OR Wie steht es um die literarische Qualität des Textes, die ja viel belächelt wird?
TK Ich treffe da keine Qualitätsurteile. Es gibt ja auch sehr viele und unterschiedliche Parameter, an denen man die Qualität eines Textes abliest. Natürlich belächelt man gewisse dadaistische Wendungen, die man erst mal wieder neu motivieren muss. Natürlich ist das nicht Wanderers Nachtlied (um ein anderes „Wanderer“-Lied zu zitieren), das ist klar, aber das muss es ja auch nicht sein. Ich finde, eine literarische Qualität eines Librettos ist auch die Ökonomie der Dramaturgie, und die ist nicht immer on point, aber doch irgendwie immer sinnfällig im Ring. Wenn es jetzt Altitalienisch wäre, würde man sich ja auch erst mal mit einer fremden Sprache auseinanderzusetzen. Ich mache das aber bei allen Opern; ich nehme das erst mal als die natürliche Ausdrucksform des Werkes und versuche, es nicht permanent zu kommentieren, wenn da mal eine für unsere Ohren lustige Wendung drin wäre.
OR Gibt es für euch eine Hauptfigur?
TK Das verschiebt sich natürlich innerhalb der Teile des Rings. Hier im Rheingold finde ich, sind es eindeutig Alberich und Wotan, an denen wir erst mal die Grundkonfliktlage des gesamten Stückes öffnen. Along the way gibt es dann andere Hauptfiguren, die quasi aus diesem Kerndilemma heraus erwachsen. Aber der Ausgangspunkt sind zwei eigentlich gleichrangige Tragödien. Bei Alberich ist es die Tragödie der Sterblichkeit, dass er von seiner eigenen Endlichkeit weiß und innerhalb dieser Lebensspanne, die ihm gegeben ist, alles erreichen muss, was er erreichen möchte. Es gibt kein zweites Leben für ihn und kein Nachleben, und in diesem sehr großen Bewusstsein lebt er wie viele Menschen. Alles, was sozusagen an politischem Gehalt, an kapitalismuskritischem Gehalt, an proto-marxistischem Gehalt im Ring vorhanden ist, ist gar nicht alleine der Hauptstrang, sondern eine Ableitung dieses größeren Lebensdilemmas.
Man sieht das an der Lebensgier, die wir in der ersten Szene schon haben, in dem Kontakt mit den Rheintöchtern. Man sieht es in einer gewissen Ubiquität, so wie Karl Lagerfeld sinngemäß einmal gesagt hat, man sei ja nur einmal auf der Erde, wie sollte man da nicht versuchen, ubiquitär zu sein! Man sieht es auch in dieser Faszination für Verwandlungen, in dem Wunsch, ein Tier zu sein, so ein Nietzsche’scher Moment, also lieber das blökende Lamm auf der Weide zu sein, das glücklich vor sich hingrast und nichts von Tod und Endlichkeit weiß.
Bei Wotan ist es genau die umgekehrte Tragödie. Wir wissen alle nicht, ob es einen Gott gibt. Deswegen ist seine Existenz ja zunächst mal eine Arbeitshypothese, könnte man sagen. Ich glaube, Harold Bloom hat mal gesagt, dass der Schöpfergott die größte literarische Erfindung der Menschheit sei, da ist viel dran. Wir wollen also die Grundhypothese durchspielen, dass dieser Gott wirklich existiert und auch unsterblich ist. Im Rheingold bekommt man noch nicht so viel davon mit. Aber in der Walküre bricht es dann massiv aus, in den Reflexionen à la „für das Ende sorgt Alberich“. Man hat dann wirklich das Gefühl, Wotan leidet jetzt auch darunter, dass die Dinge eben nicht enden, sozusagen ein Leiden an der Unendlichkeit. Es gibt diesen großen Ennui, weil man ja weiß, die Welt ist unendlich und alles wird sich wiederholen irgendwann. Oder auch in ewiger Stasis enden. Also eine gewisse fatalistische Sinnlosigkeit, die sich damit einstellt. Und dann natürlich, am wichtigsten, der Gedanke oder das Gefühl der Kosmischen Angst. Also wirklich zu wissen, der Kosmos ist unendlich, und wir werden ewig sein, und sei es als Sternenstaub. Auch das kann ja eine unglaubliche Furcht auslösen, wie man an Wotan sieht. Diese beiden Prinzipien stehen sich gegenüber, und das ist natürlich eine Herausforderung, sowas auf eine Opernbühne zu bringen.
VJ Ich finde die philosophische Frage nach der Unsterblichkeit ungeheuer spannend. Was ist Unsterblichkeit, was macht sie mit den Menschen? Was wäre, und die weitere Fortentwicklung der Medizin rückt dies ja irgendwie in den Bereich des Möglichen, wenn tatsächlich jemand unsterblich würde? Das wäre ein ganz anderes Leben – und nicht unbedingt ein fröhlicheres. Auch habe ich den Eindruck, dass Wotan im Rheingold, und das ist jetzt meine persönliche These, weniger menschlich ist als etwa in der Walküre. Man könnte es so sehen, dass er jedes Mal, wenn er ein Kind in die Welt setzt, ein Stück seiner Unsterblichkeit verliert, aber er gewinnt dabei an Menschlichkeit. Alberich ist sterblich, aber mächtig durch seine Abkehr von der Liebe, und die anderen sind Figuren sind eben dieser Macht beraubt, sind aber durchaus imstande zu lieben, sogar Mime. Im Rheingold ist es insbesondere Fasolt, der der Liebe fähig ist, auch wenn er nur eine Nebenfigur ist.
OR Ist der Ring mit seiner über zwanzig Jahre währenden Entstehungsgeschichte ein Werk aus einem Guss?
VJ Musikalisch ist der Ring dank der Leitmotive sehr kohärent. Interessant ist aber, dass Wagner seine Ansichten in puncto Aufführungspraxis durchaus geändert hat. Man sollte seine Aufführungsangaben sehr genau studieren, aber nicht unbedingt für die absolute Wahrheit nehmen. Was er ins Manuskript von 1854 schrieb, ist etwas völlig anderes als er während der Proben für die Ring-Uraufführung 1876 notiert. Hätte er noch länger gelebt, wäre er zwanzig Jahre später vermutlich noch mal auf neue Gedanken gekommen. Ich habe das Gefühl, er hatte noch gar keine Ahnung, wie das Stück enden wird, als er die ersten Szenen des Rheingolds komponierte. Er hatte zwar die Textvorlage, und ihm schwebten sicher schon irgendwelche Leitmotive vor, als er begann. Aber ich werde nie im Leben glauben, dass er den Schluss tatsächlich so hörte, wie er ihn in den 1870er Jahren komponierte.
TK Ich versuche aus dem Ring, auch ein bisschen gegen die Trends der jüngeren Rezeptionsgeschichte, eine große Narration zu machen, zersprenge ihn also nicht in vier Einzelteile. Deswegen ist das Rheingold auch ganz klar erst mal, wie auch der Begriff des Vorabends nahelegt, eine Exposition, die erzähltechnisch einführt in die Herkunft, aber auch in die Funktionsweise des Rings und seiner „Nebenprodukte“. Es gibt da irgendeine Urkraft, die auf verschiedene Weise kanalisiert werden muss. Wenn es dann mal als magische Regel gesetzt ist, hilft es auch im restlichen Ring weiter, das ist dann wirklich wie bei Harry Potter. Die Göttlichkeit der Götter betrachte ich im Rheingold erst mal als eine Möglichkeitsform. Mich interessiert: Wie existieren Götter, wenn sie nicht verehrt werden? Was passiert, wenn ein Gott mit der Welt in Kontakt kommt? Worin liegt auch die Kränkung eines Gottes, der von der Welt missachtet wird? Worin liegt die Anmaßung eines Gottes, der nur dann, wenn er von der Welt verehrt wird, überhaupt self-esteem hat? Auf der anderen Seite dieser Gegenpol Alberich, der eine Art fatalistische Gegenstimme ist. Das muss das Rheingold erst mal etablieren, deswegen haben wir ja 15 Stunden, das muss Gott sei Dank nicht schon in den ersten zweieinhalb Stunden des Ring geschehen!
OR Sind die Götter im Ring eigentlich sehr menschlich? Zumindest werden sie oft so dargestellt.
TK Sie haben Probleme, die wahrscheinlich nur Götter haben. Aber emotional reagieren sie darauf wie Menschen. Das ist natürlich ein bisschen eine zweischneidige Sache, denn natürlich können wir uns die Götter in irgendeiner Form auch nur mit menschlicher Emotionalität vorstellen. Aber ich glaube, es ist ein Unterschied, ob man die Götter in dem Sinne entgöttlicht, dass man sie schon von der Regie her der Unsterblichkeit und ihres Götterstatus beraubt und sie beispielsweise als Konzernlenker darstellt, oder ob man eben erst mal mit der Arbeitshypothese umgeht, dass sie tatsächlich unter für uns sterbliche Menschen nicht so häufigen Problemen leiden, die dann aber wieder als Analogie oder Metaphern für sehr menschliche Dilemmata gelesen werden können. Auch, dass sich die Menschheit manchmal für unsterblich hält, kann ja Quelle großer Kurzsichtigkeit oder Zerstörung sein.
OR Tobias, du hast von den zwei Tragödien gesprochen, die da stattfinden, aber eben von zwei Tragödien. Jetzt wird Rheingold durchaus auch mal als lockere Boulevardkomödie oder quasi als Satyrspiel vor den Tragödien gezeigt. Wie steht ihr zu dem Ansatz?
TK Ich mache da keinerlei Gattungsunterschiede, eine Komödie ist nur lustig, wenn sie jederzeit in die Tragödie kippen könnte, und eine Tragödie finde ich auch nur dann tragisch, wenn sie eigentlich als Komödie begann und man auch mit den Figuren lachen kann.
VJ Es ist eine musikalische Tragikomödie – Lustspiel ist mir zu einengend. Eher ein dramma giocoso, ein heiteres Drama mit Folgen. Es gibt natürlich heitere Elemente, Loge kann etwa seine Verwandtschaft zu den Buffo-Figuren aus den Spielopern Webers oder Mozarts nicht verleugnen.
OR Tobias, beim Konzeptionsgespräch hast du gesagt, diese Unterteilung der Figuren in einzelne Gruppen, diese Aufteilung auf vier Gruppen, also Götter, Riesen, Menschen und Zwerge, gibt es bei dir nicht. Warum?
TK Ich unterscheide zwischen Sterblichen und Unsterblichen. Wir wissen es nicht so ganz genau bei den Rheintöchtern, aber ich glaube nicht, dass die unsterblich sind, ich glaube, die altern auch, die Schwarzalben genauso, und das ist für mich im Sinne dieser fast metaphysischen Aspekte, die ich peu à peu rausstellen möchte, die größere Unterscheidung. Ich übersetze die Abstufung der Sterblichen eher in charakterliche und Milieuunterschiede. Damit betone ich auch die Tatsache, dass ich tatsächlich diesen Gegensatz zwischen den Göttern und den Menschen zentral finde. Es geht mir da nicht um eine Art Tolkien’schen Kosmos, wo man jegliche Sonderkreatur auch noch irgendwie definiert, sondern das ist einfach eine Grundentscheidung, die man, glaube ich, treffen muss, gemäß der Lesart, die man als Ganzes zeigen möchte.
VJ Wagner war ja auch ein Kind seiner Zeit, und die Faszination für die mittelalterlichen Mythen führte dazu, dass er die Gesellschaft in mehrere Schichten unterteilte. Die Gesellschaft war ja auch damals weit mehr als heute von Standesunterschieden gekennzeichnet. Heute unterteilen wir die Welt meist nur noch in Reich und Arm. Damals war auch die Unterschicht noch unterteilt. Es gab einen Riesenunterschied zwischen dem alten Adel und dem neureichen Geld, wodurch zum Beispiel die Nibelungen charakterisiert sind. Wenn man die Geschichte im Lichte der letzten 30, 40 Jahre erzählt, dann sind die Nibelungen natürlich die Neureichen, die im Zuge des Zerfalls des sozialistischen Lagers zu Geld kamen. Aber im aufgeklärten, postindustriellen Westeuropa hat sich diese Narration erschöpft. Die bewusste Abkehr von der postmarxistischen Erzählung ist das Neue an der Lesart von Tobias Kratzer.
OR Ist der Ring für euch auch ein Märchen?
TK Natürlich – ganz Siegfried ist voller Märchenmotive. Auch in Rheingold finden sie sich, aber es ist ein sehr elaboriertes Kunstmärchen. Es ist kein Bürgerliches Trauerspiel. Also schon auch, aber es geht eben auch darüber hinaus. Um es ein bisschen populärer zu beantworten, würde ich sagen, ja, es ist eines, weil es ein Kosmos ist, der auch Fantasy-Elemente und Magie beinhaltet. Da sind Märchenelemente, die mich schon interessieren, weil sie auch in ihrer mehrfachen Ausdeutung und auch in ihrer konkreten Behauptung erst mal eine Über-Realität schaffen, oder eine magische Realität, oder uns zumindest in einer Art Parallelrealität zu unserem Universum versetzen, und das ist mir schon wichtig.
VJ Wagner war ja ein großer Märchenliebhaber und auch -kenner, und ich finde es sehr interessant, dass er sich nicht nur auf etwa Grimm beschränkt, sondern in der Figur des Loge auch Charles Perrault einbezieht: Loge erinnert stark an den Gestiefelten Kater, der den schrecklichen Oger sich erst in einen Löwen, dann in eine Maus verwandeln lässt und übertölpelt.
OR Die Frage nach den Märchen beinhaltet natürlich auch so ein bisschen die Frage nach den special effects. Da ist der Regisseur ja total gefordert.
TK Ja, sicher, aber ich versuche das nicht mit einem durchgehenden System zu beantworten. Da kann sicherlich Magie drin sein, auch da, wo man es nicht erwartet, aber andere magische Momente können auch wieder in guter alter Regietheatermanier ein bisschen konkreter, also realistischer genommen werden. Ich finde, dass die Existenz einer magischen Grundkraft, die das Universum durchzieht und die sich erst mal einer kompletten Indienstnahme und auch kompletten Kontrollierbarkeit entzieht, eine Grundvoraussetzung des Ringes ist, und die will ich auch als solche zeigen.
OR Ist vor dem Rheingold schon irgendetwas passiert? Fangen wir wirklich bei Null an?
TK Natürlich ist da eine ganze Menge passiert, da sind Äonen von Zeitaltern schon passiert. Im Stück wird immer sehr klar, und das ist ja auch ein Gemeinplatz der Ring-Rezeption, dass der eigentliche Stückbeginn nicht im Rheingold, sondern in der Schändung der Weltesche liegt. Das ist aber nichts, was ich überbetone, weil ich es eben versuche, aus seinen eigenen Bedingungen heraus zu entwickeln. Natürlich stößt man dann darauf, dass es Sünden im Vorfeld gab, aber für mich sind das eher so Sünden in einer ewigen Wiederkehr, das ist nicht das zentrale Motiv. Natürlich ist es eine Art gebrochener, kein komplett unschuldiger Zustand. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass die Rheintöchter mit dieser magischen Ur-Kraft erst sehr spielerisch umgehen, sie erst einmal für sich entdecken. Das kann ja auch eine Metapher für ihr Entdecken als Erwachsene oder Frau sein. Aus der Indienstnahme dieser magischen Kraft entfaltet sich dann das Drama. Wotan geht also nicht aus einem Zustand kompletter Unschuld in diesen ganzen Prozess, sondern er hat schon Verträge abgeschlossen, Umweltsünden begangen etc. All das ist also Teil der schmutzigen Vorgeschichte dieses Mannes.
VJ Interessant wäre auch die Geschichte mit der Zähmung Loges. Wieso ist Loge Teil der Götter geworden, die ihm nicht über den Weg trauen? Vorher hat er unter anderem Alberich gedient. Auch musikalisch ist das eine spannende Frage. Das Rheingold kommt den eigenen theaterphilosophischen Ideen Wagners am nächsten, weil es im Umfeld von Oper und Drama komponiert wurde. Aber er hat es mit den Mitteln komponiert, die ihm damals zur Verfügung standen. Während und nach dem Tristan hat er sich so unglaublich weiterentwickelt, aber hier im Rheingold fehlt das natürlich noch. Und wenn das Melodiöse dann doch Eingang findet, wie beispielsweise bei Loges Erzählung, ein bisschen bei Fasolt, definitiv bei Freia, dann klingt vieles nach Mendelssohn und nach italienischer Oper jener Zeit, auch nach Meyerbeer. So richtig nach Wagner, wie wir ihn kennen, klingt es bei Wotans „Abendlich strahlt“. Das ist Wagner par excellence. Auch Alberichs Fluch in der vierten Szene zählt dazu. Je später im Stück, desto mehr nach Wagner klingt es. Andererseits ist da auch schon diese Einfachheit, etwa in der Musik der Rheintöchter, die auf die Meistersinger vorausweist, eine Entwicklungslinie bewusster, kunstvoller Schlichtheit, die dann von Siegfried Wagner, von Humperdinck und in den Lustspielen bei Strauss fortgeführt wird.
OR Vladimir, wie sieht es mit dem Verhältnis Orchester – Gesang im Rheingold aus?
VJ Der Gesang im Rheingold ist noch nicht symphonisch. Ab der Walküre und insbesondere ab dem Siegfried basiert der Gesang auf dem dichten Orchesterfundament. Hier, im Rheingold, gibt es dieses Fundament, diese Orchesterfläche, nur ansatzweise, etwa zu Beginn oder eben bei „Abendlich strahlt“. Dazwischen steht pures Rezitativ mit oft minimalistischem Einsatz des Orchesters, besonders in der zweiten Szene. Wir haben bei den Proben oft gesagt, das ist wie eine Monteverdi-Oper, wo du einen Akkord mit einem Bass hast, und dann kommt eine Gesangslinie, die sich komplett frei verhält. Deswegen finde ich, man sollte Rheingold als Dirigent anders anlegen als die restlichen Opern des Zyklus. Das gilt sowohl für das Sängerteam als auch fürs Orchester. Die späteren Opern sind viel einfacher, weil man sie sinfonisch leiten kann. Man zeichnet den Weg vor, und die Sänger setzen sich wie Surfer auf die Welle und werden von ihr getragen. Es ist wohl die größte Hürde für einen Rheingold-Dirigenten, wenn man vom klassischen Wagnerverständnis kommt. Das funktioniert nur teilweise, in den 136 Takten der Einleitung, in den sinfonischen Zwischenspielen auf der Reise nach Nibelheim und zurück, und ganz am Schluss. Dazwischen ist reines Rezitativ.
Eine Stelle muss ich noch erwähnen, da zeigt sich die Weitsicht Wagners: in der Erda-Szene des Rheingold. Die ist neben Loges Musik auch am interessantesten, weil sie gerade nicht in die Chromatik geht, sondern in die erweiterte Diatonik. Das heißt, es sind die mediantischen Verbindungen, die Terzverwandtschaften, die den späten Wagner bestimmen und die hier schon eingesetzt werden. Das hat wirklich eine komplett transzendentale Wirkung, und man hat tatsächlich das Gefühl, dass die Zeit stillsteht. Wagner schafft das mit ganz einfachen Mitteln, mit diesem 4 / 4-Takt, bei dem der dritte und der vierte Schlag plötzlich gedehnt werden. Aber das steht nicht unbedingt in den Noten. Man muss dazu das ganze Palimpsest lesen, also Notentext plus die Aufführungsanweisungen, die später dazukommen. Da sieht man, okay, er kämpft noch mit sich, wusste noch nicht richtig, wie man so etwas notiert – später hat er es komplett beherrscht. In Götterdämmerung muss man im Prinzip nur das machen, was dasteht, aber beim Rheingold muss man noch sehr vieles dazudenken.