Magie des Anfangs

Vladimir Jurowski und Tobias Kratzer im Gespräch mit Olaf Roth

über Lebensgier und -überdruss im Rheingold, den kompositorischen Weitblick Richard Wagners und spezifische Probleme von Gottheiten

Fotografie: Jordon Conner

TK Tobias Kratzer
VJ Vladimir Jurowski
OR Olaf Roth

OR Respekt vorm Ring: Wie nähert man sich diesem Werk? Seit wann beschäftigt euch Wagners opus summum? 


TK Respekt habe ich eigentlich vor jedem Werk, das ich inszeniere! Ich habe viel Wagner inszeniert, da beschäftigt einen der Ring natürlich auch immer. Ich würde gar nicht sagen, dass es Wagners Opus summum ist, aber es ist einfach sein ausführlichstes Werk. Es gibt bei Wagner verschiedene Themenkreise, die in den Werken unterschiedlich stark ausgeprägt sind, darunter auch einige, die ich höchst problematisch finde – Stichwort Antisemitismus, die Verknüpfung eines utopischen Begriffs mit dem Begriff der deutschen Nationalstaatlichkeit, die Erlösung durch den Tod der Frau. Das sind ja ganz furchtbare Ideen zum Teil. Zugleich aber auch Themenkreise, die ich am stärksten als zeitverhaftet empfinde. Ich habe aber immer versucht, mit diesen Dingen im Hinterkopf, auch diejenigen Aspekte an Wagner zu inszenieren, die ich für anschlussfähig halte. Ich fand es nie interessant, Wagner nur zu inszenieren, um zu zeigen, dass man ihn eigentlich nicht mehr spielen kann. Mich interessieren eher Fragen wie: Wie sieht ein politisch ideales Gemeinwesen aus? Welche Rolle kann die Kunst in einer Gesellschaft spielen? Oder auch die großen Fragen der Menschheit, die großen Menschheitskränkungen: Wie geht man mit seiner eigenen Sterblichkeit um? Wie damit, dass wir sozusagen allein in einem vermutlich unendlichen Kosmos sind?

VJ Schon allein wegen der Länge, der Ausmaße habe ich natürlich Respekt vorm Ring. Ich habe mich Wagner aber sozusagen von der anderen Seite her genähert, also nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern indem ich mit Parsifal angefangen habe. Mein Vorbild ist da eher Pierre Boulez. Ich habe mich dann über Tristan und Meistersinger „vorgearbeitet“ und inzwischen auch den Ring dirigiert. Mit Werken wie Lohengrin oder Tannhäuser hatte ich aber immer Schwierigkeiten. Ich störte mich an diesen endlosen Ketten von verminderten Septakkorden, hatte aber auch inhaltliche Probleme. Ich komme aber auch von der Musik­wissenschaft und hatte insgesamt einen eher intellektuellen Zugriff, war also so eine Art Nerd. Früher hatte ich Vorbehalte gegen die traditionelle Oper, wegen ihres schablonisierten Cha­rakters, wegen ihres tatsächlichen oder vermeintlichen Mangels an Substanz. Ich machte einen Bogen um Bizet und Co., aber Mussorgsky habe ich beispielsweise schon immer geliebt. Mein Weg zu Wagner war also ein langer – früher fand ich Brahms viel spannender. Heute sehe ich das Ganze natürlich viel diffe­renzierter und vertraue nicht mehr nur auf mein Gehirn.
Jetzt noch mal zurückzugehen zum Rheingold, ist für mich sehr spannend: Einerseits spüre ich den Rückverbin-dungen zu Kom­ponisten wie Weber, ja sogar Rossini und Beethoven mit seinem Fidelio nach, andererseits suche ich nach den Vorankündigun­gen des späten Wagner, wo er sich quasi selber vorwegnimmt. Und es gibt tatsächlich Dinge im Rheingold, wo man staunt, wie sehr er mit seiner künstlerischen Intuition seiner Zeit voraus war. Auch wenn, verglichen mit den anderen Opern der Tetra­logie, das Rheingold noch sehr klassisch ist.


OR Wo liegt die besondere Herausforderung des Rings?


TK Wenn man den Ring als ein geschlossenes Werk in vier Teilen ansieht, dann hat das natürlich eine ungeheure Dimension. Soll es einen kohärenten Erzählfaden oder ein kohärentes Zeichen­system geben, muss man natürlich erst mal eine ganz andere Distanz überblicken als nur Einzelteile. Das finde ich aber sogar interessant, weil man sich auch innerhalb eines Werkes oft limi­tiert fühlt und sich manchmal wünschen würde, Carmen hätte noch eine Vorgeschichte oder Musik für das, was zwischen den Akten passiert. Tatsächlich habe ich schon relativ oft in zyklischen Kontexten gedacht. Ich habe früh in meiner Karriere drei Meyer­beer-Stücke an drei verschieden Häusern gemacht, außerdem eine Revolutions-Trilogie, bestehend aus Barbier von Sevilla, Figaro und Fidelio. Oder derzeit an der Deutschen Oper einen Strauss-Zyklus. Dieses Denken in gewissen stückübergreifenden Zusammenhängen, das liegt mir durchaus nahe. Das finde ich auch total interessant, wenn man über mehrere Saisons oder Stücke hinweg etwas aufbaut, und das ist natürlich bei Wagner erst mal so vorgegeben.


OR Der Fall liegt ja insofern ein bisschen anders, als es wirklich eine zusammenhängende Sage ist.


TK Genau. Und natürlich mit allen Schwierigkeiten, dass es da auch durch den langen Entstehungszeitraum immer wieder Brüche gibt, Inkohärenzen, wo man sich dann fragen muss: Stellt man den Bruch aus oder versucht man, das eher narrativ zu füllen? Da fließen ja sehr, sehr viele Erfahrungshorizonte und auch Zeitschichten ein.


OR Gibt es eine bestimmte Herangehensweise, und welche Rolle spielt der Text bei Wagner, wie geht man mit dem Text um?


TK Du meinst jetzt natürlich den Librettotext, denn es gibt ja auch einen musikalischen Text, und beim Ring ist der Text von der Musik nicht zu trennen, weil sozusagen die eine Lage ohne die andere kaum zu verstehen ist, wobei man auch sagen muss, Wagner arbeitet ja sehr oft auch tautologisch. Es ist nicht so, dass man da immer nur eine kommentierende oder weiterent­wickelte Gegenstimme hat. Natürlich kann man sehr, sehr viel Bezugssysteme aus den bekannten Leitmotiven schöpfen. Ich finde auch wiederum interessant, dass es manche Aspekte im Ring gibt, die sich merkwürdigerweise kompositorisch nicht niederschlagen, aber im Text sehr prominent sind. Da ist zum einen die Tatsache, dass Alberich im Verborgenen ein Heer gegen Wotan aufrüstet. Wir sehen das sozusagen in der Gegen­bewegung am Beginn des dritten Aktes Walküre, wo Wotan mit den gefallenen Kriegern ein Heer wiederum gegen Alberichs Aufrüstung aufstellt – wir sehen also nur die Gegenmaßnahme. Wir lernen Alberich aber im Stück immer nur als einen Lonely Rider kennen, obwohl ganz oft erwähnt wird, dass er parallel große Aufrüstungsbestre-bungen macht und sozusagen die Ent­rechteten und Entmachteten um sich schart, um gegen Walhall zu ziehen. Aber im Stück findet das keinen Widerhall, weder szenisch noch musikalisch. Das finde ich ganz merkwürdig, weil man eben das Gefühl hat, Hintergrundstory oder geheimer Endpunkt all dieser Teile ist fast wie in einem Marvel-Film eine gro­ße Endschlacht, die sich aber nie einlöst.
Und dann gibt es Aussparungen zwischen den Teilen, also bei­spielsweise zwischen Rheingold und Walküre. Es hat hier offen­bar im Leben von Wotan einige Jahre gegeben, die mindestens von der Geburt der Zwillinge Siegmund und Sieglinde bis zu deren Kindheit reichen, und in denen er dem ewigen Rad der Zeit entkommen ist und sein Glück quasi als Mensch auf Erden gefunden hatte. Bevor das dann durch ein Niederbrennen seines Zuhauses und den Mord an seiner Menschenfrau, deren Name wir nie erfahren, wieder zerstört wurde.
Also, ich nähere mich durch eine genaue Analyse von Text und Musik. Aber gerade, weil der Ring schon durch so viele Inter­pretationsstufen gegangen ist, beschäftige ich mich auch mit den Dingen, von denen ich das Gefühl habe, die sind so in der Rezeptionsgeschichte vielleicht nicht hinreichend betont worden, weil natürlich keine Inszenierung die Totalität dieses Werkes jemals ausschöpfen könnte. Es gibt also auch die Ebene der Rezeptionsgeschichte, die natürlich den Ring noch um Aspekte angereichert hat. ­


OR Jetzt gehe ich mal von dem Zuschauer, der Zuschauerin aus, die das noch nie gesehen oder gehört hat. Was setzt ihr dem entgegen? Worauf kommt es euch an?


TK Mir ist wichtig, dass sich alleine aus dem Bühnengeschehen plus Übertitel und der Musik eine nachvollziehbare Storyline ergibt. Ganz simpel, erstes narratives Gesetz sozusagen, gera­de beim Ring. Ich finde es oft sehr verwirrend, wenn im Pro­grammheft ausführliche Vorgeschichten geschildert werden. Das muss man doch gar nicht alles vorweg wissen. Die meisten guten Stücke haben ja eine bewusste Strategie der Vermittlung der Vorgeschichte. An welchem Punkt innerhalb des Stücks erfahren wir, dass Wotan die Walküren gezeugt hat? Das ist ja sehr, sehr aussagekräftig. Wenn ich aber schon mit dem Wissen, dass er Walküren gezeugt hat, in den ersten Akt Walküre gehen muss, weil sonst nichts zu verstehen ist, dann ist da irgendwas schiefgegangen. Dann würde ich schon eher versuchen, den Moment, in dem die Information im Stück vermittelt wird, umso stärker zu betonen. Auch wenn Wagner es einem da nicht immer leicht macht, weil er auch nicht so ökonomisch ist und weil manchmal einfach Dinge, die bereits aus dem Handlungsverlauf klar sind, wiederholt werden.

VJ Wenn man den Ring in seiner Gesamtanlage betrachtet, gibt es eine Komponente, die das Ganze zusammenhält: die Verwendung und der konsequente Einsatz der Leitmotive (die erst Wolzogen so genannt hat). Wagner hatte diesen Ehrgeiz, dieses themati­sche Geflecht zu entwickeln, aus dem später alles hervorsprie­ßen würde. Er hat zwar noch ein paar Leitmotive dazukomponiert, aber nur ganz wenige. Die meisten wurden aus dem Material von 1848 bis 1854 entwickelt, und er hat kein einziges verändert. Fast 30 Jahre später hat er das Werk vollendet, aber seinen Leitmotiven ist er treu geblieben. Das ist schon unglaublich. Nach einem derartigen Plan, wenn man es Plan nennen darf, hat keiner vor ihm geschrieben – wohl aber etliche nach ihm.
Wenn man jetzt gar nichts von diesen Motiven weiß, ist es ein bisschen wie mit einer Fernsehserie: Wenn du anfängst zu schau­en, ohne irgendetwas zu wissen, bist du in den ersten zwei, drei Folgen komplett aufgeschmissen. Dann schaust du weiter, in­formierst dich vielleicht auch ein bisschen, und irgendwann schaust du vielleicht noch mal die erste Folge an und sagst dir: Ach so war das gemeint! Es gibt Musik, der kann man völlig unvorbereitet begegnen, da kann man sich auf sein Unterbe­wusstsein verlassen. Bei Wagner geht das nicht. Da ist zu viel Gehirn bei der Grundsteinlegung dabei gewesen. Dabei ist Wag­ner überhaupt nicht wissenschaftlich. Es ist eher wie ein Spiel mit sehr vielen Unbekannten, und je mehr du vorher weißt, des­to besser kannst du ihm folgen. Das Orchester wirft parallel Ideen auf, die man quasi als eine zweite unterbewusste oder unbewusste Schicht der Narration wahrnehmen kann. Das heißt, die Geschichte verläuft an der Oberfläche in einem bestimmten Tempo, und gewissermaßen unter der Oberfläche des Rheins ist der Strom ungefähr doppelt so schnell, und je weiter der Ring voranschreitet, desto komplexer wird es bei Wagner, der sich aber nie verzettelt in dieser Kontrapunktik, wo manchmal bis zu sechs Motive gleichzeitig erklingen. Das kann ein menschliches Gehirn beim besten Willen nicht gleichzeitig entschlüsseln.

OR Wie steht es um die literarische Qualität des Textes, die ja viel belächelt wird?
 

TK Ich treffe da keine Qualitätsurteile. Es gibt ja auch sehr viele und unterschiedliche Parameter, an denen man die Qualität eines Textes abliest. Natürlich belächelt man gewisse dadaistische Wendungen, die man erst mal wieder neu motivieren muss. Natürlich ist das nicht Wanderers Nachtlied (um ein anderes „Wanderer“-Lied zu zitieren), das ist klar, aber das muss es ja auch nicht sein. Ich finde, eine literarische Qualität eines Libret­tos ist auch die Ökonomie der Dramaturgie, und die ist nicht immer on point, aber doch irgendwie immer sinnfällig im Ring. Wenn es jetzt Altitalienisch wäre, würde man sich ja auch erst mal mit einer fremden Sprache auseinanderzusetzen. Ich mache das aber bei allen Opern; ich nehme das erst mal als die natür­liche Ausdrucksform des Werkes und versuche, es nicht per­manent zu kommentieren, wenn da mal eine für unsere Ohren lustige Wendung drin wäre.


OR Gibt es für euch eine Hauptfigur?


TK Das verschiebt sich natürlich innerhalb der Teile des Rings. Hier im Rheingold finde ich, sind es eindeutig Alberich und Wotan, an denen wir erst mal die Grundkonfliktlage des gesamten Stü­ckes öffnen. Along the way gibt es dann andere Hauptfiguren, die quasi aus diesem Kerndilemma heraus erwachsen. Aber der Ausgangspunkt sind zwei eigentlich gleichrangige Tragödien. Bei Alberich ist es die Tragödie der Sterblichkeit, dass er von seiner eigenen Endlichkeit weiß und innerhalb dieser Lebens­spanne, die ihm gegeben ist, alles erreichen muss, was er er­reichen möchte. Es gibt kein zweites Leben für ihn und kein Nachleben, und in diesem sehr großen Bewusstsein lebt er wie viele Menschen. Alles, was sozusagen an politischem Gehalt, an kapitalismuskritischem Gehalt, an proto-marxistischem Ge­halt im Ring vorhanden ist, ist gar nicht alleine der Hauptstrang, sondern eine Ableitung dieses größeren Lebensdilemmas.
Man sieht das an der Lebensgier, die wir in der ersten Szene schon haben, in dem Kontakt mit den Rheintöchtern. Man sieht es in einer gewissen Ubiquität, so wie Karl Lagerfeld sinngemäß einmal gesagt hat, man sei ja nur einmal auf der Erde, wie soll­te man da nicht versuchen, ubiquitär zu sein! Man sieht es auch in dieser Faszination für Verwandlungen, in dem Wunsch, ein Tier zu sein, so ein Nietzsche’scher Moment, also lieber das blökende Lamm auf der Weide zu sein, das glücklich vor sich hingrast und nichts von Tod und Endlichkeit weiß.
Bei Wotan ist es genau die umgekehrte Tragödie. Wir wissen alle nicht, ob es einen Gott gibt. Deswegen ist seine Existenz ja zunächst mal eine Arbeitshypothese, könnte man sagen. Ich glaube, Harold Bloom hat mal gesagt, dass der Schöpfergott die größte literarische Erfindung der Menschheit sei, da ist viel dran. Wir wollen also die Grundhypothese durchspielen, dass dieser Gott wirklich existiert und auch unsterblich ist. Im Rhein­gold bekommt man noch nicht so viel davon mit. Aber in der Walküre bricht es dann massiv aus, in den Reflexionen à la „für das Ende sorgt Alberich“. Man hat dann wirklich das Gefühl, Wotan leidet jetzt auch darunter, dass die Dinge eben nicht enden, sozusagen ein Leiden an der Unendlichkeit. Es gibt die­sen großen Ennui, weil man ja weiß, die Welt ist unendlich und alles wird sich wiederholen irgendwann. Oder auch in ewiger Stasis enden. Also eine gewisse fatalistische Sinnlosigkeit, die sich damit einstellt. Und dann natürlich, am wichtigsten, der Gedanke oder das Gefühl der Kosmischen Angst. Also wirklich zu wissen, der Kosmos ist unendlich, und wir werden ewig sein, und sei es als Sternenstaub. Auch das kann ja eine unglaubliche Furcht auslösen, wie man an Wotan sieht. Diese beiden Prinzi­pien stehen sich gegenüber, und das ist natürlich eine Heraus­forderung, sowas auf eine Opernbühne zu bringen.

VJ Ich finde die philosophische Frage nach der Unsterblichkeit ungeheuer spannend. Was ist Unsterblichkeit, was macht sie mit den Menschen? Was wäre, und die weitere Fortentwicklung der Medizin rückt dies ja irgendwie in den Bereich des Möglichen, wenn tatsächlich jemand unsterblich würde? Das wäre ein ganz anderes Leben – und nicht unbedingt ein fröhlicheres. Auch habe ich den Eindruck, dass Wotan im Rheingold, und das ist jetzt meine persönliche These, weniger menschlich ist als etwa in der Walküre. Man könnte es so sehen, dass er jedes Mal, wenn er ein Kind in die Welt setzt, ein Stück seiner Unsterblichkeit verliert, aber er gewinnt dabei an Menschlichkeit. Alberich ist sterblich, aber mächtig durch seine Abkehr von der Liebe, und die anderen sind Figuren sind eben dieser Macht beraubt, sind aber durchaus imstande zu lieben, sogar Mime. Im Rheingold ist es insbesondere Fasolt, der der Liebe fähig ist, auch wenn er nur eine Nebenfigur ist.


OR Ist der Ring mit seiner über zwanzig Jahre währenden Entste­hungsgeschichte ein Werk aus einem Guss?


VJ Musikalisch ist der Ring dank der Leitmotive sehr kohärent. Interessant ist aber, dass Wagner seine Ansichten in puncto Aufführungspraxis durchaus geändert hat. Man sollte seine Aufführungsangaben sehr genau studieren, aber nicht unbedingt für die absolute Wahrheit nehmen. Was er ins Manuskript von 1854 schrieb, ist etwas völlig anderes als er während der Proben für die Ring-Uraufführung 1876 notiert. Hätte er noch länger gelebt, wäre er zwanzig Jahre später vermutlich noch mal auf neue Gedanken gekommen. Ich habe das Gefühl, er hatte noch gar keine Ahnung, wie das Stück enden wird, als er die ersten Szenen des Rheingolds komponierte. Er hatte zwar die Textvor­lage, und ihm schwebten sicher schon irgendwelche Leitmotive vor, als er begann. Aber ich werde nie im Leben glauben, dass er den Schluss tatsächlich so hörte, wie er ihn in den 1870er Jahren komponierte.

TK Ich versuche aus dem Ring, auch ein bisschen gegen die Trends der jüngeren Rezeptionsgeschichte, eine große Narration zu machen, zersprenge ihn also nicht in vier Einzelteile. Deswegen ist das Rheingold auch ganz klar erst mal, wie auch der Begriff des Vorabends nahelegt, eine Exposition, die erzähltechnisch einführt in die Herkunft, aber auch in die Funktionsweise des Rings und seiner „Nebenprodukte“. Es gibt da irgendeine Urkraft, die auf verschiedene Weise kanalisiert werden muss. Wenn es dann mal als magische Regel gesetzt ist, hilft es auch im rest­lichen Ring weiter, das ist dann wirklich wie bei Harry Potter. Die Göttlichkeit der Götter betrachte ich im Rheingold erst mal als eine Möglichkeitsform. Mich interessiert: Wie existieren Götter, wenn sie nicht verehrt werden? Was passiert, wenn ein Gott mit der Welt in Kontakt kommt? Worin liegt auch die Kränkung eines Gottes, der von der Welt missachtet wird? Worin liegt die An­maßung eines Gottes, der nur dann, wenn er von der Welt verehrt wird, überhaupt self-esteem hat? Auf der anderen Seite dieser Gegenpol Alberich, der eine Art fatalistische Gegenstimme ist. Das muss das Rheingold erst mal etablieren, deswegen haben wir ja 15 Stunden, das muss Gott sei Dank nicht schon in den ersten zweieinhalb Stunden des Ring geschehen!


OR Sind die Götter im Ring eigentlich sehr menschlich? Zumindest werden sie oft so dargestellt.


TK Sie haben Probleme, die wahrscheinlich nur Götter haben. Aber emotional reagieren sie darauf wie Menschen. Das ist natürlich ein bisschen eine zweischneidige Sache, denn natürlich können wir uns die Götter in irgendeiner Form auch nur mit menschlicher Emotionalität vorstellen. Aber ich glaube, es ist ein Unterschied, ob man die Götter in dem Sinne entgöttlicht, dass man sie schon von der Regie her der Unsterblichkeit und ihres Götterstatus be­raubt und sie beispielsweise als Konzernlenker darstellt, oder ob man eben erst mal mit der Arbeitshypothese umgeht, dass sie tatsächlich unter für uns sterbliche Menschen nicht so häufigen Problemen leiden, die dann aber wieder als Analogie oder Meta­phern für sehr menschliche Dilemmata gelesen werden können. Auch, dass sich die Menschheit manchmal für unsterblich hält, kann ja Quelle großer Kurzsichtigkeit oder Zerstörung sein.


OR Tobias, du hast von den zwei Tragödien gesprochen, die da stattfinden, aber eben von zwei Tragödien. Jetzt wird Rheingold durchaus auch mal als lockere Boulevardkomödie oder quasi als Satyrspiel vor den Tragödien gezeigt. Wie steht ihr zu dem Ansatz?


TK Ich mache da keinerlei Gattungsunterschiede, eine Komödie ist nur lustig, wenn sie jederzeit in die Tragödie kippen könnte, und eine Tragödie finde ich auch nur dann tragisch, wenn sie eigentlich als Komödie begann und man auch mit den Figuren lachen kann.

VJ Es ist eine musikalische Tragikomödie – Lustspiel ist mir zu ein­engend. Eher ein dramma giocoso, ein heiteres Drama mit Folgen. Es gibt natürlich heitere Elemente, Loge kann etwa seine Ver­wandtschaft zu den Buffo-Figuren aus den Spielopern Webers oder Mozarts nicht verleugnen.


OR Tobias, beim Konzeptionsgespräch hast du gesagt, diese Unter­teilung der Figuren in einzelne Gruppen, diese Aufteilung auf vier Gruppen, also Götter, Riesen, Menschen und Zwerge, gibt es bei dir nicht. Warum?


TK Ich unterscheide zwischen Sterblichen und Unsterblichen. Wir wissen es nicht so ganz genau bei den Rheintöchtern, aber ich glaube nicht, dass die unsterblich sind, ich glaube, die altern auch, die Schwarzalben genauso, und das ist für mich im Sinne dieser fast metaphysischen Aspekte, die ich peu à peu raus­stellen möchte, die größere Unterscheidung. Ich übersetze die Abstufung der Sterblichen eher in charakterliche und Milieu­unterschiede. Damit betone ich auch die Tatsache, dass ich tatsächlich diesen Gegensatz zwischen den Göttern und den Menschen zentral finde. Es geht mir da nicht um eine Art Tol­kien’schen Kosmos, wo man jegliche Sonderkreatur auch noch irgendwie definiert, sondern das ist einfach eine Grundentschei­dung, die man, glaube ich, treffen muss, gemäß der Lesart, die man als Ganzes zeigen möchte.

VJ Wagner war ja auch ein Kind seiner Zeit, und die Faszination für die mittelalterlichen Mythen führte dazu, dass er die Gesellschaft in mehrere Schichten unterteilte. Die Gesellschaft war ja auch damals weit mehr als heute von Standesunterschieden gekenn­zeichnet. Heute unterteilen wir die Welt meist nur noch in Reich und Arm. Damals war auch die Unterschicht noch unterteilt. Es gab einen Riesenunterschied zwischen dem alten Adel und dem neureichen Geld, wodurch zum Beispiel die Nibelungen charak­terisiert sind. Wenn man die Geschichte im Lichte der letzten 30, 40 Jahre erzählt, dann sind die Nibelungen natürlich die Neureichen, die im Zuge des Zerfalls des sozialistischen Lagers zu Geld kamen. Aber im aufgeklärten, postindustriellen West­europa hat sich diese Narration erschöpft. Die bewusste Abkehr von der postmarxistischen Erzählung ist das Neue an der Les­art von Tobias Kratzer.


OR Ist der Ring für euch auch ein Märchen?


TK Natürlich – ganz Siegfried ist voller Märchenmotive. Auch in Rhein­gold finden sie sich, aber es ist ein sehr elaboriertes Kunstmär­chen. Es ist kein Bürgerliches Trauerspiel. Also schon auch, aber es geht eben auch darüber hinaus. Um es ein bisschen populärer zu beantworten, würde ich sagen, ja, es ist eines, weil es ein Kosmos ist, der auch Fantasy-Elemente und Magie beinhaltet. Da sind Märchenelemente, die mich schon interessieren, weil sie auch in ihrer mehrfachen Ausdeutung und auch in ihrer konkreten Behauptung erst mal eine Über-Realität schaffen, oder eine ma­gische Realität, oder uns zumindest in einer Art Parallelrealität zu unserem Universum versetzen, und das ist mir schon wichtig.

VJ Wagner war ja ein großer Märchenliebhaber und auch -kenner, und ich finde es sehr interessant, dass er sich nicht nur auf etwa Grimm beschränkt, sondern in der Figur des Loge auch Charles Perrault einbezieht: Loge erinnert stark an den Gestie­felten Kater, der den schrecklichen Oger sich erst in einen Löwen, dann in eine Maus verwandeln lässt und übertölpelt.


OR Die Frage nach den Märchen beinhaltet natürlich auch so ein bisschen die Frage nach den special effects. Da ist der Regisseur ja total gefordert.


TK Ja, sicher, aber ich versuche das nicht mit einem durchgehenden System zu beantworten. Da kann sicherlich Magie drin sein, auch da, wo man es nicht erwartet, aber andere magische Mo­mente können auch wieder in guter alter Regietheatermanier ein bisschen konkreter, also realistischer genommen werden. Ich finde, dass die Existenz einer magischen Grundkraft, die das Universum durchzieht und die sich erst mal einer kompletten Indienstnahme und auch kompletten Kontrollierbarkeit entzieht, eine Grundvoraussetzung des Ringes ist, und die will ich auch als solche zeigen.


OR Ist vor dem Rheingold schon irgendetwas passiert? Fangen wir wirklich bei Null an?


TK Natürlich ist da eine ganze Menge passiert, da sind Äonen von Zeitaltern schon passiert. Im Stück wird immer sehr klar, und das ist ja auch ein Gemeinplatz der Ring-Rezeption, dass der eigentliche Stückbeginn nicht im Rheingold, sondern in der Schän­dung der Weltesche liegt. Das ist aber nichts, was ich überbe­tone, weil ich es eben versuche, aus seinen eigenen Bedingungen heraus zu entwickeln. Natürlich stößt man dann darauf, dass es Sünden im Vorfeld gab, aber für mich sind das eher so Sünden in einer ewigen Wiederkehr, das ist nicht das zentrale Motiv. Natürlich ist es eine Art gebrochener, kein komplett unschuldiger Zustand. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass die Rheintöchter mit dieser magischen Ur-Kraft erst sehr spielerisch umgehen, sie erst einmal für sich entdecken. Das kann ja auch eine Meta­pher für ihr Entdecken als Erwachsene oder Frau sein. Aus der Indienstnahme dieser magischen Kraft entfaltet sich dann das Drama. Wotan geht also nicht aus einem Zustand kompletter Unschuld in diesen ganzen Prozess, sondern er hat schon Ver­träge abgeschlossen, Umweltsünden begangen etc. All das ist also Teil der schmutzigen Vorgeschichte dieses Mannes.

VJ Interessant wäre auch die Geschichte mit der Zähmung Loges. Wieso ist Loge Teil der Götter geworden, die ihm nicht über den Weg trauen? Vorher hat er unter anderem Alberich gedient. Auch musikalisch ist das eine spannende Frage. Das Rheingold kommt den eigenen theaterphilosophischen Ideen Wagners am nächsten, weil es im Umfeld von Oper und Drama komponiert wurde. Aber er hat es mit den Mitteln komponiert, die ihm damals zur Verfügung standen. Während und nach dem Tristan hat er sich so unglaublich weiterentwickelt, aber hier im Rheingold fehlt das natürlich noch. Und wenn das Melodiöse dann doch Eingang findet, wie beispielsweise bei Loges Erzählung, ein bisschen bei Fasolt, definitiv bei Freia, dann klingt vieles nach Mendelssohn und nach italienischer Oper jener Zeit, auch nach Meyerbeer. So richtig nach Wagner, wie wir ihn kennen, klingt es bei Wotans „Abendlich strahlt“. Das ist Wagner par excellence. Auch Albe­richs Fluch in der vierten Szene zählt dazu. Je später im Stück, desto mehr nach Wagner klingt es. Andererseits ist da auch schon diese Einfachheit, etwa in der Musik der Rheintöchter, die auf die Meistersinger vorausweist, eine Entwicklungslinie bewusster, kunstvoller Schlichtheit, die dann von Siegfried Wag­ner, von Humperdinck und in den Lustspielen bei Strauss fort­geführt wird.


OR Vladimir, wie sieht es mit dem Verhältnis Orchester – Gesang im Rheingold aus?


VJ Der Gesang im Rheingold ist noch nicht symphonisch. Ab der Walküre und insbesondere ab dem Siegfried basiert der Gesang auf dem dichten Orchesterfundament. Hier, im Rheingold, gibt es dieses Fundament, diese Orchesterfläche, nur ansatzweise, etwa zu Beginn oder eben bei „Abendlich strahlt“. Dazwischen steht pures Rezitativ mit oft minimalistischem Einsatz des Or­chesters, besonders in der zweiten Szene. Wir haben bei den Proben oft gesagt, das ist wie eine Monteverdi-Oper, wo du einen Akkord mit einem Bass hast, und dann kommt eine Ge­sangslinie, die sich komplett frei verhält. Deswegen finde ich, man sollte Rheingold als Dirigent anders anlegen als die rest­lichen Opern des Zyklus. Das gilt sowohl für das Sängerteam als auch fürs Orchester. Die späteren Opern sind viel einfacher, weil man sie sinfonisch leiten kann. Man zeichnet den Weg vor, und die Sänger setzen sich wie Surfer auf die Welle und werden von ihr getragen. Es ist wohl die größte Hürde für einen Rhein­gold-Dirigenten, wenn man vom klassischen Wagnerverständnis kommt. Das funktioniert nur teilweise, in den 136 Takten der Einleitung, in den sinfonischen Zwischenspielen auf der Reise nach Nibelheim und zurück, und ganz am Schluss. Dazwischen ist reines Rezitativ.
Eine Stelle muss ich noch erwähnen, da zeigt sich die Weitsicht Wagners: in der Erda-Szene des Rheingold. Die ist neben Loges Musik auch am interessantesten, weil sie gerade nicht in die Chromatik geht, sondern in die erweiterte Diatonik. Das heißt, es sind die mediantischen Verbindungen, die Terzverwandt­schaften, die den späten Wagner bestimmen und die hier schon eingesetzt werden. Das hat wirklich eine komplett transzenden­tale Wirkung, und man hat tatsächlich das Gefühl, dass die Zeit stillsteht. Wagner schafft das mit ganz einfachen Mitteln, mit diesem 4 / 4-Takt, bei dem der dritte und der vierte Schlag plötz­lich gedehnt werden. Aber das steht nicht unbedingt in den Noten. Man muss dazu das ganze Palimpsest lesen, also Noten­text plus die Aufführungsanweisungen, die später dazukommen. Da sieht man, okay, er kämpft noch mit sich, wusste noch nicht richtig, wie man so etwas notiert – später hat er es komplett beherrscht. In Götterdämmerung muss man im Prinzip nur das machen, was dasteht, aber beim Rheingold muss man noch sehr vieles dazudenken.

 

OR Wir haben noch gar nicht über Religion gesprochen. 


TK Indirekt schon, als wir die Unsterblichkeit erwähnten. Ich glaube, Götter sind ohne Religion nicht denkbar. Der Ring wird oft eher in einer marxistischen Terminologie interpretiert. Interessant ist aber, dass Wagner Marx vermutlich gar nicht direkt rezipiert hat, sondern eher ein korrelativer Zusammenhang zwischen den beiden besteht: über Feuerbach nämlich. In Feuerbachs ungemein kluger Religionskritik findet man sehr viele Anschlusspunkte, weil sie eben über einen planen Atheismus hinausgeht. Der Mensch, sagt Feuerbach, projiziert alles Ideale auf die Götter, und das tut Wagner auch mit seinen Göttern. Im Grunde beschreibt der Ring in dem Verfall der göttlichen Macht auch wieder unterschiedliche Haltungen der Menschen zur Religion, das ist im Ring nicht direkt ausgesprochen, aber doch latent vorhanden. Also zum Beispiel Hunding. Oder selbst Hagen, der ja später noch Fricka anruft. Da gibt es also diese Querbezüglichkeit, dass die Menschen die Götter anrufen, oder auch komplett ignorieren, wie dann später zum Beispiel die Gibichungen, oder ein sehr ambivalentes Verhältnis dazu haben. Ich sehe den Ring eben weniger als eine kapitalistische Parabel, obwohl das ja auch stimmt. Für mich steht er eher in einer Reihe mit dem Holländer, wo es ja wirklich um die Hybris des Menschen geht. Der Holländer will ein Kap umfahren, das kein Sterblicher je umschifft hat. Und wird für diese Anmaßung, selbst quasi göttlich sein zu wollen, mit einer Art ewiger Wiederkehr bestraft. Das ist Wagners Entwicklungslinie der metaphysischen Fragen, die ja dann im Parsifal gipfelt. Im Ring gibt es beides, und mich interessiert nicht nur das innerweltliche Drama. 


OR Was wäre in eurer Inszenierung ein Widerhall unserer heutigen Gesellschaft oder der Fragen, die uns umtreiben? Stellen sich diese Endzeitfragen speziell für unsere Zeit? 


TK Es hat damit zu tun, ob ich mich als die letzte Generation ansehe oder als eine Zwischengeneration. Es gibt so viele Fragen im Ring, die eigentlich unabhängig von Zeitläuften sind und sich in egal welchem Jahr stellen, alleine die Frage, wie sie uns dann ab der Walküre begegnen wird: Wozu zeugt man Kinder? Will man in diesen Kindern weiterleben? Ist es vielleicht eine Art von narzisstischer Selbstklonung? Gleichzeitig hat es auch etwas geradezu Selbstloses, durch das eigentlich uninteressante eigene Individuum hindurch zumindest die Menschheit irgendwie eine Generation weiterzubringen. 
Das berührt ja emotional jeden Einzelnen; und wenn sich ein Kind gegen Vater oder die Elterngeneration wendet, ist da ja auch eine große Verzweiflung, die einem einerseits das Älter-werden vor Augen stellt und andererseits auch eine persönliche Kränkung für einen bedeutet. Diese Fragen sind komplett überzeitlich, und die thematisiert der Ring in einer extrem hochge-pushten, metaphorischen Weise. Aber wie oft bei Wagner sind die ganz, ganz großen Fragen dann auch sehr oft die ganz banalen, alltäglichen. Das Rheingold setzt die Konfliktlage in Gang, aber die Fragen, die einen menschlich betreffen und die man quasi mit-erleidet, kommen in den späteren Teilen. 


OR Es wird viel gelogen im Rheingold. Was für musikalische Mittel setzt Wagner ein, um diese Lügen entweder zu konterkarieren oder zu unterstreichen? 


VJ Die Musik kann sich verstellen, und etwa im Falle von Loge tut sie das sehr gut. Loge ist harmonisch gesehen der Wandlungsfähigste. Er ist enharmonisch, während die anderen in ihren Harmonien gefangen sind. Was ja nicht unbedingt Wagners Erfindung ist – das gab es schon bei Hector Berlioz oder auch bei Franz Liszt. Loge ist für mich der Zwillingsbruder von Me­phisto aus Liszts Faust-Sinfonie oder den Mephisto-Walzern. Loge steht für die Emanzipation von einem tonalen Zentrum. Seine erste Harmonie, die quasi zu seinem Leitmotiv wird, ist kein Dreiklang in seiner Urgestalt, sondern ein Sextakkord. Der Sextakkord ist von Natur aus eher unbeständig, und außerdem zieht es ihn dann chromatisch nach unten, und so kannst du in jeder Tonart enden. Interessanterweise wird bei Loge die Musik dort harmonisch einfach, wo er nicht lügt, sondern spottet, etwa bei der Stelle, an der er die beiden Götter diffamiert: „Donner und Froh, die denken an Dach und Fach“. Die Chromatik aber ist das Wesen des janusköpfigen Loge.

TK Loge ist die kühlste, intellektuellste und am wenigsten in wirklich emotionale Händel verwickelte Person. Für mich ist er eher ein kühler Analytiker als ein lustiger Spielmacher. So wie er sich da entwickelt, auch in den anderen Teilen, also ja noch weiter Din­ge abbrennt und sich dann später ganz in Musik auflöst, ist er ohne Zweifel auch in der Lage, Wotan seine Grenzen aufzuzeigen.

VJ Es gibt eine Figur im Rheingold, die nicht lügen kann: Fasolt. Fafner schon eher. Der hat ohnehin die diabolischen Züge eines Kaspar aus Carl Maria von Webers Der Freischütz, nicht nur die plumpen Züge eines Osmin aus der Entführung aus dem Serail. Die Figuren sind also musikalisch nicht eindimensional gezeich­net. Wotan etwa hat eine ganz andere musikalische Ausdrucks­weise, wenn er mit Fricka streitet, als wenn er in seinen pro­saischen „Vertrags-Modus“ verfällt.


OR Ist der Ring denn immer noch stark an so einem germanisch-nordischen, westeuropäischen Kulturkreis gebunden, oder ließe sich das auch ganz anders erzählen?


TK Die Götter sind germanisch eingekleidet, verhalten sich eher griechisch und leben in bei uns in einer eher christlich inspirier­ten Architektur. Da muss ich nicht auch noch meine Fantasie- Religion dazu erfinden. Was in den Ring über weite Strecken – über das Ende kann man streiten – noch nicht hineinspielt, ist sozusagen alles, was dann später bei Wagner an buddhistischem Gedankengut einfloss. Also alles, was sehr stark im Tristan, aber dann auch im Parsifal zum Tragen kommt, alles, was über eine christliche Heilsbotschaft hinausgeht. Der Ring bewegt sich doch eher in den zentraleuropäischen oder auch nordeuropäi­schen oder auch griechischen Glaubenswelten.


OR A propos Glauben. Wie steht es um die Moral? Ist etwa Erda so etwas wie ein moralisches Gewissen?


TK Ich glaube, das ist dann doch eher ein Stück, das im außermo­ralischen Sinne funktioniert. Erda sagt ja, wie es ist. Sie ist da fast schon eine Naturwissenschaftlerin, bei der das Gesetz der Kausalität über allem Geraune steht. Also natürlich warnt sie und hat einen Appell, aber ich sehe das gar nicht so sehr in diesen Kategorien. Es kommen permanent moralische Fragen auf. Aber ich glaube, es gibt jetzt nicht so die eine Moral, die sich aus dem Ganzen ableiten lässt.


OR Ihr zeigt in eurer Inszenierung Alberich als Tüftler in der Garage. Ist das ein Rationalist, ein Naturwissenschaftler, der gar nichts gelten lässt, was die Götter umtreibt?


TK Wie bei so vielen Wissenschaftlern oder Rationalisten steckt dahinter eine geheime Sehnsucht, dass man irrt, und auch die geheime Anmaßung, dass man vielleicht, wenn man seine Wis­senschaft nur weit genug treiben würde oder seine Technik, vielleicht auch eine Art göttlichen Status durch die Hintertür erwerben könnte. Was man sich vielleicht auch gar nicht so eingesteht. Also, ich glaube, in jedem Wissenschaftler steckt auch ein Frankenstein, der natürlich auch irgendwo das ewige Leben herstellen möchte. Wenn man das in die Konsequenz denkt – natürlich ist es das Ziel der Medizin, das Leben so lan­ge wie möglich zu verlängern –, muss man die Menschheit on the long run halt mal von der Erde wegbringen, weil sonst sind in ein paar Milliarden Jahren trotzdem alle verglüht. Insofern treffen sich die Götter und die Wissenschaftler und Tüftler ir­gendwo am Ende ihrer unterschiedlichen Bahnen.


OR Ihr habt euch für einen sehr konkreten Bühnenraum entschieden. Welche Rolle spielen die Video-Einspielungen?


TK Die Videos beschreiben sozusagen den Abstieg und Aufstieg Gottes, des Gottes, der Wotan ist, zusammen mit seinem Begleiter Loge durch die Welt. Wir zeigen das Niedersteigen von Bergeshöhen, also aus der göttlichen Domäne, in die Welt, und was einem Gott so geschieht, der mit der Welt konfrontiert wird. Das ist ja einerseits ein sehr tragisches Motiv, anderseits aber auch fast ein Boulevardmotiv, denn was ist ein Gott, der nicht erkannt wird, oder was ist ein Gott, der auch mit Alltagsproble­men zu tun hat? Der isst nur seine speziellen Äpfel, und irgend­wie möchte er gerne mit Speer reisen, und das ist nicht so ganz das, was die moderne Transporttechnologie und die mensch­liche Selbstversorgung so vorsehen ... Das klingt erst mal sehr lustig, aber ist natürlich auch Teil von einer Bewusstseinsreise Wotans, also auch eine Art von Kränkung, auf der Rückreise aber auch wiederum ein Triumph, weil er sein Ziel erreicht und einen Sterblichen übertöpelt hat.


OR Wie ist das Ende von Rheingold zu deuten? Die Götter gehen ihrem Untergang entgegen, sagt Loge.


TK Das Ende ist krass gebrochen, durch Loges Kommentare und auch durch den Gesang der Rheintöchter, also einmal quasi kühl-zynisch, einmal wirklich empathisch-mitleidend. Aber tat­sächlich, die Götter erstrahlen für einen Moment, und das ist auch musikalisch so, in ihrer vollen Glorie, in ihrer vollen Gött­lichkeit und auch in ihrer ganzen machtvollen Hoheit, ein einziges Mal, bevor dann drei Teile wiederum den tiefen Fall markieren. Also, man beginnt quasi in einem Zustand, wo die Götter nicht ihren besten Tag haben, und am Ende des Rheingolds wird durch Intrige und Mord und Diebstahl ein Zustand hergestellt, in dem diese Göttlichkeit einmal sichtbar erreicht und auch zumindest von den Göttern genossen wird – und von da an geht’s bergab.


OR Wie würdet ihr die Stellung des Rheingolds zum Gesamtzyklus beschreiben?


VJ Das Rheingold ist ja in mancherlei Hinsicht ein Experiment. Zum einen, weil es die erste pausenlose, durchkomponierte Oper ist. Gut, auch der Holländer sollte ohne Pause gespielt werden, aber das ist letztlich eher dramaturgisch begründet, weniger musi­kalisch. Anders im Rheingold. Wenn wir so wollen, hat es das im sinfonischen Bereich bereits gegeben, bei Beethovens Fünfter etwa, im dritten und vierten Satz, letztlich auch in der Neunten, ebenfalls beim Übergang vom dritten zum vierten Satz. Oder in Mendelssohns Violinkonzert, in dem alle drei Sätze ineinander übergehen. Nur gibt es bis dahin meines Wissens kein szenisches Werk ohne eine Unterbrechungsmöglichkeit. Dann ist da die ganze musikalische Syntax, die vom Drama und vom Text be­stimmt wird. So konsequent hat Wagner das später nicht mehr durchgezogen, vor allem Walküre und Götterdämmerung sind viel stärkere Konzessionen an den Zeitgeschmack. Das Expe­rimentelle ist aber auch der Aufbau über sozusagen mehrere Etagen, wie eine riesige Baustelle mit vielen Elementen, und darunter liegt dieses Riesenorchester, viel größer als die meis­ten Orchester jener Zeit. Nur darf es ganz selten als ein ganzes Orchester aufspielen! Oft zerfällt es in kammermusikalische Einheiten. Außerdem fällt die Abwesenheit des Chores, von Ensemblestücken, von Nummern auf. Als Orchestrator ist Wag­ner bereits im späten 19. Jahrhundert angelangt – die Rhein­gold-Instrumentation unterscheidet sich nicht wesentlich von der Götterdämmerung. Was sich wohl ändert, ist die Komposi­tionsweise. Der Wagner des Rheingolds kann seine Verwandt­schaft zu Rossini, zu Liszt noch nicht ganz verleugnen. Aber er macht es so kunstvoll, dass man sich denkt, das Rheingold kann gar nicht anders klingen!

TK Einerseits ist Das Rheingold eine Exposition des ganzen Rings, aber dieser Exposition trotzdem quasi das Gewicht eines voll­wertigen Abends zu geben, finde ich gar nicht so leicht. Eben weil man erst mal Figuren vorstellt, Konflikte etabliert, die aber natürlich noch nicht vollständig auserzählt werden. Auch wenn das Ende in Dur strahlt, ist das Ende des Rheingolds letztlich ein Trugschluss, weil wir quasi zu einer Art von Höhepunkt und zumindest aus Sicht der Götter Happy End kommen. Aber wir haben zusätzlich zu dem Trugschluss auch einen Cliffhanger, den wir in den Worten von Loge und den Rheintöchtern hören und sehen. Es bleibt spannend.

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Tobias Kratzer

Tobias Kratzer, geboren in Landshut, studierte Kunstgeschichte und Philosophie in München und Bern sowie Schauspiel- und Opernregie an der Theaterakademie August Everding. Er inszenierte u. a. an der Deutschen Oper Berlin, der Komischen Oper Berlin, der Oper Frankfurt, am Royal Opera House Covent Garden in London, De Nationale Opera Amsterdam, am Théatre de la Monnaie / De Munt Brüssel und der Opéra National de Paris, außerdem bei den Bayreuther Festspielen und beim Festival d’Aix-en-Provence. Mit der Spielzeit 2025 / 26 übernimmt er die Intendanz der Hamburgischen Staatsoper. Er wurde mit dem Deutschen Theaterpreis „Der Faust“ und mehrmals in der Fachzeitschrift Die deutsche Bühne als „Regisseur des Jahres“ ausgezeichnet. Seine Inszenierung von Mieczysław Weinbergs Die Passagierin an der Bayerischen Staatsoper in der Spielzeit 2023 / 24 errang in der Kritiker:innenumfrage der Fachzeitschrift Opernwelt das Prädikat „Aufführung des Jahres“.

Vladimir Jurowski

Vladimir Jurowski studierte in seiner Heimatstadt Moskau und setzte seine Ausbildung an den Musikhochschulen in Berlin und Dresden fort. Er dirigierte u. a. die Berliner Philharmoniker, die Sächsische Staatska­pelle Dresden, die Wiener Philharmoniker, das Royal Concertgebouw Orchestra in Amsterdam, das New York Philharmonic Orchestra sowie die Symphonieorchester von Boston, Chicago, Cleveland und Philadel­phia. Als Operndirigent trat er am Royal Opera House Covent Garden in London auf, an der Metropolitan Opera in New York, am Teatro alla Scala in Mailand, an der Opéra National de Paris, am Bolschoi-Theater in Moskau, an der Semperoper in Dresden sowie bei den Salzburger Festspielen. Von 1997 bis 2001 war er Erster Kapellmeister der Komi­schen Oper Berlin, anschließend bis 2013 Musikalischer Leiter des Glyndebourne Festivals. Von 2007 bis 2021 war er Chefdirigent des London Philharmonic Orchestra, seit 2017 ist er Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB). Seit 2021 ist er Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper. 2024 ernannte ihn König Charles III. zum Honorary Knight Commander of the Most Excellent Order of the British Empire.

DAS RHEINGOLD

Vorabend des Bühnenfestspiels Der Ring des Nibelungen (1869)