EIN RÄTSEL

Gedanken von Krzysztof Warlikowski zu Káťa Kabanová

Zusammengetragen von Christian Longchamp

Foto von Ilona Panych

 

„Vöglein kommen ans Grabmal, bringen ihre Jungen mit, und Blümchen blühen, rote Blümchen, blaue Blümchen, gelbe Blümchen.“
– Káťa

Unter dem Bild einer glücklichen Gemeinschaft an den Ufern der Wolga verbirgt sich eine klebrige Schicht: die der ungesunden Beziehungen. Da gibt es Unausgesprochenes, das zu sagen zu schändlich wäre, boshafte Scheinheiligkeiten, Geheimnisse, die vergessen werden wollen, uralte Eifersüchte, reflexhafte Zurückweisungen, eine erdrückende Last an Banalem, vor der so mancher zu fliehen versucht: in den Alkohol, in den Sex, ins Anderswo.

Es gibt eine krankhafte Perversität in der Familie der Kabanovs.

Káťa hat ihren Platz in dem System nicht eingenommen. Sie ist eine Fremde. Káťa lebt in einer Parallelwelt, sie lebt in ihrer eigenen Welt. Sie ist doppelt fremd.

„Ich meine, warum die Menschen nicht fliegen, warum sie nicht wie Vögel fliegen. Weißt du, ich träume manchmal, ich wäre ein Vogel.“
– Káťa

Was will Káťa in dieser Gemeinschaft? Wo kommt sie her? Wir erfahren nicht, wie sie und Tichon sich kennengelernt haben. Wir haben sogar Mühe, es uns auszumalen. Was verbindet die beiden? Als entstellte eine Unschärfe unseren Blick auf beide Charaktere, ein Mysterium; als gäbe es da noch ein Hinterland. In dieser Hinsicht ist die Oper sehr modern. Es geht nicht darum, alles mitzuteilen, alles auszusprechen. Als wollte Janáček auf diese Weise etwas besonders hervorheben, nämlich genau jenen Teil in uns allen, der unerklärt bleibt – wie man es oft in Filmen vorfindet, in einigen von Michelangelo Antonioni oder Robert Bresson, sowie in den Büchern von Marguerite Duras. Káťa bleibt ein Rätsel.

Sie spricht von mystischen Krisen, die sie als Kind hatte und die ihr erlaubten, Zustände von unvergesslicher Glückseligkeit zu erreichen. Orgastische Zustände.

„Ich ging furchtbar gerne in die Kirche. Mir war, als würde ich ins Paradies hinaufsteigen. Ich sehe niemanden, höre niemanden, nehme die Zeit nicht wahr, auch nicht, wenn der Gottesdienst endet.“
– Káťa

In dieser Hinsicht gleicht Káťa der Heldin aus Breaking the Waves von Lars von Trier. In diesem Film frönt die junge Bess einer Gewohnheit, die sie sich zweifellos als Kind angeeignet hat und die darin besteht, Dialoge im Flüsterton mit Gott zu führen, abwechselnd ihren eigenen Part, dann den Part Gottes sprechend.

Zweifellos ist sie in einer religiösen Gemeinschaft aufgewachsen, die ihr ihren Stempel aufgedrückt, die ihr ein psychologisches und soziales Gerüst auferlegt hat, welches Káťa bis heute mit sich herumträgt.

Aus welchen Gründen verliebt sich Káťa in Boris? Ist es die Begegnung mit einem Mann, der einen völligen Kontrast zu ihrem Ehemann darstellt? Dessen Stil und Vorlieben sie zudem ihren Alltag vergessen lassen? Mit einem sexuellen Begehren, das ihrer Frustration etwas entgegenzusetzen weiß?

Ist es die Suche einer geknickten Frau nach jenem Zustand der Freude und Erfüllung, den sie als Kind empfunden hat?

„Und weißt du – an sonnigen Tagen, wenn von der Kuppel ein Lichtstrahl fiel und darin Wolken von Weihrauch wallten, geschah mir’s, dass ich in dem Lichtstrahl Engel fliegen sah, die sangen. Und ich falle auf die Knie und weine, und ich weiß selbst nicht, warum ich bete und weine.“
– Káťa

Ja, es gibt einen Teil Wahnsinn in ihr.

Káťa gesteht am Ende, worüber zu schweigen ihr Mann sie angehalten hatte.

Mir fällt es schwer zu erraten, ob Káťa bereits vor ihrer Bekanntschaft mit Boris einen Hang zum Suizid in sich trug, oder ob es erst die Begegnung mit ihm war, mitsamt den Folgen, dieser Sackgasse und dem Gefühl, Verrat begangen, gesündigt zu haben, die sie aus Verzweiflung in den Suizid treiben.

Es gibt ein Ungleichgewicht zwischen dem, was sie als Kind erlebt hat, und ihrem Jetzt.

Man könnte die Oper auf diese Beschreibung beschränken: „Ein paar Tage im Leben einer Frau“ oder „Es war einmal eine Frau“.

Der Fluss und das Wasser sind ein zentrales Element. Der Fluss ist der Ort, an dem man die Welpen ertränkt. Der Fluss ist auch der Grund für Katastrophen durch Überschwemmungen oder andere Szenarien, in denen er sein Bett verlässt. Der Fluss steht für die Schönheit und die Gefahr, das Verschwinden. Es gibt ein dunkles Leben in diesem Fluss. Ein verlockendes Leben vielleicht. Ein Verschwinden in der Natur.

„Als sähe ich goldene, hohe Kathedralen und Berge und Bäume, und mir war, als würde ich fliegen, hoch oben fliegen, und überall singen unsichtbare Stimmen.“
– Káťa

Der Suizid durch Ertrinken erinnert an den Suizid Ophelias in William Shakespeares Hamlet.

Die Oper ist auch die Erzählung vom Schicksal einer Frau, die es nicht schafft, die Unvereinbarkeit zu überwinden zwischen dem, was sie empfindet, und dem, was sie in ihrer Erinnerung und auch in ihrem Körper trägt; zwischen der in ihrer Kindheit empfundenen Harmonie und diesem fundamentalen Widerspruch, in dem sie sich heute zu ihrer Umgebung sieht.

Die eigentliche Intrige steht an zweiter Stelle, im Vordergrund hingegen sehen wir das Porträt einer Frau, die diese Welt, nunmehr erwachsen geworden, nicht bewohnen kann, die überwältigt wird vom Heimweh nach ihrer Kindheit, einer Kindheit in Gott.

Aber könnte nicht alles, was Káťa über ihre Kindheit erzählt, eine Lüge sein? Könnte sie nicht auch in einem traurigen und strengen Waisenhaus groß geworden sein, während sie sich eine imaginäre, verzauberte Welt zusammensponn, die es ihr erlaubte, den Alltag zu überleben?

Manchen Situationen begegnet Káťa mit einer zu großen Leichtigkeit, anderen mit zu großer Schwere.

Weiß sie, was Begehren ist, wenn sie ihm nachzugeben beginnt? Hat sie vor Boris schon einmal verliebte und sexuelle Leidenschaft erlebt?

„Ich kann nicht schlafen. Ständig klingt mir so ein Flüstern in den Ohren. Jemand spricht mit mir so liebenswürdig, so wie wenn eine Taube gurrt, so als würde er mich innig umarmen, innig und glühend, so als würde er mich irgendwo hinführen …“
– Káťa

Janáček nimmt uns mit an einen Ort, wo die Kraft der Emotion, des Glücks während einer mystischen Krise einem sexuellen Orgasmus sehr ähnlich ist. Ganz wie Gian Lorenzo Berninis Skulptur Verzückung der heiligen Theresa: spirituell und sinnlich.

Mutterschaft ist in dieser Geschichte kein Thema. Eigenartig, da doch Káťa und ihr Ehemann ein junges, verheiratetes Paar darstellen.

Janáčeks Werk ist die Umwandlung eines realistischen Dramas durch Musik.

Es ist die Chronik eines angekündigten Todes. Káťas Tod ist Tagesgespräch. Das ist im Grunde die Banalität dieser Geschichte. Aber da gibt es eben Káťa. Damit ist das Banale sublimiert.

„Wenn sie mich nur nehmen und in die Wolga werfen würden!“
– Káťa

Die Kastrationsangst hervorrufende Figur der Schwiegermutter, die unterwürfigen und machtlosen Züge des Sohnes – und dieser Mann Boris, der Gebildetste von allen. Káťa Kabanová oder die Geschichte eines Mannes aus der Großstadt, der seinen Urlaub auf dem Dorf verbringt und Unheil in eine Familie bringt, in der die Beziehungen toxisch sind.

Lulu von Alban Berg und Janáčeks Káťa Kabanová sind etwa zur gleichen Zeit entstanden. Lulu wurde vom Leben erzogen – das ist ihre Stärke. Káťa hingegen wuchs in einer religiösen Gemeinschaft auf, deren Tendenz zu Verschlossenheit, Angst und Schuld sie in ihrer persönlichen Gemütslage bestärkt hat.

Janáčeks Musik ist wirkungsmächtig. Sie ist nicht monumental. Das ist eben nicht Dmitri D. Schostakowitsch, der mit seiner Musik die Gesellschaft beschreibt. Hier wird die Zerbrechlichkeit einer Frau ins Zentrum gerückt.

Tangokurse gehören in den Bereich jener zeitgenössischen Krankheit, die die Leute dazu drängt, Teil einer Gemeinschaft sein zu wollen. Der Tango ist ein Fantasiebild von Harmonie. Zwei Körper. Eine Umklammerung. Eine vorgetäuschte Leidenschaft. Erst diese Körper beim Tanzen zu beobachten, hat Káťa womöglich dazu animiert, einen anderen Körper zu berühren, ihn an sich zu drücken, zu umarmen.

Kurz vor ihrem Tod bleiben nur Trümmer von Realem und von Emotionen übrig. Der Kopf zerspringt. Der suizidale Zustand wird nun von innen betrachtet. Gespenster erscheinen.

„Warte, warte, was wollte ich dir sagen …“
– Káťa

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Krzysztof Warlikowski

Krzysztof Warlikowski gab sein Regiedebüt 1992 an der Krakauer Theaterhochschule mit Fjodor M. Dostojewskis Weiße Nächte und Elias Canettis Die Blendung. Seit 2008 ist er Künstlerischer Leiter des Nowy Teatr in Warschau. Mit diesem Ensemble schuf er Inszenierungen wie (A)pollonia, Koniec/Das Ende, Afrikanische Erzählungen, Kabaret warszawski/Warschauer Kabarett, Die Franzosen und kürzlich Elisabeth Costello. Als Opernregisseur war er an der Warschauer Nationaloper, an der Opéra national de Paris, am Théâtre royal de la Monnaie in Brüssel, am Royal Opera House Covent Garden in London sowie bei den Salzburger Festspielen tätig. 2013 wurde er zum Commandeur des Arts et des Lettres ernannt und 2021 in der Theatersparte der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk geehrt. An der Bayerischen Staatsoper inszenierte er Eugen Onegin, Die Frau ohne Schatten, Die Gezeichneten, Salome, Tristan und Isolde und Dido and Aeneas … Erwartung sowie Le Grand Macabre.
 

Christian Longchamp

Christian Longchamp studierte Kunstgeschichte und Philosophie in Genf und an der Sorbonne in Paris. Er war Kurator am Auditorium des Louvre, künstlerischer Berater, Dramaturg und Leiter der Publikationen am Opernhaus La Monnaie in Brüssel und Dramaturg und Leiter der Publikationen an der Opéra national de Paris. Er war künstlerischer Berater von Eva Kleinitz an der Opéra national du Rhin in Straßburg, u. a. verantwortete er dort als Kurator das multidisziplinäre Festival Arsmondo. Neben seinen Arbeiten mit Krzysztof Warlikowski und Romeo Castellucci veröffentlicht er Texte über europäische Kultur, Geschichte und Politik.

Káťa Kabanová