EIN BRUNNEN, DER IN DEN HIMMEL SCHAUT
DIE SPIELZEIT 2023–24
Auszug aus dem Spielzeitessay von Serge Dorny aus der Jahresvorschau:
Die heutige Welt sieht sich mit massiven geopolitischen Herausforderungen und Krisen konfrontiert. Immer wieder wandelt unsere Zivilisation am Rande eines Abgrunds, am Rande eines Vulkans. Ein Zustand, der uns bewusst werden lässt, wie zerbrechlich unsere Menschheit und unsere Umwelt sind. Vielleicht wird unser Planet gerettet werden: Er existiert seit fünf Milliarden Jahren und hat möglicherweise noch genauso viele Jahre vor sich, bevor die Sonne erlöschen wird. Aber wir, die Menschen, unsere Zivilisationen, unsere Kulturen – was passiert mit uns?
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ (Friedrich Hölderlin). Angeleitet von diesen Gedanken, Sorgen, vielleicht sogar Ängsten, aber auch Hoffnungen, haben wir die Spielzeit 2023–24 erarbeitet, der sich ein Satz aus Fernando Pessoas Buch der Unruhe voranstellen lässt:
„Wir sind zwei Abgründe – ein Brunnen, der in den Himmel schaut.“
Die Spielzeit wendet sich diesen zwei Polen zu, zwischen denen das Leben oszilliert, dem Himmel und der Hölle. Auch die Oper – und das ist ihre inspirierende und zugleich tröstende Kraft – schwankt ständig zwischen ihnen.
Die erste Premiere der Spielzeit 2023–24 ist Le nozze di Figaro: ein Krieg der Geschlechter, der letztlich zum Frieden wird – begleitet durch die erhabenste und beruhigendste aller Musiken überhaupt.
In Die Fledermaus, der zweiten Premiere der Spielzeit, sind wir nicht weit von einer fröhlichen Apokalypse entfernt: Wien singt und tanzt, Wien berauscht sich an Preußen – das ist die große Geschichte. Und wer weiß, ob nicht auch das Ehepaar Eisenstein nach der Party explodieren wird – das ist die kleine Geschichte, die nachhallt.
Pique Dame eröffnet verschiedene Ebenen von Zerbrechlichkeit, die sich zu einem tragischen Netz verflechten. Lisa ist, ähnlich wie Tschaikowski damals vielleicht selbst, zerrissen zwischen der Liebe, die ihr Verlobter Fürst Jeletzki für sie empfindet, und der Faszination, die sie für Hermann, einer für sie verbotenen Liebe, hegt. In seiner von Puschkins Novelle inspirierten Oper lässt Tschaikowski sowohl Mozarts Anmut als auch eine Sehnsucht nach dem Ancien Régime und die dunklen Schatten der Romantik anklingen.
Ein weiterer dunkler Schatten liegt auf Mieczysław Weinbergs Oper, die erstmals in München gezeigt wird: Die Passagierin. Inspiriert von Zofia Posmysz’ autobiographischem Roman erzählt diese Oper von der Begegnung Marthas, einer Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz, mit der KZ-Aufseherin Lisa, die sie für tot gehalten hat, auf einem Passagierschiff: eine gespenstische Begegnung – bei Nacht und Nebel. Eine erschütternde Geschichte zwischen dem Albtraum der Erinnerung und der Realität.
Am Rande des Abgrunds steht Tosca. Von Scarpia in ein gefährliches, tragisches und mörderisches Spiel verwickelt, bewegt sie sich auf einem Drahtseil, zwischen Liebe und Eifersucht. In dem Moment, in dem sie glaubt, gewonnen zu haben, verliert sie. Und sie stürzt sich buchstäblich in den Abgrund.
György Ligetis Le Grand Macabre beschwört im Gewand des Absurden, Grotesken und Obszönen die Frage nach dem Tod – dem Tod von Völkern und Zivilisationen. Eine Weltkatastrophe, die viele nicht kommen sehen wollten. Diese Oper basiert auf La Balade du Grand Macabre, welche Michel de Ghelderode 1934 veröffentlichte, ein Jahr nach Adolf Hitlers Machtergreifung, im Jahr, in dem Stalin seine auf Lügen und Terror basierende Macht konsolidierte. Der Grand Macabre von Ligeti ist ein fröhlicher und tragischer Totentanz, ein Tanz auf einem Vulkan.
Pelléas et Mélisande von Claude Debussy und Maurice Maeterlinck beschließt die Spielzeit 2023–24: Ein dunkler Wald, in dem der Abgrund überall, bedrohlich, die Figuren umzingelt. Im Mittelpunkt steht Mélisande, die sich in dieser Welt als Fremde in ihr bewegt. Eine langsame Leidenschaft, die von Station zu Station zum Versinken, aber auch zur ewigen Wiederkehr führt: Mélisande schenkt einem kleinen Mädchen das Leben, bevor sie stirbt.
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