Alles ist Transkription

Zur Peter Grimes Fantasy von Ronald Stevenson

Text von Christopher Warmuth

Ronald Stevenson und Benjamin Britten waren freundschaftlich eng verbunden. Der schottische Pianist und Komponist Stevenson, 1928 geboren, 2015 verstorben, hatte mehrere Male das Musikfestival in Aldeburgh, 1948 vom „Orpheus Brittanicus ll“ gegründet, wie Britten wertschätzend vom musikalischen England als zweiter großer Nationalkomponist der englischen Oper geadelt wurde, besucht. Mehrere Bearbeitungen Britten’scher Werke zeugen von dieser Wertschätzung: Der Peter Grimes Fantasy aus dem Jahr 1971 ging bereits eine Bearbeitung für Kammerorchester einer der Walzer voraus, die Britten als kleiner Junge komponierte – und sich im Titel verschrieb. Und Nr. 2 Shield, The Ploughboy aus Two Eclogues (1951 und 1956) widmete er Britten und dessen Lebensgefährten Peter Pears. Die zwischen 1973 und 1977 entstandene Sonatina serenissima – in  memoriam Benjamin Britten – blieb das letzte von Freundschaft inspirierte Werk und kreist um die Themen der Oper Death in Venice von Britten. Weiterentwicklungen von Opern trieben Stevenson ebenfalls mehrmals um: Die Peter Grimes Fantasy wurde von der BBC für eine Fernsehübertragung beauftragt, 1971 komponiert, 1972 uraufgeführt. Die alte Tradition der „Opernfantasie“, eine Hommage und zugleich Weiterentwicklung des musikalischen Opernmaterials, griff Stevenson schon in seinem Faust-Triptychon, seinem ersten Klavierkonzert, auf. Später sollte eine Klaviersuite aus der wenig bekannten Oper Manru von Ignacy Jan Paderewski in ähnlicher Manier folgen.

Die Peter Grimes Fantasy ist durchzogen vom Grundkonflikt der gleichnamigen Oper: der Einzelne gegen die Masse. Peter Grimes, ein Fischer in einem abgeschiedenen englischen Küstenort, wird gleich zu Beginn der Bühnenfassung bezichtigt, für den Tod seines Lehrjungen verantwortlich gewesen zu sein. Eine Verurteilung bleibt aus, für das Dorf steht jedoch fest, dass Peter schuldig ist. Konflikte, Bezichtigungen und die Ausgrenzung des Individuums aus dem Dorfkollektiv werden zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Ein zweiter Lehrjunge stirbt. Peter Grimes fährt mit seinem Schifferboot aufs Meer und kommt ebenfalls um.

Eine Verserzählung von George Crabbe lieferte für Britten die Vorlage für den Opernstoff, er jedoch adaptierte Grimes und rückte ihn in ein positiveres Licht. Peter Grimes wird so ein großes Fragezeichen – weder Held noch Antiheld. Brittens erste große Oper ist ein unerschöpfliches Panorama zwischenmenschlicher Verstrickungen, dargestellt an der Welt einfacher Küstenbewohner, deren Fugen nur notdürftig zusammenhalten. Seine Musik dringt tief in die Seele mit ihren Klängen für den einsamen Einzelnen, die entfesselte Menge und die ewige Natur. Die Doppelbödigkeit dieser Musik, das Nichtwissen, Ahnen und Vermuten findet sich auch in der Peter Grimes Fantasy.

Kompositorisch verschmelzt Stevenson Charaktermerkmale der Fuge mit sonatenhaften Elementen. Er greift das musikalische Material der Oper so auf, dass er mit den wesentlichen melodischen und episodischen Informationen den Grundkonflikt des Stückes kondensiert. In der rund siebenminütigen Fantasie breitet sich der typisch naturmalerische Gestus der flächigen Musik von Britten aus, ehe sind vor allem Motive des berühmten „Sturm“-Zwischenspiels einschleichen und vehement zum gewaltvollen Exzess hochschrauben. Nach diesem Bruch ist in dem Andante comodo e molto tranquillo überschriebenen Schlussteil die „kalte  Morgendämmerung“ zu hören – zuletzt die kalte, beinahe schockierende Coda aus flächigen, silbergrauen Klängen.

Ferruccio Busoni setzt 1907 in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst die „Notation“, also das Aufschreiben von Musik, mit dem Begriff der „Transkription“ gleich. Alles sei schon da. Igor Levit, auf die Theorien von Busoni und den Transkriptionsgedanken per se schon länger versessen, nahm nicht ohne Grund mehrere Bearbeitungen Busonis auf CD auf. Und auch das neunzigminütige Mammutwerk Passacaglia on DSCH von Ronald Stevenson, 2021 eingespielt, folgt dieser Linie. Denn Stevensons Schaffen ist insgesamt ein lebendiges Zeugnis, dass es Originalität in der Kunst nicht gibt, sondern nur die ständige Wiederentdeckung und sich wiederholende Verknüpfung von bereits vorhandenen Ideen, die der Künstler dann selbst durch seine Auswahl, Bearbeitung und Überschreibung zu seinem individuellen Werk kombiniert.

FESTSPIEL-RECITAL IGOR LEVIT