„… was Musik ist, bevor es Musik überhaupt gibt“
Andreas Jacob über Grund-Töne und musikalische Entwicklungen im Rheingold
Fotografie von Alexander Andrews
Andreas Jacob über Grund-Töne und musikalische Entwicklungen im Rheingold
Fotografie von Alexander Andrews
Fünf Jahre nach den ersten Studien zu „seinem Mythus“ stellte Richard Wagner den Text zum Ring desNibelungen 1853 einer ausgewählten Öffentlichkeit vor, wobei die textliche Arbeit am Rheingold am Ende eines langwierigen schöpferischen Findungsprozesses – und nach verschiedenen Skizzen und Entwürfen zu den anderen Teilen – stand. Sogleich begann der in Zürich exilierte Künstler mit der Komposition von Das Rheingold, dem „Vorabend“ zu den „drei Tagen“ seines zyklischen Musikdramas, sodass bereits 1854 die erste Partitur zum Großunterfangen vorlag. In diesem Fall ist es mehr als routinierte Ankündigungsrhetorik, wenn Wagner im Epilogischen Bericht zur Drucklegung des Textes auf „die neue Bahn“ hinweist, die er mit dem Rheingold beschritten habe: In der Sprachgestaltung fand er zu einer fließenden, auf dem flexibel anwendbaren Stabreim beruhenden Diktion, welche die Voraussetzung für metrische Freiheit und Offenheit der Textvertonung ist – für die vielbeschworene „unendliche Melodie“. Die Kompositionsweise mit ihrer stringenten Logik von oft auseinander entwickelten Leitmotiven ging wiederum deutlich über das hinaus, was vorher an musikalischer Darstellung von unterschiedlichen Handlungsebenen sowie psychologischen Phänomenen erreicht worden war.
Jedoch stellt sich das Problem des Anfangens, das bei der Produktion von linear zu rezipierenden Kunstwerken sowieso schon schwer genug wiegt, bei einem derart ambitionierten Projekt umso drastischer: Wie und womit beginnen, wenn der Sinn des komplexen Ganzen doch erst im Gesamtüberblick über die erst noch zu knüpfenden internen Beziehungen erkennbar wird? Mag der erste Ton noch als schiere Setzung in den Klangraum gestellt werden – was sagt dann schon der zweite Ton aus, und wie entscheidet dieser über den Fortgang des ausgelösten Prozesses?
EXTRATERRITORIALE SCHRITTE
Ebenso wie der „Vorabend“ vor der eigentlichen Handlung steht, sind die ersten musikalischen Schritte in Bezug auf die kommenden Teile des Ganzen in gewisser Weise extraterritorial: Die anderen Teile können sich auf das Vorgegebene beziehen, ein solches Referenzverfahren ist für den Vorabend aber ausgeschlossen – und aus dem Nichts kann auch ein selbstbewusster Künstler wie Wagner nichts erschaffen. Die Existenz und das Werden von Musik müssen thematisiert werden, bevor die eigentliche Musik überhaupt beginnen kann. Im 20. Jahrhundert hatte John Cage (von dem das Titelzitat stammt) viel über dieses Problem nachgedacht und war es durch Zufallsoperationen angegangen – ein Weg, der für das 19. Jahrhundert und seine hochgeschraubten Erwartungen an das musikalische Kunstwerk wie seinen Autor jedoch noch nicht gangbar war (besonders, wenn der Autor Wagner hieß). Die im Rheingold vorgeschlagene Lösung beruht dagegen auf der Beleihung nicht menschlich determinierter Ebenen, die dem schöpferischen Zugriff somit in gewisser Weise vorgelagert erscheinen.
Vom Text wie von der Musik her wird in diesem ersten Teil des Rings eine andere Sphäre akzentuiert als im übrigen Zyklus. Evident ist dies in Bezug auf die Bühnenhandlung, bei der im Gegensatz zum restlichen Drama keine Menschen auftreten, sondern nur übersinnliches Personal (nixenhafte Elementargeister, zwergenartige Schwarzalben, Riesen, göttliche Asen – hier auch als „Lichtalben“ bezeichnet –, und mit Erda ein selbst diesem illustren Kreis irgendwie vorgängiges Urwesen), an dessen Existenz ja nicht alle Zeitgenossen gleichermaßen glauben mögen.
Die Verlagerung der Handlung in die Sphäre des Märchenhaften bei gleichzeitiger Betonung der durch Wagner vorgenommenen Neuschöpfung tritt insbesondere zu Beginn des Rheingolds klar entgegen: Die ersten auftretenden Personen – die drei Rheintöchter mit den wasserbasierten Namen Woglinde, Wellgunde und Floßhilde – sind typische Vertreterinnen der im 19. Jahrhundert neue Popularität erfahrenden Zunft der Undinen: einerseits feenhafte, andererseits sinnlich appellierende Kreaturen, die mit übersinnlichen Fähigkeiten (zur Weissagung), aber auch mit der Kapazität zu menschlich-erotischer Liebe ausgestattet sind. Für diese aquatische Daseinsform gibt es lediglich eine indirekte Vorlage in den von Wagner beliehenen Quellen, jedoch nicht in der Edda (die für das Rheingold weitgehend als Referenz diente), sondern im Nibelungenlied: In der 25. Aventiure erscheinen Hagen – wohlgemerkt nach Siegfrieds Tod – zwei als „merweip“ bezeichnete Geschöpfe, die auf die Namen Haderburg und Winelint hören und den fatalen Ausgang der Fahrt der Burgunder an Etzels Hof voraussagen. Diese sind allerdings in der Donau zuhause, gehören also zu den Donaunixen und haben eine andere dramatische Funktion als die Rheintöchter zu Beginn des Rheingolds.
Mit seinem Erstling Die Feen hatte sich Wagner auch schon früher mit märchenhaften Zwischenwesen und der für sie geltenden Tragweite von menschlicher Liebe auseinandergesetzt. Und auch im Rheingold wird der Märchenton bereits durch die Spielorte angezeigt („auf dem Grunde des Rheines“, „freie Gegend auf Bergeshöhen“ vor Walhall, „unterirdische Kluft“). Dies hat Konsequenzen für die praktisch-technische Theaterarbeit: Wagner, der diesen Gewerken andernorts durchaus recht skeptisch gegenüberstand, erklärte im Vorwort zum herausgegebenen Text, dass die szenischen Situationen des Rheingolds „dem Dekorationsmaler und Maschinisten gerade die erwünschteste Gelegenheit bieten, ihre Kunst als eine wirkliche Kunst zu zeigen“. Ebenso deutet der Beginn der Musik darauf hin, dass hier nicht alles mit normalen, den Menschen vertrauten Dingen zugeht – mehr als einmal wurde der zu Beginn des Rheingolds fundierend in den Raum gestellte Ton Es im Sinne eines märchenhaften Anfangs mit „Es war einmal“ gedeutet. Der zeitenthobenen, mythenhaften Grundierung entspricht die Zuordnung der Protagonisten und bestimmter Handlungsstränge zu den vier Elementen Wasser (Rheintöchter), Feuer (Loge), Erde (Erda) und Luft (Lichtalben, insbesondere Sturmgott Wotan).
„SO VOLKSTHÜMLICH, WIE MÖGLICH“
Dass man es mit einem Geschehen vor der Zeit zu tun hat, zeigt sich auch im weitgehenden Verzicht auf ein Stilmittel, das für den Ring (in vielerlei Hinsicht eigentlich auch das Gesamtschaffen Wagners) ansonsten so charakteristisch ist: das Erzählen. Nur an wenigen Stellen wird hier von den Figuren etwas erzählt, das sich vorher ereignet hat oder über das Gezeigte hinaus geht. Zu diesen wenigen Passagen gehören das wortkarge Bautagebuch des Riesen Fasolt zur Errichtung von Walhall („Sanft schloss / Schlaf dein Aug: / wir beide bauten / Schlummers bar die Burg“), Loges feuriger Bericht eines wenig gewürdigten Handelsreisenden („Immer ist Undank / Loges Lohn!“) oder Mimes Darlegung der Erschaffung des namensgebenden Hauptrequisits des Zyklus („Mit arger List / schuf sich Alberich / aus Rheines Gold / einen gelben Reif“). Bereits ein flüchtiger Vergleich mit Wotans Erzählung aus dem zweiten Aufzug der Walküre zeigt, was Wagner anderweitig mit diesem monologischen Genre zu erzielen wusste.
Dafür treten hier Elemente wie die Dialoge in den Vordergrund, bei denen die Zeitgleichheit des beobachteten Geschehens bestimmend wirkt. Der Beginn der zweiten Szene, die Unterhaltung zwischen dem erwachenden Ehepaar Fricka und Wotan, kann hier als Beispiel für einen Tonfall dienen, der zuweilen an die komödiantische Beiläufigkeit sowie das präzise Timing des Boulevard-Theaters erinnert. Derartig leicht verständlich sind auch Merkmale wie die sprachlich-musikalische Charakterisierung der einzelnen Figuren, wofür die naturhaft harmoniegesättigte Mehrstimmigkeit des Rheintöchter- Gesangs ebenso als Beleg dienen kann wie die plumpe Sprechart der Riesen, Loges chromatisierte Flüchtigkeit oder das bei Alberich mit vielen Zisch- und Explosivlauten durchsetzte Idiom („Tückischer Zwerg / Tapfer gezwickt“; „Schändlicher Schächer! Du Schalk! Du Schelm!“). Wagner selbst schrieb im Jahr 1859 – an dieser Stelle sicherlich nicht ohne den Hintergedanken, seinem Verleger gegenüber auf den potenziellen kommerziellen Erfolg des Werks hinzuweisen – in einem Brief an Franz Schott davon, dass er hier „so volksthümlich, wie möglich“ verfahren sei, um „eine ganz neue Seite“ seines Schaffens, nämlich „die charakteristisch-populäre“ hervorzukehren.
Das Spielhafte des Musikdramas wird überdies durch den äußerlichen Umstand verdeutlicht, dass die vorliegenden vier Szenen ohne angelegte Pause, d. h. ohne fettgedruckten Doppelstrich in der Partitur ineinander übergehen. Die für Wagners Verhältnisse vergleichsweise geringe Spieldauer, die gar nicht erst zur Bildung von herkömmlichen Aufzügen (Akten) Anlass gibt, dürfte im Verbund mit der angesprochenen Fasslichkeit auch einer der Gründe dafür sein, dass von allen Teilen des Rings dieser Vorabend in aller Regel die meisten Besucher anlockt.
„TRÄGER DER LEIDENSCHAFTS-TENDENZEN“
Das erwähnte Problem eines aus sich selbst heraus motivierten, also scheinbar ohne menschliches Zutun erfolgenden Anfangens wurde im Rheingold musikalisch durch den Rekurs auf die Natur angegangen, der textlich durch die Begegnung Alberichs mit den drei singenden Naturgeistern vorgegeben ist. „Natur“ lässt sich hier ganz im Sinne der klassischen Kantischen Definition lesen, als „Inbegriff der Erscheinungen, so fern diese, vermöge eines innern Prinzips der Kausalität, durchgängig zusammenhängen“. Menschliches Handeln ist also nicht für die Herstellung des angetroffenen „innern Prinzips der Kausalität“ verantwortlich, durch das jedoch ein durchgängiger Zusammenhang der Erscheinungen verbürgt wird. Das einmal in den musikalischen Raum gestellte tiefe Es der Kontrabässe prägt aus sich selbst heraus – über das physikalische Phänomen der Obertonreihe, also der mitschwingenden Teiltöne – ein erstes Naturmotiv aus, aus dem sich dann auf scheinbar ebenso natürliche Weise die weiteren Motive entwickeln.
Wagner selbst erklärt seinen eigenen Produktionsprozess so, dass er „zunächst die plastischen Natur-Motive zu finden hatte, welche in immer individuellerer Entwickelung zu den Trägern der Leidenschafts-Tendenzen der weitgegliederten Handlung und der in ihr sich aussprechenden Charaktere sich zu gestalten hatten“. Ebenso sei – so Wagner um einiges später, im Jahr 1879 – die unerhörte, den Aspekt des Zeitentrückten des Werks versinnbildlichende tonale Statik des Anfangs aus einer künstlerischen Notwendigkeit heraus zu verstehen, die es ihm „sogar unmöglich“ gemacht habe, „den Grundton zu verlassen, eben weil ich keinen Grund dazu hatte ihn zu verändern“. Dies habe auf den ganzen Rest „der nicht unbewegten darauf folgenden Scene“ ausgestrahlt: Sie „durfte durch Herbeiziehung nur der allernächst verwandten Tonarten ausgeführt werden, da das Leidenschaftliche hier erst noch in seiner primitivesten Naivetät sich ausspricht“.
Das mit den „allernächst verwandten Tonarten“ ist übrigens weniger im Sinne des Quintenzirkels zu sehen als vielmehr im Sinne eines durch Terzverwandtschaft (in Alternierung von kleinen und großen Terzen) bestimmten Verhältnisses, wie sie auch im sogenannten „Ringmotiv“ (das in dieser ersten Szene ebenfalls eingeführt wird) angelegt ist: Innerhalb der Partitur finden sich Abschnitte, deren Vorzeichen das anfängliche Es-Dur anzeigen (drei ♭-Vorzeichen), später C-Dur (kein Vorzeichen) sowie E-Dur (vier #-Vorzeichen). Damit sind fast schon die Eckpunkte des gesamten Grundton-Spektrums des Rheingolds benannt, bevor zu Beginn der zweiten Szene mit fünf ♭-Vorzeichen Des-Dur eingeführt wird und damit eine Sphäre, die für den weiteren Verlauf prägend werden soll. Denn mit diesen fünf ♭-Vorzeichen wird sowohl – eben mit Des-Dur – die Sphäre der Götter („Lichtalben“) als auch diejenige der Nibelungen („Schwarzalben“) – unter Tongeschlechtwechsel nach b-Moll – gekennzeichnet. Mit Ausnahme von vier b-Vorzeichen (diese finden sich nur partiell in den Kontrabass-Tuben beim „Wurm-Motiv“) werden im Laufe der Partitur alle zwischen Des- und E-Dur liegenden Stationen des Quintenzirkels explizit markiert. Jedoch tritt im Vergleich zur tonartlichen Häufigkeit der Sphäre Des / ♭ das andere Extrem des aufgespannten Spektrums nur selten in Erscheinung: Vier #-Vorzeichen finden sich lediglich noch in der zweiten Szene, hier in Verbindung mit dem „Ring“- und dem „Freia-Motiv“ in E-Dur, sowie in der vierten Szene, dort dann den gewichtigen Auftritt Erdas in cis-Moll bezeichnend.
KRIMINELLE ENERGIE ALS MOTOR
Aus der „primitivesten Naivetät“ selbst des Leidenschaftlichen der Naturwesen zu Beginn lässt sich aber nur schwer ein Motor für ein mehrteiliges dramatisches Werk herausentwickeln. Dafür bedarf es dann doch der kriminellen Energie der anderen Akteure: des Raub und Gewaltherrschaft praktizierenden Alberich, des stets zur vertraglichen wie ehelichen Untreue aufgelegten Vertragshüters Wotan, des brudermörderischen Fafner oder des kidnappenden Trickbetrügers Loge. Analog hierzu ist es nicht allein die organische Weiterentwicklung der Naturmotive, die den musikalischen Verlauf bestimmt, sondern auch und insbesondere die gezielte, artifizielle Verarbeitung und Brechung des exponierten leitmotivischen Ausgangsmaterials – bis hin zu dessen Korruption. (Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass auch andere Überschreibungstechniken der romantisch getönten Naturorganik anzutreffen sind, besonders evident im Falle der Nibelheimer Industriemusik der 18 geschlagenen Ambosse.) Ein eigenes Genre von Wagnerliteratur hatte sich entsprechend der decodierenden Motivhermeneutik verschrieben, indem sie die Verhältnisse der verschiedenen Motive zueinander kommentierte (z. B. von „Natur“- zu „Erda“- und zu „Götterdämmerungs“-Motiv, von „Ring“- zu „Walhall“-Motiv, von „Rheintöchtersang“ zu „Goldherrschafts“- Motiv und vieles mehr). Das führte zur Herausbildung von Kennerzirkeln mit teilweise sektiererischen Zügen, in denen die pünktliche, semantisierende Identifikation der Motive als Anzeichen eines tieferen Verständnisses dieses insgesamt doch recht sperrig zu konsumierenden Großwerks gewertet wurde.
Doch auch ohne sich an einer derartigen Motiv-Safari zu beteiligen, wird sich einem die Grundtendenz dieses Stücks über das im Rhein gelagerte Gold und seinen unseligen Verwertungszusammenhang erschließen: Die Geschichte vom naturhaften Anfang, dem das immanent Naive durch Werke von List, Vertrauensbruch und Machtbesessenheit ausgetrieben wird. Die allseits (und völlig zurecht) vermutete Bereitschaft zum Verrat spricht der seinerseits selbst wenig vertrauenswürdige Nibelung Alberich aus: „Deiner Untreu trau ich, / nicht deiner Treu!“ Selbst Göttern sollte man also nicht alles glauben – und die durch diese Erkenntnis ausgelöste Krise reicht nun hin, um ein unheilsüberschattetes Geschehen, das seinen Anfang in urgrundhafter Statik nahm, über mehrere Festspieltage hinweg in Gang zu halten.
Andreas Jacob, geboren in Nürnberg, studierte Kirchenmusik, Konzertfach Orgel, Musikwissenschaft, Philosophie und Psychologie in Essen, Stuttgart, Bochum und Bonn. Nach Lehrtätigkeiten an verschiedenen Hochschulen wurde er 2006 Professor für Musikwissenschaft an der Universität Potsdam. Weitere Rufe führten ihn an die Universität Münster und an die Folkwang Universität der Künste. Dort wurde er 2017 zum Rektor gewählt. Seine Publikationsschwerpunkte sind Johann Sebastian Bach, die Oper des 19. Jahrhunderts, Arnold Schönberg sowie Musikästhetik. Neben seiner wissenschaftlichen Laufbahn führten ihn Konzertreisen als Orgelsolist durch ganz Europa und Japan.