfassenden Liebe, des grenzenlosen Lichts, letztlich der glückseligen Erleuchtung.
Typisch für das Noh-Theater ist die Konfrontation von Traum oder Albtraum mit Realität, von Lebenden mit Toten (oder ihren Geistern), von Diesseits mit Jenseits. Es geht um unerfüllte Liebe, um die Missachtung von Gefühlen, Unrecht und Verletzungen der Seele, die möglicherweise mehrere Leben zurückliegen. Im Noh-Spiel können die unversöhnten Geister nur bei Vollmond auf die Erde zurückkehren. Der Konflikt wird thematisiert und tendenziell auch gelöst, indem – nach langem Warten – die durch Verletzungen oder Missverständnisse getrennten Personen miteinander kommunizieren. Auf dem Höhepunkt des Spiels findet der Noh-Tanz statt, der – vergleichbar vielleicht dem Ziel eines schamanistischen Rituals oder auch einer Trauma-Therapie – Ausgleich und Versöhnung bewirken soll. Die Darstellung im Noh-Theater ist abstrakt, anti-naturalistisch, verzichtet auf psychologisierende Elemente und Bühnenillusion. Gerade deshalb wird ihre formale Strenge bewundert und die daraus resultierende ästhetische Vollkommenheit, die Zeami Motokiyo, der als Begründer des klassischen Noh-Theaters gilt, in seinen Schriften dargelegt und für die zukünftige Rezeption fixiert hat.
Die Rolle der Matsukaze („Wind in den Kiefern“) spielt der shite, das ist der Hauptdarsteller, im traditionellen Noh mit einem Mann besetzt. Ihre Schwester Murasame („Herbstregen“) ist der tsure, das ist der dem shite zugeordnete Nebendarsteller. Beide sind in der zweiten Szene, Salz, mit der Salzgewinnung beschäftigt; nur andeutungsweise ist von ihrem Leid die Rede – die Sonne sinkt und die Nadeln der Kiefer wie auch das Wasser in ihren Eimern reflektieren das Mondlicht.
In der dritten Szene nähert sich der Mönch dem Salzhaus und bittet die Frauen um eine Unterkunft für die Nacht. Eine Windböe ruft die Erinnerung an ein Gedicht oder Lied hervor, das Yukihira gesungen hat. Der Mönch erkennt in den Frauen die Geister der längst verstorbenen Schwestern, die nur in einer Vollmondnacht ins Diesseits zurückkehren können. Unter Tränen und in wachsender Erregung bekennen sie ihre Sehnsucht nach dem Geliebten, der drei Jahre mit ihnen gelebt hat, bevor er in die Hauptstadt zurückgerufen wurde. Auch das Gedicht, das Yukihira zum Abschied für die Schwestern zurückließ, wird erneut zitiert. Murasame bittet den Mönch, für sie um Erlösung und Frieden zu beten.
Die vierte Szene, Tanz, bringt den Noh-Tanz nicht sofort, sondern steigert und verdichtet die Handlung über mehrere Stufen. Hier wird vom Abschied Yukihiras erzählt, der Hut und Mantel als Pfand seiner Wiederkehr zurückgelassen hat. Matsukaze bringt beides herein und zieht – gegen den Widerstand ihrer Schwester – den Mantel an und setzt sich den Hut auf. Sie erinnert sich, wie Yukihara so bekleidet die Treppen des Palastes herunterkam, durch Kirschblüten über die Hügel am Tempel vorbei. Zunehmend gerät Matsukaze in Ekstase, bis ihr Wahnsinn offenkundig ist: Sie glaubt zu sehen, wie Yukihira ihr aus dem Schatten der Kiefer heraus zuwinkt. Kontrastierender Umschlag in die Stille: Der Tanz am Ende der Szene ist ein ruhiges, von Soloflöte und Violoncello eingeleitetes Instrumentalstück. Die beiden Schwestern schreiten auf die immergrüne Kiefer zu und werden im Schatten des Baums mit dem Geliebten eins. Ihre Seelen finden Ruhe. Die orchestrale Imitation von Mundorgelklängen, eine Andeutung kreisenden Lichts, beendet diesen Noh-Tanz.
MUSIKDRAMA
Das traditionelle Noh-Spiel ist im Vergleich mit Hosokawas Oper ein Ritual archaischer Strenge, ja Askese gegenüber einem luxuriösen, lockend opulenten, doch stets melancholisch empfindsamen Musikdrama, das wortgezeugt scheint und im großen Atem einen übergreifenden Sog entfaltet, dem das Publikum sich kaum entziehen kann. Hosokawa erzeugt Stimmungen und Atmosphäre und findet musikalische Entsprechungen zur Handlung, zu einzelnen Leitworten, Personen, Situationen. Zudem disponiert er souverän, kombiniert die einzelnen musiksprachlichen Elemente und schichtet sie in fortschreitender Dramatisierung neben- oder auch übereinander.
Das Vorspiel beginnt aus dem Nichts, und auch das Nachspiel – die fünfte Szene, Morgenrot, – geht in die Stille zurück. Der Zusammenhang mit der Natur wird durch die realistisch-konkreten Zuspielungen besonders deutlich: Meeresrauschen und Wellenschlag machen Werden und Vergehen sinnlich erfahrbar. Dabei ist auch das Vorspiel nach quasi seriellen Prinzipien genauestens strukturiert: sechs Abschnitte mit 10 + 6 + 6 + 9 + 7 metrischen Einheiten (Takten) mit jeweils vier Vierteln bzw. acht Achteln. Die Metronomangaben beziehen sich auf die Achtel (wobei ein Achtel zum Beispiel drei 64tel- Triolen aufnehmen muss) und reichen von 44 bis zu 56 Schlägen pro Minute am Höhepunkt, dem fünften Abschnitt. Hier wird die Musik schärfer konturiert durch die Piccoloflöte, die solistisch hervortritt – ein Effekt, der im Noh-Theater mit der hohen nōkan, einer Bambusquerflöte, als zentralem Instrument den Auftritt eines Menschen aus dem Jenseits heraus, also eines Geistes (oder Dämons), markiert.
Der wellenartige Verlauf der Musik der Oper Matsukaze entspricht dem Text, in dem bestimmte Substantive als metaphorische Leitworte oder symbolhafte Objekte wiederkehren, die jeweils zahlreiche Deutungen und Assoziationen zulassen. Diese Objekte kommen Hosokawas Musiksprache entgegen; er weitet sie aus zu kleinen Höhe- oder Schwerpunkten. Dem Meer im Vorspiel und in der ersten Szene folgen: die Küste – die Sonne – der Mond – die Nacht – der Schatten, dann die Kiefer mit einer Tafel, auf der die Namen der Protagonistinnen und ein Gedicht stehen. Auf und um diese Substantive setzt Hosokawa Pointen, schafft Spannungen, Verdichtungen, kleine Akkumulationen.
ZEITORGANISATION – INSTRUMENTATION – SPRACHE – MUSIK
Dauert das Vorspiel etwa sechs Minuten plus drei Minuten Zuspielungen von Meeresrauschen und Wellengang, beansprucht die erste Szene zwanzig Minuten. Hier sind Berichte zentral, die Erzählungen des Mönchs und des Fischers – musikalisch ein umfangreiches, von bestimmten Haupttönen aus aufsteigendes Recitando, flankiert durch die Kommentare des Chors.
Hannah Dübgen schuf das deutschsprachige Libretto auf der Grundlage englischer Übertragungen des alten Noh-Spiels und fand zu einer quasi musikalischen Erzähltechnik, die Hosokawa entgegenkommt, weil sie – aufgrund der (variierten) Wiederholung bestimmter sprachlicher Motive und Objekte – der Musik Raum lässt. Dazu zählt beispielsweise Yukihiras Gedicht aus der Sammlung Kokin-wakashū (Nr. 365: „Abschied“, 10. Jahrhundert), das sowohl in der ersten als auch in der dritten Szene vokal vorgetragen wird. Die erste Szene fungiert als eine Art Exposition, die Grundlagen schafft und auf das gesamte Stück vorausweist. Ist das Recitando des Basses in dieser Szene noch gedehnt und gemessen wie im Noh-Theater, wird der weitere Verlauf belebter, flexibler und fluider. Die Steigerungswellen der Musik sind im Verhältnis der Ereignisdichte zu ihrer Dauer genau auskalkuliert. So beginnt die zweite Szene im Tempo Achtel = 40 und erreicht an ihrem Ende 60 Achtelschläge pro Minute, wenn Matsukaze den Mond – im Buddhismus ein Symbol der Reinheit und (im Falle des Vollmonds) der Erleuchtung – „selbst in meinem Eimer“ gespiegelt findet.
Stehen in der zweiten Szene die Schwestern, die im Salzhaus wohnen, im Vordergrund, steigert sich die Spannung in der dritten Szene, Nacht, erneut, wenn der Mönch auf die Schwestern trifft und sie als Geister erkennt (Achtel = 64). Ist der vorherrschende Gesangstyp der ersten Szene das Recitando auf und um einzelne Haupttöne, dominieren in der zweiten Szene Duette der Schwestern in Form archaisch wirkender Quintengesänge, wobei die Quinten keineswegs immer rein sind. Zu grandiosen Steigerungen findet Hosokawa dann vor allem in der vierten Szene, in der sich die Ereignisse auf engem Raum zu überstürzen scheinen.
Eine zauberhafte Melancholie liegt auf fast allen Kompositionen des reifen Hosokawa. Die Konzentration auf die Stille ist wesentlich auch in der Oper Matsukaze. Hosokawa verschärft die dramatische Situation, um in jähem Kontrast in die Stille des Noh-Tanzes einzumünden. Die Eigenschaften seiner Musiksprache reichen über das einzelne Werk und auch über Werkgruppen hinaus. Dazu zählt die geräuschhafte Verfremdung des Einzeltons, die Zentrierung auf bestimmte Intervallkonstellationen (aus einem aus westlicher Sicht „dissonanten“ und einem „konsonanten“ Intervall mit Nebentönen als Varianten), die allmähliche, wellenartige Entwicklung der Musik aus kleinen und kleinsten musikalischen Elementen und Abstufungen, ferner das Ideal einer leisen und langsamen Musik, die zum entschiedenen Fortissimo anschwellen kann, wenn der Ausdruck des Stücks und seiner textlichen, dramaturgischen oder programmatischen Gegebenheiten es erfordert. Die Aussage, dass Hosokawas Musik aus japanischem Geist, aus einer besonderen Haltung gegenüber Werden und Vergehen und in Kenntnis der traditionellen japanischen Musik entstanden sei, würdigt überhaupt nicht die neuen Techniken der Komposition, Invention und Notation eines ganz spezifischen Klangbilds, das die Musik Hosokawas ausmacht.
Spätestens seit seinem Orchesterstück Circulating Ocean (2005) hat Hosokawa ein vegetativ-vegetabiles musikalisches Vokabular entwickelt, das ihm eine spezifische musikalische Rhetorik ermöglicht. Deren Elemente sind manchmal malend-illustrativ, beziehen Naturhaftes wie leise Geräusche, den Wind und auch das Licht als Objekte ein. Dazu zählen ebenso die womöglich glückverheißende Kinderwelt der Glöckchen (fūrin) und die Gegenwart anmahnende buddhistische Welt der kleinen Klangschalen (rin). Signalhaft erscheinen die meist energischen Tonabschlüsse – nach oben ausweichend, verebbend oder auch aktiv die Zeit zerreißend, seltener absteigend-abgründig. In den Vokalstimmen der Solopartien von Matsukaze werden ab der zweiten Szene die zeitliche Dehnung und intervallische Spreizung an den Phrasenenden zur Höhe hin zu einem dominierenden Merkmal – formal einerseits das jeweilige Substantiv pointierend, funktional andererseits als aufloderndes Signal, das kadenzierend gemeint sein kann, aber doch Emotion und Triebleben widerzuspiegeln, Bedrohung oder Unheil zu verheißen scheint. Hosokawa verwendet eine Art Leitinstrumentation. Wie im Noh erklingt an bestimmten, existenziell bedeutsamen Stellen immer nur eine Flöte, wobei Hosokawa in Matsukaze jeweils eine der vier Instrumente der Flötenfamilie charakteristisch (und charakterisierend) einsetzt: Piccolo, Altflöte, große Flöte, Bassflöte. Auch Klarinette und Oboe treten solistisch hervor, verweisen auf etwas oder jemanden. Eine prominente Rolle spielt von Anfang an das Schlagzeug (Klopfgeräusche im Vorspiel, immer wieder für buddhistische Rituale typische Rhythmen).
Einerseits gilt „prima le parole“: Die Sprache steht im Vordergrund der Komposition. Infolge des langsamen Tempos erklingt jede Silbe eindringlich deutlich, betont oder unbetont. Die Verse oder Phrasen des Textes werden – durch Atempausen gegliedert – jeweils für sich vorgetragen, Phrasenenden oder zentrale Substantive pointiert in die Höhe geführt. Andererseits zeigt Hosokawas Umgang mit dem Text im Großen einen strukturierenden Zugriff in der Binnengliederung der Szenen. So finden sich am Beginn der zweiten Szene zunächst fast ausschließlich Kreis-Metaphern (die sich im Kreis drehenden Räder bei der Salzgewinnung, sodann der Vollmond, „unerreichbar, ungerührt“), und auch die Singstimmen beenden ihre Phrasen in kreisenden Figurationen. Zum kontrastierenden Gegensatz wird die unmittelbar anschließende Rezitation eines Textes, den Yukihira vorzutragen pflegte und der sich – noch vor Zeami – sinngemäß bereits im zwölften und dreizehnten Kapitel des Genji monogatari findet: „Stürmisch blasender Herbstwind, der, vom Meer kommend …“ Die Erinnerung an einen Tsunami, der in die Bucht von Suma einbrach, löst die Sorge um mögliche Auswirkungen auf die Hauptstadt aus. In drastischer Steigerung auf engem Raum vermittelt Hosokawa diese Erinnerung an die Flutwelle, wobei Matsukaze das Wort „Hauptstadt“ als traumatisierend empfindet, weil es mit der Trennung vom Geliebten verknüpft ist.
Von der Musik geht ein Sog aus, der das Gesamtwerk, das ohne Pause aufgeführt werden soll (und wird), in einem großen dramatischen Bogen zusammenfasst. „Wir [in Japan] machen, wie du weißt, immer die gleichen Sachen – und dann vertiefen und erweitern wir sie um einzelne Aspekte, um weiter zu kommen …“ (Hosokawa in: Stille und Klang, 2012). Die archetypischen Strukturen, die das Noh- Theater entfaltet, leben in der Oper Matsukaze fort: Das sich behauptende Ich-Bewusstsein und sein Widersacher, der Schatten, werden aufgedeckt: Sie müssen loslassen, was sie ohnehin nicht haben können. „Ich möchte keine Musik schaffen, die die äußere Form der traditionellen japanischen Musik kopiert und sie zu einem exotischen Arrangement im modernen Stil macht. Vielmehr möchte ich die Essenz der Noh-Musik in ganz anderer Form wieder lebendig werden lassen. Es ist eine Musik, die Stille erzeugt (was im Japanischen auch ma („Zwischenraum“) oder „Pause“ genannt werden kann), woraufhin der Klang, während er langsam die Grenze der Stille umkreist, in das Reich der Träume reist“, kommentierte Hosokawa bereits sein Musiktheater Hanjo. „Meine Oper Matsukaze soll ein Werk sein, das die Tiefe der im Innersten des Herzens eines Menschen verborgenen Empfindungen zeigt, und es soll eine Oper der Reinigung der Seele dieses Menschen sein.“
Walter-Wolfgang Sparrer studierte in Berlin Schulmusik und Musikwissenschaft (bei Carl Dahlhaus), Germanistik, Geschichte und Philosophie und ist seither freiberuflich tätig. Er verfasste zahlreiche Rundfunksendungen, Vorträge und Aufsätze zur Neuen Musik. Mit Hanns-Werner Heister ist er Herausgeber des Lexikons in Loseblattform Komponisten der Gegenwart, das sich rasch als Standardwerk zur zeitgenössischen Musik etablieren konnte. 1996 gründete er die Internationale Isang Yun Gesellschaft e. V. Er veröffentlichte verschiedene Gesprächsbiografien, darunter über Toshio Hosokawa Stille und Klang, Schatten und Licht (2012), sowie die Bildmonografie Isang Yun. Leben und Werk im Bild (2020).