Daniele Rustioni, Musikalischer Leiter der Neuproduktion, über Oper als Herausforderung und den Klang der Stille
Dies ist die gekürzte Fassung. Das ganze Interview können Sie im Programmbuch zu Les Troyens lesen.
In drei Worten: Wie klingt die Musik von Hector Berlioz?
Effektvoll, spektakulär, naturalistisch.
Woran beobachten Sie das?
Natur spielt eine große Rolle in seiner Klangdramaturgie. Sie ist davon beeinflusst, dass Berlioz Gitarrist war. Denn er denkt die Entwicklung der Harmonien von der Gitarre her. Ich kann darin perfekte „Chords“, also Gitarrenakkorde oder Griffe, hören. Berlioz entwickelt eine Art Rhythmus der Harmonien. Und natürlich war er ein Meister der Orchestrierung. Die Art, wie bei ihm das Orchester klingt, ist unverkennbar!
Wie klingt es?
Sehr „schwarz-weiß“, so kontrastreich, wie es auch Les Troyens sind. Ein ständiger Wechsel aus riesigen Szenen mit viel Personal und ganz intimen Szenen mit zwei oder drei Menschen. Das schlägt sich in der Orchestrierung nieder. Auch da ist er extrem. Ein Beispiel: das Septett mit Chor im vierten Akt. Darin geht es um das Meer und die Winde, das Orchester ist voll beschäftigt („vertikal“ voll im Einsatz, wie man sagt, wenn man die Partitur beschreibt, in der alle Instrumente untereinander weg geschrieben stehen). Aber alle spielen pianissimo, denn Berlioz will hier den Klang des Nichts schildern, des Abgrunds bzw. der Schattenwelt, „the sound of silence“.
Das hört sich nach einer Unmöglichkeit an …
Berlioz ist sicherlich der Komponist mit der größten Vision. Auf seinen Partiturseiten breitet er Utopien aus, kühne Entwürfe, und das ist sicherlich die anspruchsvollste Herausforderung für mich als Dirigenten. Und er stellt damit eine Aufgabe für alle Beteiligten: das Publikum davon zu überzeugen, dass hier etwas entsteht, das über das Papier hinausgeht.
Dafür verwendet er einen monumentalen Apparat: Wie umgehen mit diesen schieren Mengen an Beteiligten?
Da sind wir bei meinem ersten Schlagwort: Effektvoll ist die Musik von Berlioz auch wegen der Größe des Orchesters, den vielen Instrumenten für die Bühnenmusik, und es gibt einen Doppelchor, den er mit Stereowirkung einsetzt. Das kommt aus dem antiken Theater, und genau da befinden wir uns auch mit den Troyens: mitten in einer griechischen Tragödie.
… gekreuzt mit dem aufwendigen Maschinentheater des 18. und 19. Jahrhunderts, wenn man an das Bühnenspektakel mit Stürmen, Jagdszenen, Grotten usw. denkt?
Zumindest evoziert Berlioz die Kräfte der Natur auf spektakuläre Weise im Orchester. Bei dem Sturm am Anfang des 4. Akts gibt es zum Beispiel Donnergrollen. Auch die unterschiedlichen Zustände des Meeres hören wir in Les Troyens: in Metren wie 3/4- und 6/8-Takt bildet der Komponist die Wellenbewegung nach. Selbst in Hylas’ wunderbarer Arie zu Beginn vom 5. Akt, die im 2/4-Takt steht, hören wir den Meeresbezug, denn Hylas ist ein junger Seemann und träumt davon, übers Meer heimzukehren.
Neben der Natur lässt Berlioz auch andere Welten in Klängen erscheinen: Es gibt Kriegsgetöse, Kampf und Waffenklirren. Und es gibt singende Geistererscheinungen …
In der Tat, das Übernatürliche und die Visionen Cassandres nehmen eine wichtige Position in Berlioz’ Klangwelt ein. Er weist ihnen bestimmte Instrumente und Spielweisen im Orchester zu: Hörnerklang und lässt die Streicher „ponticello“ spielen, also mit dem Bogen nah am Steg, was die Qualität des Tones ändert, aufhellt, gläsern macht. An manchen Stellen greift er nur die Bässe heraus und lässt sie ein tiefes Dröhnen, fast schon Wummern spielen …
… ein Effekt, der in unserer Zeit im Horrorfilmgenre Berühmtheit erlangte.
Les Troyens umfassen sozusagen „zwei Opern in einer“. Wer sind die zentralen Figuren der beiden Teile?
Cassandre gibt dem ersten Teil, Troja, seine spezifische Farbe. Énée ist das Verbindungsglied zwischen erstem und zweitem Teil. Erst ist er der Held, doch in Karthago wird er auf gewisse Weise zum Feind. Das ist wie in einer guten Serie: In Staffel drei oder vier erkennt man, dass man manche der Charaktere eigentlich nicht leiden kann, da man die volle Dimension ihrer Persönlichkeit erst nach und nach durch ihr Handeln erkennt. Das macht die Dinge gleich noch interessanter.
Wie sieht es bei den Karthagern aus? Wie gestaltet Berlioz den zweiten Teil?
Der zweite Part, der längere, ist näher dran an der traditionellen Grand Opéra. Die Ballette beispielsweise sind ein ganz typischer Bestandteil. Interessanterweise nimmt die Handlung erst hier, im 5. Akt, Fahrt auf in dem Sinne, dass das Bühnengeschehen tatsächlich Vorgänge zeigt. Zuvor bleibt die Zeit ein ums andere Mal musikalisch „stehen“, sowohl in den statischen Chören des 3. Akts wie auch in intimen Szenen wie dem Liebesduett von Didon und Énée im 4. Akt. Auch in Béatrice et Bénédict, einer anderen Oper von Berlioz, gibt es einen solchen zarten, äolischen Moment – dieses Duett zählte Berlioz zu seinen Lieblingsstücken. Das zu wissen, ist für mich ein Schlüssel zum Verständnis dieser Szene, in der die Zeit stehen bleibt. Der 4. und 5. Akt sind für mich das Herz der Oper. Und Berlioz muss es genauso gegangen sein, wenn man in seine Briefe schaut. Zu Lebzeiten hörte er nur den zweiten Teil der Oper in einer Aufführung, vielleicht hatte er deshalb auch eine engere Beziehung zu ihm.
Ahnte Berlioz, dass er eine Oper für die Schublade schreiben würde?
Wenn man die Schwierigkeiten in Betracht zieht, die er hatte, das Werk einem Theater anzutragen, und wenn man bedenkt, dass es einer Lotterie gleichkam, eine Aufführung des eigenen Werkes im Theaterbetrieb zu erwirken: wahrscheinlich, ja. Auch heute ist die Aufführung von Les Troyens den großen Theatern mit entsprechenden Ressourcen vorbehalten. Und es gab im Leben eines Theaters seit der Entstehung des Werks vielleicht zwei, maximal drei Aufführungen. Es ist ein Ereignis! In seinen Ausmaßen ist Les Troyens wie der Mount Everest.