Ich schrieb Hanjo, als wäre es ein Traum.
Programmatische Anmerkung zur Oper Hanjo (2004) von Toshio Hosokawa
Übersetzung: Daniel Oesterle
Lesedauer: 5 min.
Dieses Werk wurde vom Festival d’Aix-en-Provence in Auftrag gegeben und zwischen Herbst 2003 und Anfang 2004 geschrieben. Mein Wunsch war, dass diese neue Oper von mir anders ist als die von Abendländern geschaffenen, und dass sie an die traditionellen japanischen Theaterformen Nō und Kabuki anknüpft. Gleichzeitig wollte ich, dass es sich um eine Oper handelt, die beim zeitgenössischen Publikum Anklang findet und die begrenzten Ausdrucksmöglichkeiten von Nō oder Kabuki überwindet. Dazu war es für mich notwendig, mich mit den Traditionen der westlichen Oper zu beschäftigen und vieles von ihnen zu lernen.
Für das Libretto dieser Oper habe ich ein gleichnamiges Stück aus Yukio Mishimas Sammlung Fünf moderne Nō-Spiele verwendet, für das Mishima wiederum ein ursprüngliches Nō-Stück als Vorlage benutzt, das ebenfalls den Titel Hanjo trägt. Sowohl Mishimas Version als auch meine gründen sich zwar auf die japanische Tradition, aber überwinden dabei deren Begrenzungen und beleben altes Material in moderner Form — unter bestmöglicher Nutzung von Methoden, die wir vom westlichen Theater gelernt haben.
Nō ist eine ureigene japanische Form der Oper, die ihre Blütezeit im 14. und 15. Jahrhundert hatte. Worte, Musik, Gesten (Schauspiel und Tanz) sind alle durch einen starken Stil verbunden. In den meisten Nō-Stücken ist die Hauptfigur entweder jemand, der gestorben ist, oder eine Frau, die verrückt geworden ist. Diese Charaktere existieren in einer fremden Welt, aus der sie auf der Suche nach Erlösung für ihre Seele in unsere Realität herabsteigen und sich mit einer Person unterhalten, die in der realen Welt lebt.
„Nō-Schauspiele sind jenseitig—
wie ein Traum."
Ich schrieb Hanjo, als wäre es ein Traum. Die Hauptfigur Hanako lebt in einer Welt des Wahnsinns jenseits unserer alltäglichen Realität. Sie wartet lange darauf, dass der Mann, den sie liebt, zurückkehrt. Als er endlich ankommt, ist er für sie jedoch nicht mehr der Mann, den sie liebt. Ihr Fantasiebild des Mannes ist realer geworden als der Mann, der tatsächlich vor ihr steht. Ich wollte mittels Musik ein Drama zeigen, das immer wieder die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Wahnsinn und Vernunft überquert. Vielleicht kann ein Mensch die Stimme, die nur im Reich der Träume zu hören ist, in der Musik besser ergreifen als im Schauspiel. Ich versuchte, die Stimme einer Person darzustellen, die auf diese Weise zwischen Traum und Realität hin und her reist, während das Orchester im Hintergrund langsam sein Erscheinungsbild ändert, wie eine sich abrollende Bildrolle. In diese Bildrolle wird die Stille allmählich, aber merklich eingewoben, so wie eine leere Fläche unübersehbar in die Mitte eines Bildes eingewoben wird.
Manches Mal besitzen Träume eine starke Realität. Und vielleicht kann diese Realität auch ein eindrückliches Bild von der Wahrheit über die Realität zeichnen, in der wir leben. Weder die Instrumente noch Gesangstechniken des Nō-Theaters kommen in dieser Musik zum Einsatz.
Ich möchte keine Musik schaffen, die die äußere Form traditioneller japanischer Musik kopiert und in ein exotisches Arrangement im modernen Stil umwandelt. Stattdessen möchte ich die Essenz der Nō-Musik in ganz anderer Form neu zum Leben erwecken. Es ist Musik, die Stille erzeugt (auf Japanisch auch als Ma oder „Pause“ bezeichnet); danach wandert der Klang, während er langsam die Grenze der Stille umkreist, in das Reich der Träume.