Wenn die Unterdrückten nicht mehr wollen und die Unterdrücker nicht mehr können
Ein Gespräch mit: Christoph Menke und Janine Ortiz
Fotografie: Milena Wojhan
CM Christoph Menke
JO Janine Ortiz
JO Begeben wir uns also in die Zeit vor der Französischen Revolution. Im Jahr 1784, als die Gesellschaftsordnung des Ancien Régime bereits am Wanken war, erlebt Beaumarchais’ Theaterstück La folle journée ou Le mariage de Figaro seine Uraufführung. Ein sozialkritisches Skandalstück, das die gesellschaftlichen Eliten anklagt und das Feuer der kommenden Umwälzungen weiter schürt. In Ihrem neuen Buch Theorie der Befreiung stellen Sie die These auf, dass – bei Lichte besehen – alle Befreiungsversuche früher oder später neue Formen der Herrschaft und damit der Knechtschaft hervorbringen. Zwar folgte auf die Französische Revolution erstmal die Terrorherrschaft der Jacobiner, aber langfristig gesehen hat die Demokratie doch die Lebensbedingungen vieler Menschen verbessert. Wie passt das zusammen?
CM Dass es gesellschaftlichen Fortschritt gegeben hat und hoffentlich immer noch gibt, möchte ich gar nicht in Frage stellen. Auch ich bin froh, nach den Revolutionen des 18. Jahrhunderts zu leben und nicht davor. Aber geben wir uns hier nicht mit einem allzu schwachen Fortschrittsbegriff zufrieden? Solange immer alles etwas besser wird, nehmen wir in Kauf, dass mit jedem Befreiungsversuch auch wieder die Etablierung neuer und anderer Herrschaftsformen verbunden ist. Wir nehmen beispielsweise den Kapitalismus in Kauf, weil er etwas freier, etwas offener, etwas gleicher daherkommt als der Feudalismus. Aber müssen wir uns mit diesem Kompromiss zufriedengeben? Könnten wir uns stattdessen nicht fragen, ob zwischen der Art und Weise, wie die Befreiung jeweils verstanden worden ist, und den Effekten, nämlich der Bildung von neuer Herrschaft, ein Zusammenhang besteht? Können wir den Akt der Befreiung nicht so verstehen, dass er nicht notwendigerweise aus sich selbst heraus neue Formen der Knechtschaft etabliert? Die Philosophin Hannah Arendt hat es – im Rückgriff auf Augustinus – auf den Punkt gebracht, indem sie fragt: „Was ist eigentlich das Neue?“ Mit „neu“ meint sie natürlich nicht „innovativ“, in dem Sinne, dass auf das iPhone 13 das iPhone 14 folgt, sondern das Durchbrechen eines Kreislaufs oder einer Gewohnheit. Die Idee der Befreiung beinhaltet den Anspruch, den Kreislauf der wiederkehrenden Herrschaftsformen zu durchbrechen. „Schluss mit der Herrschaft!“, so lautet meist der erste Impuls eines jeden Befreiungsversuchs. Das ist ein ziemlich weitreichender, wenn nicht sogar absoluter Anspruch, den wir nicht so schnell preisgeben sollten.
JO Mozarts Le nozze di Figaro ist auch ein Stück über „kleine Leute“. Figaro und Susanna sind Dienstleister und damit weisungsgebunden. Wo beginnt für sie die Befreiung?
CM Es gibt einen Essay von Heinrich von Kleist mit dem Titel Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, der den Beginn einer jeden Befreiung treffend beschreibt. Als Beispiel führt Kleist Mirabeau während der Französischen Revolution an. Wir befinden uns kurz vor dem Ballhausschwur. Die Sitzung der Nationalversammlung ist eigentlich schon beendet, als ein Zeremonienmeister die Mitglieder des Dritten Standes im Namen des Königs auffordert, den Saal zu räumen. Mirabeau antwortet zunächst, man habe den Befehl vernommen … und dann: „Die Nation gibt Befehle und empfängt keine. Wir weichen nur der Macht der Bajonette.“ Der Akt des Neinsagens entsteht hier aus dem Moment heraus und noch ist völlig offen, welche politischen Forderungen sich damit verknüpfen werden. Der Geistesblitz Mirabeaus’ lässt Freiheit und Gleichheit ineinander fallen: Die Freiheit besteht darin, eine Gleichheit herzustellen, indem man die Herrschaft rundheraus ablehnt. In dem Moment, da Figaro und Susanna jeweils beschließen, die Befehle des Grafen nicht mehr anzunehmen, beginnt ihr Befreiungsversuch.
JO Könnte die Musik dabei eine Rolle spielen?
CM Nehmen wir einmal an, alle Befreiungsversuche beginnen mit einem Akt des Heraustretens aus der Gewohnheit, aus den Formen der Herrschaft. Dann stellt sich mir sofort die Frage, woher diese unwahrscheinliche Kraft des Menschen zur Freiheit kommt. Wir erlernen im Laufe unseres Lebens die verschiedensten Fähigkeiten, wir lernen zu sprechen, zu denken, zu gehen, wir können einen Computer bedienen und Fahrrad fahren. Alles, was uns als Subjekt ausmacht, haben wir erlernt. Damit sind wir aber auch in Abhängigkeitsverhältnisse eingebunden und sei es bloß die Abhängigkeit von unseren Lehrer:innen. Die Fähigkeit, die wir Freiheit oder die Kraft der Befreiung nennen, haben wir hingegen nicht erlernt, sondern die ist uns zugefallen, die wird uns geschenkt – geschenkt durch Erfahrungen, die ich anspruchsvoll im emphatischen Sinne nennen würde. Durch eine ästhetische Erfahrung, indem wir einer Musik folgen beispielsweise, kann es uns passieren, dass wir aus der Welt, die wir glauben zu kennen, herausgerissen werden.
JO Sind wir der Musik nicht völlig ausgeliefert, äußerlich passiv, innerlich folgsam?
CM Wir sind Knechte der Musik, das stimmt. Aber gerade dieses Knechtsein eines Musikstücks kann auf merkwürdige Weise befreiend wirken, wenn die Musik den Anspruch erfüllt, uns zu überraschen, neu und anders für uns zu sein. Dadurch werden wir selbst zu anderen.