Musik wie ein Röntgenbild

Claus Guth im Gespräch

Fotografie von Li Hui

CG Claus Guth
YG Yvonne Gebauer

YG Sie haben in Ihrer langjährigen Regiekarriere sehr viele Strauss- Opern inszeniert und sind mittlerweile zu einem Spezialisten geworden. Kaum ein Regisseur hat sich so viel mit Strauss’ musikalischem Kosmos beschäftigt ...

CG Ich war während meines Studiums an der Theaterakademie August Everding für ein Jahr als Auszubildender an der Bayeri­schen Staatsoper und habe verschiedene Abteilungen kennen gelernt. Das war 1988, als die Bayerische Staatsoper tatsächlich in einer Spielzeit alle Strauss-Opern zur Aufführung brachte, inklusive Danae. Ich glaube, dass meine große Strauss-Initiation zu diesem Zeitpunkt stattgefunden hat.

Ich habe mich da nicht so sehr für das – sehr konventionelle – Bühnengeschehen interessiert, sondern mich in eine Loge am Orchestergraben gesetzt und mich auf Wolfgang Sawallisch und das Bayerische Staatsorchester konzentriert. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich zunächst auf die große Farbenvielfalt aufmerksam geworden bin. Ich war fasziniert davon, wie viele Schichten dieser Komponist unter der zunächst glatt erschei­nenden Oberfläche verbirgt. Das war ganz intuitiv: Diese rausch­hafte Musik hat mich wie ein Sog erfasst, ja überwältigt. Erst später habe ich begonnen, das Werk und die Musik analytisch zu betrachten, als ich in meinen Inszenierungen sehr viel Zeit damit verbracht habe. „Mein“ erster Strauss war Ariadne auf Naxos in Bremen. Da wurde mir unter anderem auch klar, wie wichtig die Zusammenarbeit mit einem Dirigenten ist. Mit Sebastian Weigle habe ich bereits eine lange Arbeitsbeziehung: Wir haben an der Oper Frankfurt zusammen Daphne, Rosen­kavalier und zuletzt Elektra gemacht.

YG Wenn Sie an Stücken arbeiten, ist es vor allem die Musik, die Sie leitet …

CG Ja, die Musik ist für mich in meiner Arbeit der zentrale Ausgangs­punkt: Bei Leoš Janáček z. B. habe ich das Orchester wie ein Tier empfunden, gar nicht wie Musik. Bei Strauss wiederum habe ich das Gefühl, als würde das Orchester ein Röntgenbild der verschiedenen musikalischen Schichten erstellen. Je mehr man forscht und gräbt, umso reicher wird dieser Kosmos. Durch die komplexe Schichtung ergeben sich in der Charakterzeich­nung der Figuren subtile Porträts, ja Psychogramme, die eine unglaubliche Modernität haben. Es sind vor allem die starken Frauenfiguren, für die sich Strauss interessiert und die er durch sein ganzes Werk hindurch immer wieder gestaltet hat.

Die Abgründigkeit der Musik von Richard Strauss finde ich sehr faszinierend und inspirierend. Sie erlaubt mir als Regisseur, mit ganz anderen Bildern und Erzählungen in Kontrast zur vordergrün­digen Schönheit zu gehen und in den Tiefenschichten der Musik ein Echo zu erzeugen. All das ist in der Musik von Strauss enthal­ten, es ist nur nicht immer beim ersten Hören zu erkennen. Darin besteht auch meine Arbeit: genau das zum Vorschein zu bringen.

YG Das beschreibt sehr genau, wie Sie als Regisseur arbeiten – wie Sie das Libretto vollkommen von seiner folkloristischen Um­mantelung befreien und das Material skelettieren. Erst dann kann ein Psychogramm freigelegt und das Phänomenologische der Erzählung sichtbar und auch hörbar werden.

Es gibt sehr viele Klischees, die über Richard Strauss im Umlauf sind. Da könnte es fast überraschen, dass ein Regisseur wie Sie, der ja auch sehr viel neue Musik inszeniert hat und sich für innovative Formate interessiert, gerade für diesen Komponisten eine Leidenschaft entdeckt hat …

CG Was sind denn die Klischees?

YG Da ließe sich einiges nennen – zum Beispiel eine Art von ver­klärendem Romantizismus, der mehr Rausch als Analyse zu bieten hat, oder auch eine Welt, die mehr Vergangenheit als Zukunft in sich birgt. Ebenso ist die zweifelhafte politische Rolle, die er im nationalsozialistischen Deutschland gespielt hat, ein großes Thema …

CG Ja, das stimmt, damit muss man umgehen, wenn man Richard Strauss inszeniert. Es gibt einiges bei ihm, das verwirrend und rätselhaft ist. Der Münchner, der seine Villa in Garmisch baute: diese bürgerliche Figur, in der Hellsicht und Blindheit ganz nah beieinander sind. Ein genialer Musiker, der eine große Sensitivi­tät und Intuition für Frauengestalten hat. Das sind sehr differen­zierte und genau beobachtete Charaktere, die in ihrer Radikali­tät selten in Opern zu finden sind.

In der Beschäftigung mit Die Liebe der Danae – einem Werk, das kurz vor und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs entstand – kommt man nicht umhin, sich auch mit der umstrittenen politischen Person Richard Strauss auseinanderzusetzen. Das ist ein sehr diffiziles Thema, das man nicht so einfach abhaken kann. Was klar ist: Strauss war weder ein unpolitisches Opfer noch ein überzeugter Anhänger des NS-Regimes. Kaum zu bestreiten ist allerdings, dass er die Machtübernahme hoffnungsvoll be-grüßte und unmittelbar danach begann, sich von dem neuen Regime vereinnahmen zu lassen. Andererseits weigerte sich Strauss beharrlich, seine Zusammenarbeit mit Stefan Zweig aufzugeben, der nach den rassistischen Maßstäben der National-sozialisten als „Volljude“ galt. Außerdem sorgte er sich um seine Schwiegertochter Alice, die ebenfalls als „Volljüdin” galt. All das führte zu Kollisionen mit den Machthabern. Dieser winzige Aus­schnitt allein zeigt, wie kompliziert es ist, ein klares Urteil über die politisch-ethische Haltung dieses Komponisten zu fällen.

YG Was macht die Oper Die Liebe der Danae so interessant?

CG Dieses späte Werk von Strauss ist ein Riesenprojekt, in dem er etwas ausprobiert und an die Grenze bringt – bis zum Ende jeglicher Bedeutung. Jeder Glaube wird hier erst einmal zerlegt. Die Oper bringt etwas an die Oberfläche, das Strauss in dieser Zeit erfahren haben muss: die nackte, hässliche Fratze der Welt. Danae beschreibt eine totale Götter- und Menschheitsdämme­rung: Alles geht den Bach runter, die Götter sind abgewrackt. Als neue Gottheit wird das Gold angebetet.

In dieser vollkommenen Entleerung gibt es diese eine Figur: Danae. Sie trägt als Einzige ein Leuchten in sich und sucht nach etwas anderem als alle anderen. Sie beginnt ihren Weg als Teil einer Gesellschaft, in der sie funktionieren muss. Aber von An­fang an unterscheidet sie sich von der Welt ihres Vaters Pollux, hat diese tiefe Ernsthaftigkeit und Obsession, die sie weiterträgt. Diese Daseinssuche ist lebensnotwendig für sie. Insofern ist Danae eine der typischen Frauenfiguren, wie Richard Strauss sie immer wieder geschaffen hat: eine Frau, die ihre Eigenständigkeit entdeckt, ihren eigenen Willen, ihre eigene Kraft und Freiheit.

YG Welche Erfahrung haben Sie in den Proben mit dem Stück ge­macht?

CG Diese Oper ist ein Phänomen! Man sagt, dass nicht klar sei, welchem Genre sie angehört: Ist sie eine „Heitere Mythologie“, wie es im Untertitel heißt, oder doch eine Tragödie? Man be­mängelt, dass der dritte Akt sich zu sehr unterscheidet vom Rest der Oper. Im Allgemeinen wird dieses sehr späte Werk – die offizielle Uraufführung fand ja erst 1952 nach Richard Strauss’ Tod statt – als weniger geglückt betrachtet. Es ist auch selten auf den Spielplänen zu finden.

Im Probenprozess habe ich die Erfahrung gemacht, dass für mich genau das, was man an dieser Oper als „problematisch” bezeichnet, das Interessante daran ist. Das Inkongruente und nicht Eindeutige ist ihr Zentrum, permanent stoßen hier die ver­schiedenen Ebenen aufeinander: das Hochheilig-Pathetische der alten Götterwelt mit dem Banalen, fast Pubertären der Ope­rettenwelt des Pollux. Das liegt direkt nebeneinander.

YG Die Welt, wie sie in Die Liebe der Danae beschrieben ist, setzt sich so vielgestaltig zusammen, wie es in einem schmaleren Werk gar nicht unterzubringen wäre. Es gibt drei vollkommen differen­te Welten: die Welt des Pollux, die Welt des Jupiter und dann die Welt der Danae, in die die Figur des Midas hineinragt.

CG Das sind drei Kosmen mit ganz unterschiedlichen Gewichtungen und Farben, die auch einer jeweils anderen inszenatorischen Sprachlichkeit bedürfen. Ich reagiere auf die Musik und darauf, was sie mir erzählt. So entstehen automatisch drei verschie-dene theatrale Formen. Reizvoll sind dann die Reibungen, die entstehen, wenn diese Welten aufeinandertreffen. Auf die Pollux- Welt z. B. schaue ich wie aus der Distanz, wie auf einen merk­würdigen Ameisenhaufen. Das ist eine groteske Welt.

YG Der Eindruck eines Ameisenhaufens ergibt sich wohl auch da­raus, dass all die Figuren aus dieser Welt keine spezifische Charakterzeichnung erfahren. Die vier Königinnen treten nur als Gruppe auf. Auch über Pollux erfährt man wenig. Man sollte sich also eher fragen, was das zu bedeuten hat, und nicht versuchen, den „Ameisen“ Tiefe zu verleihen. Die Pollux-Gruppe ist ein sehr konform agierender Haufen, der nach Geld giert. Das reicht, um Danae in die Startposition zu bringen.

CG Ich finde die Doppeldeutigkeit in diesem Stoff wesentlich: Es geht um verschiedene Werte. Der Wert von Gold ist für Pollux Kaufkraft und für Danae etwas vollkommen anderes. Für sie ist das Gold eine Begegnung mit purer Schönheit. Sie ist fasziniert von der Ursprünglichkeit und der Kraft der Erde, aus der dieses Metall stammt. Sie ist – ganz intuitiv und im besten Sinne naiv – gebannt vom Glanz und Zauber des Goldes. Und so, wie sie das Gold begreift, so begreift sie auch die Welt, von der sie umgeben ist. So durchdringt sie das System der Täuschungen, das um sie herum aufgerichtet wird. Sie lässt sich nicht von der Oberfläche blenden, sondern hat einen Sinn für das Authenti­sche, das Kreatürliche – und damit für das Wirkliche. Alles, was ihr geschieht, erlebt sie in einem langsamen Prozess, in dem sie Schein und Sein sortiert. So gesehen erzählt die Geschichte der Danae von einer großen – im Heidegger’schen Sinne ge­dachten – Ent-Täuschung.

YG Welche Rolle spielt Midas für Danae?

CG Wäre nicht Jupiter, in dieser irren Konstruktion mit Midas als seinem Double, in Danaes Leben getreten, dann wäre sie ver­mutlich in der Welt des Pollux verwelkt oder wahnsinnig ge­worden. Oder sie wäre wie alle anderen Frauen von Jupiter benutzt worden und hätte ein ähnliches Schicksal erlitten wie Semele, Alkmene, Leda oder Europa, wie sie im Stück porträtiert werden.

Midas ist der arme Eseltreiber, der in einer ähnlichen Situation wie Danae ist. Beide werden funktionalisiert, von einem Gott und von einer Gesellschaft. Sie sind in eine Rolle gezwungen. Und beide sind in der Lage, sich aus dieser Situation zu eman­zipieren und ihren Auftrag abzulehnen. Durch das Erkennen ihrer Liebe haben sie die Kraft, an etwas völlig anderes zu glau­ben als alle anderen.

YG Welche Rolle spielt der Gott Jupiter?

CG Wenn ich Jupiter betrachte – und den unangenehmen Chau­vinismus weglasse, der auch in der Figur steckt –, dann rührt diese Figur an die Dimension der Vier letzten Lieder von Strauss. Das ist der Abschied, der da komponiert ist: Dinge hören auf.

Jupiter erschafft in seinen Abenteuern auf der Erde, unter den Sterblichen, immer Situationen, in denen er sich extrem spürt, in denen er sich lebendig fühlt. Auch davon nimmt er nun Ab­schied. Denn die Götterwelt hat ausgedient, die Menschen be­wegen sich wie in einem Hamsterrad, immer auf der Jagd nach der nächsten Befriedigung, und fallen irgendwann tot um, in einer sinnfreien Bedeutungslosigkeit. Strauss beschreibt einen allumfassenden Bedeutungsverlust. Die Welt des Pollux bleibt unangetastet, ohne Erfahrung, ohne Erlebnis, ohne Verwandlung. Es gibt keinerlei Erkenntnishorizont innerhalb dieser Gesellschaft bis zum Schluss.

YG Erzählt die Oper in all der Depression am Ende auch eine Hoff­nungsgeschichte?

CG Es ist die Hoffnung, dass das Individuum gegen eine gleichge­schaltete Welt agieren kann, indem es sich emanzipiert und etwas Eigenes gründet – eine Utopie. Das Porträt eines Men­schen, der seinen eigenen Instinkten und Gefühlen folgt, sich aus der Fremdbestimmung löst und zu etwas vollkommen Neu­em kommt. Das entspricht auch den Worten, mit denen sich Richard Strauss 1944 in Salzburg von den Wiener Philharmonikern verabschiedete, nachdem diese das C-Dur-Zwischenspiel aus dem letzten Akt der Danae gespielt hatten: „Vielleicht sehen wir uns in einer besseren Welt wieder!“

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DIE LIEBE DER DANAE