Alberich und der
Unterwasser-Sündenfall

Kerstin Decker über Rheingold als Paradieserzählung

Fotografie von Stormseeker

Zum ersten Mal erfährt die Welt in Gestalt des kranken Dresdner Musikers Theodor Uhlig im Oktober 1851 von den geplanten „drei Dramen mit dreiaktigem Vorspiel“ in mythischen Urtiefen. An eine Aufführung sei natürlich „erst nach der Revolution“ zu denken, so Richard Wagner in einem Brief an Uhlig. Da ist der Komponist schon über zwei Jahre auf der Flucht und weilt gerade im Schweizer Al­bisbrunn: Er macht dort eine Wasserkur. Neun Wochen Nässe, kal­te Bäder und Wasserdiät. Und zwischendurch konzipiert er eine Wasseroper.

Wagner war als Paradiesdenker und Sündenfall-Autor der Bibel durchaus überlegen. Er schuf einen Unterwassergarten Eden und einen ebensolchen Sündenfall. Und dazu eine kleine eigenständige Wasseroper als Auftakt des großen Dramas. Am Anfang war ihm keineswegs klar, dass er all das benötigen würde.

Die Ring-Fabel schrieb der Königlich-Sächsische Kapellmeister im Revolutionsjahr 1848, wenn er nicht gerade die allgemeine Volks­bewaffnung plante und politische Kampfschriften verfasste. Am 4. Oktober war der Ur-Ring fertig. Die Kernaussage: Die Götterwelt wankt ebenso wie die zeitgenössisch-europäische, und das Grund­übel liegt darin, dass „der ideale Hort“ der Nibelungen sich in Eigen­tum, in schnöden Besitz, verwandelt habe. Die Nachricht von einem unermesslichen, leider versunkenen Schatz lief spätestens seit dem 10. Jahrhundert durch Europa.

Aber was ist ein „idealer Hort“? Hier stoßen wir auf Wagners erste ingeniöse Umkehrung: Das Rheingold wird nicht erst von einem habgierigen Zweit- oder Drittbesitzer (Hagen) am Schluss in den Fluss geworfen, um es vor einem möglichen Viertbesitzer zu schüt­zen, sondern es gehört dem Fluss, von Anfang an. Das Gold, so wie es am Grund des Rheins glänzt – allen funkelnd, niemandem ge­hörend –, ist nichts anderes als Wagners neues Paradies. Die Rhein­töchter, die es spielerisch umgleiten, zählen zur Szene. In diesem Unterwassergarten Eden gibt es keine Männer.

Natürlich sind nicht alle Menschen zu allen Zeiten gleichermaßen begabt, das Paradies zu erkennen. Ein Kritiker der Erstaufführung meinte gar, in ein „Hurenaquarium“ geblickt zu haben.

BIBEL VERSUS WAGNER

Schauen wir nun auf das Paradies der Bibel. Das Wort „Paradies“ kommt aus dem Altpersischen und bedeutet „umzäunter Garten“. Schon am allerersten Anfang – oder eher vor allem Anfang – brauch­te es also Zäune, um einen safe space zu schaffen? So gesehen, haben Adam und Eva das einzige Richtige getan: Sie haben diese gated community umgehend verlassen. Und selbst wenn sie keinen Hochsicherheitszaun gehabt hätte: Ein Baum der Erkenntnis gehört nun wirklich nicht in einen Garten Eden, der Baum des Lebens un­bedingt, aber niemals ein Baum mit verbotenen Früchten. Und in der Tat ist dieses Fremdgewächs mit größter Sicherheit eine viel, viel spätere Hinzufügung, wie die Bibel-Philologen gezeigt haben. Es setzt einen ausgebildeten Monotheismus voraus, aber selbst der Gott des Alten Testaments hat nicht als göttlicher Solist angefangen.

Wagners Paradies dagegen hat keine Verbote nötig und keine Zäu­ne. Hier ist alles unbegrenzt frei fließend. Was uns jeden Tag auf nachparadiesische Zustände hinweist, ist in dieser Wasserwelt gänz­lich unbekannt: Subjekt-Objekt-Gegensätze etwa, überhaupt jedes Festkörperdenken. Wie löslich, wie frei schwebend wird dagegen alles unter der Oberfläche des Rheins. Und niemand hat zuvor so Wasser komponiert wie Wagner, was natürlich auch auf Tristan und Isolde zutrifft, die größte Wasseroper überhaupt. Auch muss unter Wasser niemand in einen sauren Apfel beißen, wodurch er auch noch die Erbsünde über die ganze Welt bringt. Zu beachten ist ebenso: Im Paradies sein, heißt unsterblich sein, egal, ob man es wirklich ist. Es ist ein so radikales In-Sein, dass es das Gewahrwerden aller Endlichkeiten ausschließt. Und doch, ein Warnzeichen ist da selbst in der klaren Unterwasserwelt: Die Rheintöchter sollen das Gold bewachen. Das Bewachen aber ist eine ausgesprochen unparadie­sische Tätigkeit. Es deutet auf Argwohn, Misstrauen, lauter Eigen­schaften, die im Garten Eden keiner kennt. Erst Paradiesvertriebene haben ständig etwas zu bewachen. Immerhin ist diese Patrouille völlig unbewaffnet, ja unbekleidet, und sie tanzt statt zu marschieren.

Auch die Vertreibung aus dem Paradies geschieht hier viel überzeu­gender als in der Bibel: Wegen singulärer Naschhaftigkeit soll das gesamte Menschengeschlecht der Erbsünde verfallen? Niemand denkt bei einem Biss in den Apfel an eine furchtbare, nie wieder gut­zumachende Übertretung. Diebstahl ist da schon etwas ganz anderes.

Mit der These „Eigentum ist Diebstahl“ des französischen Sozialis­ten und Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon war Wagner früh ver­traut. Er hatte in Paris gerade den Rienzi beendet, konnte die Parti­tur aber nicht gleich abschicken, weil er das Geld fürs Porto nicht besaß. Außerdem musste er nicht nur seinen Käsehändler überreden, ihm seine Schulden zu stunden. Es war wohl die Stunde größter materieller Not des Musikers in Paris, als Proudhons De la propriété erschien, und inzwischen hatte Wagner mit vielen Sozialisten Um­gang gehabt. Und einer davon war sein eigener Musikdirektor August Röckel. Für den ewigen Schuldner Richard Wagner hätte die Be­freiung der Welt von der Herrschaft des Geldes in der Tat Erlösung bedeutet. Und die monetäre Macht über jede Regung des Lebens war ihm nur der letzte Beweis dafür, in einer gefallenen Welt zu leben.

EIN MIT GOLD GEFÜLLTER OTTER

Bleiben zwei Fragen: Wer ist der Ur-Dieb? Und wie den Ur-Diebstahl motivieren?

Wagner ist durch die Überlieferungen der nordischen Sagen ge­wandert, aber nicht als historisch-kritischer Leser, sondern er pflück­te links und rechts, was seinen Zwecken günstig schien, aber am meisten nahm er wohl aus der Volsunga saga, vermutlich auf Island um 1250 entstanden. Hier streifen drei Asen, Götter also, durchs Land – Odin (Wotan), Loki (Loge) und Hönir –, und sie müssen bald Ablösung zahlen für einen Otter, den sie sich zum Abendbrot fingen, der aber in Wahrheit ein Bauernsohn in Ottergestalt war. Und nun fordert der Bauernvater, dass das Otterinnere zur Wiedergutmachung ganz mit Gold gefüllt werde. Die drei Asen sehen das ein und wissen auch, wer die Edelmetall-Sachverständigen sind: von alters her (auch im Bewusstsein des Volkes) die Zwerge.

Hätte Wagner mit einem von Göttern widerrechtlich erschlagenen Otter beginnen sollen, der mit Gold gefüllt werden muss? Die Aus­kunft des Nibelungenlieds ist auch nicht viel besser: Hier streiten sich die drei Söhne des Königs Nibelunc um ihr Erbe (den Nibelun­gen-Hort), bestellen Siegfried zum Schlichter, um nach dessen Schiedsspruch noch zorniger als vorher gemeinsam über den Schlich­ter herzufallen … Das ist möglicherweise die Wirkung von Besitz, aber sie erklärt keinesfalls seine Entstehung. Also nicht musikdrama­tauglich, genau wie die erste Variante. Aber von letzterer bleiben immerhin zwei Motive: Wasser und Zwerge.

Dass die Zwerge schon immer näher am Gold wohnten als andere Lebewesen, steht in Heinrich Heines Elementargeistern: „Die Zwer­ge trifft man mitunter noch in den Bergschachten, wo sie, gekleidet wie kleine Bergleute, die kostbaren Metalle und Edelsteine ausgra­ben. Von jeher haben die Zwerge immer vollauf Gold, Silber und Diamanten besessen, denn sie konnten überall unsichtbar herum­kriechen, und kein Loch war ihnen zu klein, um durchzuschlüpfen, führte es nur endlich zu den Stollen des Reichtums. Die Riesen aber blieben immer arm, und wenn man ihnen etwas geborgt hätte, wür­den sie Riesenschulden hinterlassen haben.“ Die großen Schulden­macher im Ring sind allerdings die Götter.

EIN UNIVERSELLER CHARAKTER

Sympathieträger sind die Nibelungen offenbar nicht, genauso wenig wie das Proletariat, die Nibelungen des 19. Jahrhunderts. Diese Parallele stand Wagner klar vor Augen. Auf einer Reise nach London 1877 sah er die englischen Fabriken und erklärte Cosima: „Der Traum Alberichs ist hier erfüllt, Nibelheim, Weltherrschaft, Tätigkeit, Arbeit, überall Druck des Dampfes und Nebel.“ Das Wunderbare am Ring ist: Es gibt diese Korrespondenzen, doch man darf sie nie gewaltsam festhalten wollen, nur dann beginnen sie beredt zu werden.

Halten wir uns also vorerst an den Namen: „Alb“, „Elf“ bedeutet Naturgeist, Elfe also. Bloß stellt man sich seit Shakespeare unter Elfen meist gutmütige, geflügelte Blumenbewohner vor, und das führt sehr in die Irre. Naturgeister sind nie harmlos. Die Endung -rich kommt vom germanischen -rik und bedeutet Fürst oder König. Dem­nach ist Alberich der König der erdhaften, nächtlichen Naturgeister. Laut der Snorri-Edda (13. Jahrhundert) wohnen die Lichtalben (Wo­tan und die Seinen) der Sonne recht nahe, die Schwarz-Alben aber schon unter der Erde. Das ist der Hauptunterschied, eine reine Frage der Wohnlage.

Wie auch immer: Wäre mit Alberich nur ein gewöhnlicher Dieb am Rhein­ufer erschienen, der Ring wäre eine mittelmäßige Kriminalgeschichte geworden. Gut und Böse sind Kategorien für Schwachnervige mit erhöhtem Orientierungsbedürfnis, aber niemals solche für ein großes Drama. Was will Alberich von der berückenden Security Guard des Rheingolds? Er will Zuwendung, Erwiderung seines erotischen Verlangens. In Augenblicken solchen Werbens ist der Mensch, ist der Alb besonders ungeschützt, und Zurückweisungen schmerzen. Nun gar Hohn! Den Rheintöchtern, die sich wellengleich bewegen, ist dieser ungelenke Festlandsgeck bloß eine komische Figur. Wer aber hielte es aus, eine komische Figur zu sein, wenn er begehrt? Ohne dass Alberich ein universeller Charakter wäre mit universellen Eigenschaften, käme die ganze Dramatik des Ring nicht in Gang.

Ist die Geschichte menschlicher Feindseligkeiten gar die Geschich­te unserer Kränkbarkeit? Mitunter nehmen Menschen in Kauf, ihr Leben verdorben zu haben – etwa durch einen Mord –, aber sie haben ihre Würde wiederhergestellt, indem sie ihren Peiniger töteten. Und schauen wir auf die Amokläufer der Welt, selbst die Terroristen! Das Motiv lässt sich sehr häufig – abzüglich bloßer Ideologie – so zusam­menfassen: Dieses eine Mal bin ich nicht der Übersehene, der Unter­schätzte. Dieses eine Mal werdet ihr mich alle bemerken! Und fürch­ten. So wie die Rheintöchter Alberich gewiss in dem Moment be­merken, als er ihnen das Gold stiehlt. Jetzt erst nehmen sie ihn ernst.

Auch die Rheintöchter sind Naturgeister. Halten wir uns wiederum an Heine: „Die Nixen tanzen bei Teichen und Flüssen; man sah sie auch wohl auf dem Wasser tanzen, den Vorabend, wenn jemand dort ertrank. Auch kommen sie oft zu den Tanzplätzen der Menschen und tanzen mit ihnen ganz wie unsereins. Die weiblichen Nixen er­kennt man an dem Saum ihrer weißen Kleider, der immer feucht ist.“

Was bewirkt eine Kränkung? Der Einzelne ist – statt sich mit den anderen verbinden zu dürfen – zurückgeworfen auf sich selbst. Er fühlt die Wände seines Ich als Schmerz. Der einzige Ausweg scheint, dieses Los anzunehmen und in Aktion zu übersetzen: Ihr sollt mein Ich noch zu spüren bekommen! Und Alberich verflucht die Liebe. Es gibt noch andere Wege, sich erotische Befriedigung zu verschaffen. Und doch kommt es wohl darauf an, den Fluch auf die Liebe im Ring nicht nur erotisch zu lesen, sondern als Absage an die solidarische Existenzweise der Gesellschaft überhaupt. Das Unterscheiden von Gut und Böse, das Gewinnen eigener Urteilsfähigkeit also, sollte am Ausgang jeder Kindheit stehen – insofern beschreibt der biblische Sündenfall eine bloße Adoleszenzgeschichte, der Wagnersche jedoch das Drama des Menschengeschlechts insgesamt.

REFLEX AUF EINEN FRÜHEREN ZUSTAND DES MENSCHSEINS

Der zurückgewiesene Liebhaber, nunmehr im Rheingoldbesitz, hat nicht vor, das Gold bloß funkeln zu lassen, auch nicht für sich allein. Er weiß etwas Besseres damit anzufangen: Vor allem muss aus dem Gold der Ring geschmiedet werden, denn der verleiht „maßlose Macht“. Also den Status absoluter Unkränkbarkeit. Und zuerst unter­wirft Alberich, der die Wände seines Ich fortan wohl wie einen Pan­zer trägt, das eigene Schwarzalben-Volk. Er schafft die ersten Pro­letarier, während Göttervater Wotan noch das Luftschloss Walhall bauen lässt, mit Regenbogenbrücke, aber natürlich auf Kredit wie fast alle Leute, die eine Immobilie finanzieren müssen. Und Alberich hat bald noch einen letzten weltgeschichtlich großen Auftritt.

Als die evolutionären Anthropologen anfingen, die Bibel zu lesen, haben sie den Baum der Erkenntnis als viel spätere invasive Art mitsamt der Erkenntnis von Gut und Böse bald links liegen gelassen und die Sündenfall-Geschichte neu gedeutet: Auch sie ist in ihren ältesten Schichten der Reflex auf einen früheren Zustand des Menschseins, bevor das Leben schwierig wurde und das Eigentum in die Welt kam. Also ist der ursprüngliche Sündenfall sogar in der Bibel nicht die vermeintliche Abkehr des ersten Menschenpaars von Gott. Wir besitzen noch ein großes Empfangsorgan für solche Bot­schaften, weil die Grundschicht unserer Weltempfindung aus diesem Vorher stammt, schließlich haben wir fast unsere gesamte Gattungs­geschichte vor dem Fluch auf die Liebe zugebracht und die Welt des Rings erst drei Minuten vor zwölf Uhr betreten, gattungsge­schichtlich gesehen. Man darf Richard Wagner also noch vor der ersten Note größte Hellsicht attestieren.

Es hätte nicht viel gefehlt, und die Welt hätte nicht wieder von ihm und seinem großen Projekt gehört. Die Dresdner Revolution vom Mai 1849 scheiterte, Wagners Mitkämpfer wurden zumeist gefan­gengenommen und zum Tode verurteilt. Es war bloßer Zufall, bloßes Glück, dass er entkam. Siegfrieds Tod allein wäre ein bloßes Revo­lutionsstück von Kampf und Verrat geworden. Mit Vorspiel und Wal­küre wird ein Weltschicksals-Drama daraus.

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Kerstin Decker

Kerstin Decker, in Leipzig geboren, machte in Rostock eine Berufsausbil­dung als Verkäuferin mit Abitur und promovierte 1994 in Religionsphilosophie an der Humboldt-Universität Berlin. Seit dieser Zeit hört sie Wagner und war stets eine dankbare Besucherin der verschiedenen Ring-Inszenierungen an den Berliner Opernhäusern, in Bayreuth oder Chemnitz. Sie ist seit vielen Jahren als Publizistin und Buchautorin tätig. Über Richard Wagner veröffentlichte sie Richard Wagner. Mit den Augen seiner Hunde betrachtet (Berlin, 2013) und Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe (Berlin, 2012).

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