Don Giovanni und die „Champagner-Arie“
Gerd Michael Herbig
Foto: Reinout Nieuwenhuizen Segaar
Gerd Michael Herbig
Foto: Reinout Nieuwenhuizen Segaar
Mozarts dramma giocoso Don Giovanni ist sehr schnell in zentralen Passagen einer Strategie bürgerlicher Verharmlosung, der Anpassung an die Banalität des Zeitgeistes anheimgefallen. Dabei muss die Verfälschung der Don Giovanni zugedachten Arie „Fin ch’han dal vino / calda la testa“ (Auf dass ihnen der Wein / zu Kopfe steigt) zur „Champagner-Arie“ als besonders schwerwiegend beurteilt werden, weil sie gezielt ein Imago Don Giovannis installierte, das in völligem Widerspruch zu den „gesinnungen und gedancken“ stand, die Mozart in einem Brief vom 8. November 1777 in seiner Musik auszudrücken beanspruchte.
Es ist bestürzend, wie früh diese Umwertung geschieht. Mozart schuf die Prager Fassung der Oper 1787, die Wiener Fassung im folgenden Jahr. Aber schon 1788 klittert Christian Gottlob Neefe, bedeutend als früher Lehrer Beethovens, die Oper zu dem Singspiel Don Juan,der bestrafte Wüstling oder Der Krug geht solange zum Wasser biser bricht. Und die entscheidende, weil lange die Aufführungsgeschichte dominierende Verunstaltung schafft der führende Schauspieler der Epoche, Friedrich Ludwig Schröder, mit seiner Don Juan-Paraphrase, uraufgeführt am 27. Oktober 1789 in Hamburg. Abgesehen davon, dass er die Textur Mozarts zu erbaulicher Moralbelehrung umpolt („Lebenslust fährt schnell dahin / Ewig währt der Tugend Gewinn“), legt er die Arie Leporello in den (rühmenden) Mund und führt mit dem Champagner das Zeichen des „feinen Unterschiedes“ (Pierre Bourdieu) eines Lebensstiles ein, dem Herrschaft über die Frauen immanent ist: „Treibt der Campagner [sic!] Das Blut erst im Kreise, Dann gibt’s ein Leben, Herrlich und hehr! Artige Mädchen Führ ich ihm leise, Wo ich sie finde, Zum Tanze daher! Hier gilt, ihr Damen! Kein Rang, kein Namen. (…) Er unterdessen, Nach alter Weise, Führt sein Liebchen, Trotz Sträuben und Ach, Ins Seitengemach! Wollen wir wetten? – Blonden, Brunetten, Zählt mein Register Morgen weit mehr!“ Herrlich und hehr, also herrschaftlich und erhaben, so wird Don Giovanni verklärt. Sichtbar wird diese nahezu zeremonielle Gestalt in dem Gemälde von Max Slevogt der Jahre 1901/02, Titel Das Champagnerlied, das den damals führenden Interpreten Don Giovannis, Francesco d’Andrade, in der Pose unangefochtener signoraler Weltbeherrschung stilisiert.
Leider schließt sich Søren Kierkegaard unkritisch dieser Sinnverstümmelung an und zementiert sie kraft seines intellektuellen Ranges für die folgende Zeit: „Anders verhält es sich mit der Champagner- Arie. Eine dramatische Situation wird man, wie ich glaube, hier vergeblich suchen; desto mehr Bedeutung hat sie als lyrische Herzensergießung. […] Ideal ist er durchgehend von Mozart aufgefasst, nämlich als Leben, als Macht, aber ideal seiner Wirklichkeit gegenüber, […] Wenn alle Mädchen der Welt in diesem Augenblick ihn umgäben, so würde er ihnen nicht gefährlich sein: denn er ist gewissermaßen zu stark, um sie jetzt betören zu wollen. […] Die Bezeichnung, die man dieser Arie gegeben hat: ‚Champagner-Arie‘, ist unleugbar sehr treffend …. sie steht zu Don Juan nicht in einem zufälligen Verhältnis. Geradeso ist sein Leben, brausend und schäumend, wie Champagner im Kelche.“
Mozart allerdings greift tiefer, er stilisiert Don Giovanni nicht eindimensional auf „sinnliche Genialität“ (Kierkegaard), sondern entwirft den Menschen Don Giovanni in all seinen Sehn-Süchten, Abgründen und Brüchen, die unter der Oberfläche brodeln. Zur Darstellung bedient er sich aller strukturgebenden Parameter einer Arienkomposition: Textstruktur, Rhythmus, Harmonie, Dynamik, Melodik, musikalische Form und Tempo.
DIE ARIE „FIN CH’HAN DAL VINO CALDA LA TESTA“ IM ZEICHEN DER KRISE
Die Arie steht in einem dramaturgischen Zusammenhang, den das vorausgehende Rezitativ als grundlegende Krise Don Giovannis darstellt, der sich Leporello entziehen will: „Io deggio ad ogni patto per sempre abbandonare questo bel matto“ – „Ich muss auf jeden Fall diesen Verrückten verlassen.“ Er wendet sich direkt an die Zuschauer („guardate!“) und spricht von der „indifferenza“, Teilnahmslosigkeit, Don Giovannis, wofür als Synonyme stehen „senza pregi“ und „privo di personalità“, also von einem Mann ohne Werte und personale Integrität. Präziser kann die Krise der Person nicht formuliert werden.
Die sprachliche Struktur der auf das kurze Rezitativ folgenden Arie stiftet durch eine deutliche Zweiteilung des Sprachstoffes Sinn. Don Giovanni gibt zunächst Leporello sachlogisch und sprachlogisch kohärente Anweisungen zur Organisation des Festes, dessen einziger Sinn ist, die Stockung der Zufuhr von Frauen zu überwinden. Allerdings färbt die emotionale Dringlichkeit die letzten Sätze dieses ersten Teiles schon ein: „con questa e quella / vo’amoreggiar. / Ah la mia lista / doman mattina / d’una decina / devi aumentar“ (Ich will inzwischen mit dieser oder jener das Liebesspiel betreiben. Ah, meiner Liste musst du morgen ein Dutzend hinzufügen). In den Wortverdopplungen des zentralen Zieles kündigt sich schon die von Sigmund Freud Perseveration genannte Fixierung auf die emotional drängendsten Vorstellungen an: „Ah la mia lista doman mattina d’una decina devi aumentar, d’una decina devi aumentar, d’una decina devi aumentar, devi aumentar, devi aumentar, devi, devi aumentar.“ So endet die Arie und es ist unschwer zu begreifen, was das drängendste Bedürfnis Don Giovannis ist.
Diese psychische Gemengelage deutet auf eine Krise bzw. einen krisenhaft zugespitzten Problemlösungsversuch hin. Auf subtile Weise unterstreicht auch die rhythmische Struktur des musikalischen Hauptthemas der Arie diese Krise Don Giovannis. Herausragendes strukturelles Merkmal ist die Folge von Daktylus (1. Takt) und Anapäst (2. Takt). Ohne hier vertiefend darauf eingehen zu können, ist es aufschlussreich, dass Thrasybulos Georgiades den Daktylus als Spannung zwischen Vorwärtsdrängen und Stehenbleiben begreift, während der Anapäst umgekehrt ein Zurückprallen signifiziert. Das Zweitakt-Modul trägt mithin in sich eine Semantik von versuchtem Aufbruch und sofortigem Zurückfallen auf den Ausgangspunkt durch die gegenrhythmische Energie des Anapäst. Zu bemerken ist ein Auf-der-Stelle-Treten, kein Raumgewinn, auch melodisch kehrt das Modul zum jeweiligen Ausgangston zurück, ein Wiederholungszwang des Immer-Gleichen. In diesem Sinn kann das Modul als „typologische Motorik“ Don Giovannis verstanden werden und damit als Symbol seines grundsätzlichen Ausgeliefertseins an die Stagnation quälender Langeweile, die als Grundübel den Adel des Ancien régime umtreibt (das Problem der Melancholie, das auf dem literarischen Markt der Epoche Hochkonjunktur hat).
ERKUNDUNG PSYCHISCHER TIEFENBEZIRKE
Mit diesen Formentscheidungen Mozarts, die mit der rhythmopoetischen Figur von Daktylus und Anapäst in die Musik hineinreichen, wird Einsicht in konstitutionelle Eigenschaften Don Giovannis ermöglicht. Die umfassendere musikalische Formung der Arie erweitert und vertieft das situative Handeln, Imaginieren und Sprechen Don Giovannis in die psychischen Tiefenbezirke hinab. Hier liegen die Deformationen, mal schlafend, mal hochfahrend, die in libidinösen Phantasien und aufgesetzt guter Laune abzuwehren Don Giovanni sich bemüht. Es greift der Satz von Carl Gustav Jung, dass das Unbewusste, wenn es ignoriert wird, sich als Schicksal manifestiert. Dies wird verständlicher, wenn man die musikalische Form der Arie bedenkt. Die Musikwissenschaft schweigt sich dazu weitgehend aus. Der Vorschlag einer Rondoform ist abwegig. Ich plädiere mit guten Gründen (ich verweise auf die Presto-Tempovorschrift, die alta-capella-Stimmführung, die daktylische Struktur), die in diesem Beitrag darzustellen den Rahmen sprengte, für die von Ernesto de Martino so benannte „rituelle Tarantella“, also die über Jahrhunderte tradierte Form des Expiationsrituals und Exorzismus des apulischen Tarantismus. Im Regelwerk des esorcismo wird festgehalten, dass der Ursache die Lösung der Krise mit je entsprechenden Rhythmen, Melodien, Dynamiken, Tempi und Instrumenten adäquat sein muss. Jede individuelle Krise bedarf des auf das Individuum abgestimmten „Tones“. Alles, was überwunden werden soll, wird damit zugleich ins Bewusstsein gehoben. Es sollte ernst genommen werden, dass Don Giovanni im Vorfeld seine Krise im Wirken eines Dämons begründet sieht. Die ganze Arie handelt von äußerer (die Organisation des Festes), aber vor allem innerer Problemlösung.
Dies leistet Mozarts musikalische Ausformung weitab von der Eindimensionalität eines sich selbst feiernden Élan vital, indem sie sowohl den Abstieg in die dunklen Schächte der Seele, ein Erkenntnisangebot an die Person, wie auch den orgiastischen Prozess der Krisenauflösung in der Flucht aus der Selbsterkenntnis in das Wahnbild der decina ausformt – auch hier in einer deutlichen Zweiteilung der Arie parallel zur sprachlichen Struktur. Die Arie sieht in den Anweisungen an Leporello folgende Vorgehensweise vor: zunächst soll Leporello auf den Straßen und Plätzen Mädchen auftun („se trovi in piazza qualche ragazza“) und diese mit sich führen („teco ancor quella cerca menar“), wobei Mozart diesen letzten Satz in einen vollständigen chromatischen Quartgang setzt (c-h-b-a-as-g, den sog. passus duriusculus, von der musikalischen Rhetorik descensus, Abstieg, genannt), der in der europäischen Musiktradition seit der niederländischen Polyphonie Schmerz, Drangsal, Verhängnis, aber auch Seelenabstieg symbolisiert: Leporello einerseits als Reigenführer des Totentanzes, der die Frauen Don Giovanni ausliefert; andererseits die Selbsterkenntnismöglichkeit Don Giovannis, die er hier noch verweigert. Und auch die Tänze (minuetto, follia und alemana, die Curt Sachs alle als ehemalige erotische Werbetänze ausweist), die ausdrücklich „senza ordine“ sein sollen, erfahren eine Verdunkelung in einem nicht ganz zu Ende geführten Passus c-h-ba-g, Dies sind die von Mozart damit schon eindeutig konnotierten organisatorischen Zurichtungen für den bereits erwähnten Hauptzweck des „amoreggiar“.
PANISCHES TREIBEN
Von Mozart wird dieser verbale Höhepunkt in ein fatales b-Moll gesetzt, dem Christian Friedrich Daniel Schubart suizidalen Charakter zuschreibt. Im b-Moll des „amoreggiar“ öffnet die Arie einen Einblick in die gelebte Hölle Don Giovannis, „denn in der Hölle regiert der lähmende Wiederholungszwang der ewigen Wiederkehr des Immergleichen.“ (Sibylle Lewitscharoff). Don Giovanni aber „rettet“ sich aus den Aufforderungen zur Selbstwahrnehmung und der b-Moll-Charakterisierung seines Tuns in die rasende Manie der decina, die von der Rezeption immer einseitig als überschäumende Lebensfreude wahrgenommen wurde. Ja, ab hier herrscht nur noch der B-Dur-Taumel, der allerdings in den jetzt zahlreichen fortepiano-Stößen des Orchesters, zunächst zweitaktig angeordnet, dann taktweise sich verdichtend, die innere Bereitschaft zur Gewalt offenbart, in der imitativen Vorwegnahme der sexuellen Akte, aber auch alsGewalt gegen sich selbst im Herbeizwingen einer erwünschten Realität, bis zur Klimax der Vergewaltigung, derer sich Zerlina kurz danach erwehren muss. Ivan Nagel resümiert zu Recht. „Man beklatscht die B-Dur-Arie ob ihrer Lebensfreude – und überhört, wie sich in Rhythmus und Klang ein panisches Treiben roh unter dem Elan der Worte durchsetzt.“
Mozarts Musik problematisiert ganz offensichtlich die Gefährdungen eines Bewusstseins, das die (V)Erklärung eines depravierten Lebensstiles zum richtigen Leben mit aller Gewalt, auch gegen aufsteigende seelische Impulse, durchsetzen will, indem er mit seinen kompositorischen Entscheidungen dieses Bewusstsein in dieser Arie in seiner Totalität entfaltet und es dann bis in die nekrophilen Extreme des Verhaltens Don Giovannis im Verlauf der Oper darstellt – allerdings, und das zeigt die geistige Höhe Mozarts, ohne finale Verdammung zur Hölle, vielmehr in der Öffnung eines Horizonts personaler Verwandlung. Müsste Mozarts Kunst nicht im Sinne des geschickten Fragenstellers Sokrates mäeutisch genannt werden?
Gerd Michael Herbig nahm während der Internatszeit in Salzburg Violinunterricht bei Alfred Letizky; ein Violinstudium bei Antonio Mingotti schloss sich an. Parallel dazu Musik-, Literatur-, Philosophie-, Soziologie- und Geschichtsstudium in Heidelberg und München. Herbigs lebenslange intensive Beschäftigung mit Mozarts Don Giovanni mündete in seiner monumentalen Monographie Mozarts Dramma giocoso Don Giovanni. Diese sehr ernsten Scherze und die Denkwelt des 18. Jahrhunderts.