Family matters!
Vom Gehen und Bleiben im Mikrokosmos des Familialen
Melanie Unseld
Foto von Annie Spratt
Vom Gehen und Bleiben im Mikrokosmos des Familialen
Melanie Unseld
Foto von Annie Spratt
„Haben wir kein Salz, sagte Johannes beim Abendessen, sagte es genau so: Haben wir kein Salz, und nicht einmal in Helenes Richtung. Sie hört das Du in seiner Formulierung, hört: Hast du es vergessen, hört: Du hast doch gekocht, hört: Stehst du noch mal auf, und alle diese Dus schlagen ihr die Kraft aus dem Körper. […] Sie erhebt sich, und niemand achtet darauf, weil sie denken: Sie hat es vergessen, sie hat doch gekocht […]. Sie ist mit drei Schritten vom Abendbrottisch bei der Balkontür, öffnet sie, schaut nicht zurück, macht noch zwei weitere Schritte. Und dann diesen einen.“
Mit diesem Schritt stürzt sich Helene vom Balkon in den Tod. Und mit diesem Suizid beginnt Mareike Fallwickls Roman Die Wut, die bleibt. Der Suizid findet am Ende der ersten Seite des Romans statt, als könnten die lesenden Augen Helenes Sturz vom Beginn des Textes oben auf der Seite – „Haben wir kein Salz“ – bis zum Sturz unten in der letzten Zeile mitverfolgen. In dieser letzten Zeile ist Helene tot: „Und dann diesen einen.“ Die Szene ist kurz, lakonisch, ohne Pathos, und zugleich der Nukleus des Romans, der nicht nur auf die Suche nach den Gründen für den Suizid geht, sondern insbesondere auch die Welt beleuchtet, die nach Helenes Tod übrigbleibt: eine Familie ohne Mutter, ein Ehemann ohne Ehefrau, eine Freundin ohne ihre beste Freundin … Helene geht, alle anderen bleiben.
GEHEN ODER BLEIBEN?
Der Roman Die Wut, die bleibt erfuhr 2022 bei seinem Erscheinen große Resonanz. Er stellt den Suizid einer Frau ins Zentrum, und reiht sich damit in die Vielzahl an Literatur über Frauen ein, die durch ihren selbstgewählten Tod aus dem Gefängnis ihrer bürgerlichen Existenz ausbrechen. Denn als eine solche hatte Helene ihre Existenz begriffen: die drei Kinder mit ihren nie enden wollenden Bedürfnissen, die ihr keine Zeit zum Atmen lassen, der Ehemann, der sich in Arbeit entzieht, die alltäglichen Rahmenbedingungen im pandemisch erzwungenen Lockdown … Für Helene ist der Suizid der einzige Weg nach draußen, das Gehen – „diesen einen“ Schritt zu tun – ist ihre Gegenbewegung zum Bleiben. Und wie für Helene das Bleiben nicht mehr möglich war, wird es für die hinterbliebenen weiblichen Figuren des Romans zur Aufgabe: Was bleibt Lola, ihrer Tochter, und Sarah, ihrer Freundin, übrig? Sarah sucht das, was von Helene bleibt, in deren Familienwelt, sucht Helenes Spuren zwischen den Alltagssorgen der Familie. Lola hingegen erkennt, dass es die Wut ist, die ihr bleibt: nicht die Wut auf ihre Mutter, die sich aus der Verantwortung gezogen hat, sondern auf die Bedingungen, die ihre Mutter zum Suizid brachten. Aus dieser Wut heraus wird Lola schlussendlich den Mut fassen zu gehen.
Vom Gehen und Bleiben ist auch in Leoš Janáčeks Oper Káťa Kabanová von Anfang an die Rede. Und es ist interessant mitzuverfolgen, wer in Alexander N. Ostrowskis Drama, auf dessen Grundlage der Komponist das Libretto selbst verfasste, geht und wer bleibt. Vor allem ist auch die Beobachtung wichtig, wer frei ist in dieser Entscheidung. Von der Generation der Alten (Kabanicha und Dikoj) geht niemand. Sie stehen für das, was immer schon war: Tradition, Ehre, Moral und das ökonomische Funktionieren der beiden Kaufmannsfamilien. Beide sind diejenigen, die für Stabilität sorgen, sie sogar erzwingen, und beide sind diejenigen, die andere zum Gehen oder Bleiben nötigen. Tichon, Kabanichas Sohn, muss gehen, weil seine Mutter ihn wegschickt („nach Kasan zum Markt, wo der Vater immer hinfuhr“). Und Boris, der zunächst bleibt, um sein Erbe zu bekommen, wird schlussendlich ebenfalls weggeschickt: „Der Onkel jagt mich fort bis nach Sibirien. Ins Geschäft nach Kjachta!“ Tichon und Boris, so unterschiedlich die beiden Männer sind, entscheiden nicht selbst, sondern werden in ihren Bewegungen dirigiert. Sie müssen gehen, weil die Geschäfte rufen, weil es schon immer so war, vor allem aber: weil Kabanicha und Dikoj es ihnen so befehlen.
Káťa hingegen will von Anfang an weg. Sie, deren Schritte beständig von ihrer Schwiegermutter überwacht werden, träumt vom Fliegen: „Weißt du, was mir einfiel?“, fragt sie Varvara. „Warum die Menschen nicht fliegen. […] Weißt du, ich träume manchmal, ich wäre ein Vogel. Es lockt mich so, zu fliegen! Ich will’s probieren!“. Dieser Traum vom Fliegen, mit dem sich Káťa gleich zu Beginn des zweiten Bildes im ersten Akt vorstellt, mündet in ihre große Vision von hohen, lichtdurchfluteten Kathedralen und Wäldern. Nichts wäre weiter von der kleinen Nische im Haus der Kabanovs entfernt, in der Káťa tatsächlich ihren Alltag verbringt. Nichts verweist deutlicher auf ihren kommenden Suizid. Varvara hingegen ist bodenständig. Sie weiß, dass Träumen nicht hilft. Stattdessen nimmt sie ihr (Liebes-)Schicksal selbst in die Hand. Als Kudrjáš ihr die gemeinsame Flucht vorschlägt, überlegt sie nicht lange:
Varvara: Fliehen?
Kudrjáš: Zur Hauptstadt, Mütterchen Moskau?
Varvara: In ein neues, fröhliches Leben!
(Sie laufen schnell davon.)
Káťa hatte sowohl Tichon als auch Boris gebeten, sie auf ihre Geschäftsreisenmitzunehmen. Doch beide, der Ehemann und der Liebhaber, verweigern ihr dies, obwohl Káťa Boris sogar versichert: „Bis ans Ende der Welt ginge ich mit dir!“ Und weil ihr das Weggehen verwehrt wird, nimmt sie Zuflucht zu jenem „Fliegen“, von dem sie bereits geträumt hatte: „Es ist so still, so schön! So schön! Und ich muss sterben!“ Diese Bewegungsmuster in Káťa Kabanová sind bezeichnend. Im Gehen und Bleiben spiegelt sich die Beziehungs- und Machtstruktur des Dramas: Wer darf oder will gehen, wer wird dazu gezwungen? Wer bleibt, aber will gehen? Und wer bestimmt wessen Bewegungsrichtung? Gerade letztere Frage lässt die Frage der Macht ganz offen zutage treten. Woher aber nehmen Dikoj und die Witwe Kabanicha ihre Autorität?
FAMILY MATTERS!
Savjol Prokofjevič Dikoj ist Kaufmann in einer russischen Kleinstadt. Der Ehemann von Marfa Ignatěvna Kabanová war dies ebenfalls, doch er ist bereits verstorben, die Kabanicha, wie Marfa Kabanová genannt wird, ist seine Witwe. Was Dikoj und die Kabanicha verbindet, ist nicht nur ein wenig geheim gehaltenes Verhältnis, sondern auch ihre Machtposition in der Stadt wie in ihren jeweiligen Familien: „Es gibt keine Älteren über dir“, sagt Kabanicha zu Dikoj, „darum bist du so dreist!“ Beide stehen als unangefochtenes Oberhaupt ihren beiden Familien vor. Diese sind – noch weithin typisch auch für das 19. Jahrhundert – im Sinne einer vormodernen Haushaltsfamilie aufgestellt, in der nicht nur die Kernfamilie zusammenlebt (Eltern und Kinder, möglicherweise auch Großeltern), sondern auch weitläufige Verwandtschaft, Pflegekinder, Hauslehrer und Hausangestellte, das Gesinde, die Dienerschaft, Mägde und andere mehr. Varvara etwa ist eine Pflegetochter im Hause Kabanov, also eine in der Familie Aufgenommene ohne verwandtschaftliche Verbindung. (Dass Janáček solche Konstellationen faszinierten, hatte er bereits in Jenůfa gezeigt, jener Oper, in der die Hauptfigur eine solche Pflege- bzw. Ziehtochter ist, weswegen der Originaltitel auch Její pastorkyňa, also Ihre Ziehtochter, lautet.)
Gleich ob bäuerlich oder bürgerlich geprägt, gleich ob im Handwerk, als Kaufleute oder in bürgerlichen Berufen tätig, gleich ob auf dem Land oder städtisch, gleich ob vermögend oder arm – solcherart Haushaltsfamilien garantierten im gesellschaftlichen System der vorkapitalistischen Zeit soziale, ökonomische und moralische Stabilität. Auf diese konnten sich alle verlassen, die unter einem Dach zusammenlebten. Gemeinsames Wirtschaften gehörte ebenso dazu wie die Unterwerfung unter die Herrschaft des Haushaltspaares. Dieses hatte weitreichende Pflichten und Befugnisse: Der Hausvater – und in Vertretung auch die Hausmutter – traf alle Entscheidungen, von Anschaffungen und Wohnverhältnissen, Alltagsgestaltung und Arbeitsaufteilung über ethisch-moralische Fragen, Bestrafungen, Erziehung und religiösen Praktiken bis hin zu Entscheidungen über die Heiratspolitik innerhalb des ganzen Haushalts. Eine derart geballte Machtbefugnis über alle im Haus wurde dann an die nächste Generation weitergegeben, wenn das ehemals mächtige Haushaltspaar verstarb oder sich auf das Altenteil zurückzog. Soweit das Modell.
Doch die Lebensrealitäten waren durchaus komplizierter, wie der Historiker Joachim Eibach betont: Die realen Verhältnisse seien immer wieder durch äußere und innere Konflikte, Hindernisse und Notlagen bedroht gewesen. Eibach spricht daher auch von „fragilen Familien“ und beschreibt deren grundlegendes Interesse, sich durch Statusgewinn, Habitus und ökonomische Absicherung vor dem „Verfall einer Familie“ zu schützen. Mit diesem sprechend-lakonischen Untertitel hatte Thomas Mann 1901 seinen Roman Buddenbrooks versehen, der einen solchen genealogischen, ökonomischen und moralischen Niedergang einer Handelsfamilie schildert. Dem Hausvorstand oblag damit die ständige Sorge um ökonomische Prosperität und moralische Integrität. Vice versa konnte er mit gleichen Argumenten seine Machtbefugnisse überdehnen oder auch überschreiten. Und genau davon ist in den Familien Dikoj und Kabanov die Rede: Dikoj etwa lässt seine Aggressionen an seinem Neffen Boris aus. Dieser gehört zwar zur eigenen Verwandtschaft, die gleich zu Beginn der Oper (im ersten Bild des ersten Aktes) ausführlich vorgestellt wird. Doch Boris hat innerhalb der Familie eine schwache Position, denn seinem Vater lässt sich im Sinne der Haushaltsfamilie Fehlverhalten vorwerfen: Er wählte sich seine Ehefrau selbst aus, und obwohl diese adelig (und damit von höherem Stand) war, entzog sich Boris’ Vater mit dieser Liebesheirat dem familialen Machtgefüge. („Familial“ bezeichnet in diesen Zusammenhängen die Struktur jener Gruppe, die als Familie gedacht ist, ein soziologischer Begriff in Abgrenzung zum Adjektiv „familiär“, das laut Duden auch Bedeutungen wie „ungezwungen“ oder „(allzu) vertraulich“ meinen kann.) Boris und seine nicht in der Oper auftretende Schwester müssen für diesen Regelverstoß büßen, indem Dikoj ihnen unter fadenscheinigen Argumenten ihr Erbe vorenthält und er als Hausvorstand über seinen Neffen uneingeschränkt bestimmen kann: Dikoj schikaniert Boris regelmäßig und schickt ihn schließlich als Handelsvertreter des Hauses nach Sibirien.
Auch in der Familie Kabanov lässt sich eine in ihrer Fragilität geradezu prototypische Haushaltsfamilie erkennen: Der männliche Hausvorstand ist bereits verstorben, die Witwe nimmt als Stellvertreterin dessen Rolle ein und herrscht uneingeschränkt über die Familie. Dass sie nicht gedenkt, ihre Macht an ihren Sohn Tichon und die Schwiegertochter Káťa weiterzugeben, wird bei jedem ihrer Auftritte deutlich. Sie demütigt die Schwiegertochter, maßregelt den Sohn und sorgt dafür, dass zwischen Tichon und Káťa nicht das entstehen kann, was die Familienstruktur bedrohen könnte: Liebe. Tichon flüchtet sich in den Alkohol, Káťa entzieht sich durch Suizid. Die Nachfolge ist damit unmöglich – und die Kabanicha bleibt Familienvorstand. Im letzten Moment der Oper wird ihre ebenso eiserne wie eisige Machtfülle überdeutlich: Ohne jede emotionale Regung vollzieht sie das Ritual der Trauerbezeugung, sie dankt den Umstehenden, die die emotionale Kälte kaum fassen können: „Die Menge blickt mit Grauen auf die Leiche. Kabanicha verbeugt sich nach allen Seiten“, heißt es in der letzten Regieanweisung. Warum aber würde eine „echte“ Liebe zwischen Tichon und Káťa die sorgsam bewahrte Struktur der Familie Kabanov stören? Ist Liebe nicht deren eigentlicher Kitt?
LIEBE ALS STÖRFAKTOR
Folgt man den Gedanken der Soziologin Eva Illouz, ist die sogenannte „romantische Liebe“ im Zusammenhang mit Ehe und Familie ein Phänomen der Moderne. Dieses Phänomen, so schreibt Illouz, ging „mit der Hervorbringung eines reflexiven emotionalen Selbst einher, eines Selbst, das sich und seine Identität in erster Linie in emotionalen, um die Bewirtschaftung und Bekräftigung seiner Gefühle kreisenden Kategorien definierte“. Die Figur der Káťa ist eine prototypische Vertreterin eines auf diese Weise modernen Subjekts: Sie reflektiert immer wieder über sich selbst – von der ersten großen Traum-Vision des Fliegens über das Gespräch mit Tichon vor dessen Abreise bis hin zu den Gedanken vor ihrem Suizid. Immer denkt sie über sich selbst und ihre Identität nach: Wer war ich, bevor ich in das Haus Kabanov kam? Woher komme ich? Wer bin ich und warum bin ich so, wie ich bin? … Und weil Káťa beständig auf der Suche nach der eigenen Identität ist, sucht sie die Liebe im Gegenüber. Doch ihr Ehemann Tichon kann, da er sich aus dem Machtgefüge der Familie nicht zu lösen vermag, ihr nicht als emotionales Selbst gegenüberstehen, sondern nur in seiner familialen Funktion, gehorsamer Sohn der Kabanicha zu sein. Und selbst Boris kann sich nicht ausreichend aus dem Gestrüpp familialer Beziehungen lösen. Er wird die Kleinstadt verlassen, ohne Káťa mitzunehmen. Denn er geht – anders als Varvara und Kudrjáš – nicht in die Freiheit, sondern an einen anderen, von der Familie vorgesehenen Ort.
Doch wie steht es um Káťas „Bewirtschaftung und Bekräftigung“ der eigenen Gefühle? Ihre erste große Szene (im zweiten Bild des ersten Aktes) kreist um die religiöse Ekstase, die sie schon als Kind erlebte und die ihr einen großen emotionalen Freiraum gewährt. Janáček griff kompositorisch hier auf seine rund 20 Jahre früher entstandene Kantate Amarus zurück, in der der junge Mönch Amarus sich in einer ähnlich ekstatischen Vision im Grenzland zwischen Religion, Pantheismus und Sinnlichkeit bewegte – und starb. Káťas ekstatische Zustände werden innerhalb der Familienordnung zwar als überspannt wahrgenommen, aber immerhin lassen sie sich als religiöse Praxis camouflieren. Zugleich kann Káťa – anders als Varvara – die Grenzüberschreitung, die sie in dieser Ekstase erlebt, nicht annehmen. Die Last der Schuld, die sie dabei empfindet, ist zu groß. Anders gesagt: Káťa ist zwar als modernes Subjekt erkennbar, doch den Kern dieser Idee versagt sie sich: die eigene Wahl. „Die Wahl ist das entscheidende kulturelle Kennzeichen der Moderne“, so Illouz, „weil sie […] den Gebrauch nicht nur der Freiheit, sondern auch von zwei Vermögen verkörpert, die den Gebrauch der Freiheit rechtfertigen, nämlich jener der Rationalität und der Autonomie“. Die freie Wahl des Partners oder der Partnerin steht daher im Zentrum der Idee der modernen Liebe. Boris’ Vater hatte sich dafür entschieden – und den Ausschluss aus der Familie damit in Kauf genommen. Káťa gelingt dieser emanzipatorische Schritt nicht. In der zentralen nächtlichen Szene, in der sie Boris begegnet, sprechen die beiden Liebenden über den freien Willen und die Frage der freien Partnerwahl:
Boris: Ihr Wille!
Káťa: Da ich mein Zuhaue verließ, in der Nacht zu dir kam, habe ich keinen freien Willen! Hätte ich einen freien Willen, wäre ich nicht zu dir gekommen! […] Dein Wille herrscht über mich.
Auch wenn das Libretto so eindeutig nicht ist – immerhin geht Káťa selbst den Weg in den Garten, wo sie Boris trifft, nimmt den Schlüssel in die Hand, entscheidet sich für die Begegnung mit Boris –, nimmt sich Káťa selbst als in der Wahl unfrei wahr. Auch deswegen kann sie jenen Regelverstoß nicht annehmen, den, so Peter von Matt, alle „Treulosen in der Literatur“ unternehmen: „Wer unbedingt liebt, setzt sich über gleich welche Konventionen hinweg, verletzt Gesetze, zerstört die Ordnung.“ Doch Káťa tut dies ebenso wenig wie Boris. Beide unterwerfen sich der Familienordnung – mit allen Konsequenzen. Dass Káťa keine Wahl trifft, wird in diesem Moment umso deutlicher, als in der gleichen Liebesszene ein anderes Liebespaar auftritt, Varvara und Kudrjáš, die gewissermaßen den Ausblick darauf geben, wie das moderne Subjekt als wählendes Subjekt agieren kann: Die Volkslieder, die Varvara und Kudrjáš als Wechselgesang anstimmen, thematisieren das weibliche Subjekt als autonom, als selbst wählend. Und es sind auch Varvara und Kudrjáš, die die Rahmenbedingungen der nächtlichen Szene im Blick behalten – während sich Káťa und Boris in Zeit und Raum verlieren. Rationalität und Autonomie hatte Eva Illouz als Grundlage für den Gebrauch der Wahlfreiheit genannt. Kudrjáš und Varvara verkörpern eben diese. Káťa trifft, darin Helene im eingangs zitierten Roman Die Wut, die bleibt ähnlich, schließlich doch eine Wahl. Sie entzieht sich durch den Suizid den Gesetzen des Familialen. Sie geht, mit letzten, im Orchester noch einmal aufscheinenden, im Pauken-Ostinato versinkenden Erinnerungen an ihre ekstatische Vision in den Tod: „… rote Blümchen, blaue Blümchen, gelbe Blümchen …“ Jener Engelsgesang aber, von dem Káťa in ihrer großen Vision im ersten Akt geträumt hatte („… und überall singen unsichtbare Stimmen …“) und den Janáček in die Vokalisen des Chores legt, lockt sie zum Wasser. Das Verstummen dieser Stimmen zeigt Káťas Tod an: „Es ist so still, so schön! So schön! Und ich muss sterben!“
Melanie Unseld studierte Historische Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie und Angewandte Kulturwissenschaft in Karlsruhe und Hamburg. 1999 promovierte sie an der Universität Hamburg mit der Arbeit „Man töte dieses Weib!“ Tod und Weiblichkeit in der Musik der Jahrhundertwende. 2008 bis 2016 hatte sie die Professur für Kulturgeschichte der Musik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg inne, wo sie zwischen 2009 und 2015 auch Direktorin des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung (ZFG) war. 2013 habilitierte sie mit einer Arbeit über „Biographie und Musikgeschichte“. Seit 2016 ist sie Professorin für Historische Musikwissenschaft am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. 2019 wurde sie zum korrespondierenden Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt. 2022 erschien ihr Buch Musikgeschichte „Klassik“ bei Bärenreiter, und zuletzt hat sie Beethoven-Geflechte – A Beethoven Tapestry mitherausgegeben.