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Von: Carl Hegemann
Fotografie: Tealia Ellis Ritter

Lesedauer: ca. 15 Min.

Zwei Mal vier Dinge über das Festhalten und Loslassen der Kunstform Oper und dessen Apparate: Gedanken, Thesen und Provokationen von Carl Hegemann, der unter anderem mittels Friedrich Schiller, Niklas Luhmann und Christoph Schlingensief dem auf die Schliche kommen möchte, was es mit der Kunst eigentlich auf sich hat. 


Vier Dinge, welche die Oper unbedingt braucht
 

1. Freiheit

Beginnen wir mit Friedrich Schiller und seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, dort wird die Freiheit der Kunst gegründet und begründet. Einer der zentralen Sätze lautet bekanntlich: „Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit.“ Schiller, der auf der ästhetischen Theorie und auf der Ethik von Immanuel Kant aufbaut, kritisiert ihn gleichzeitig. Schiller geht es nämlich nicht nur um den kategorischen Imperativ – die Freiheit, die darin liegt, seine Pflicht zu tun –, sondern er propagiert auch eine Freiheit von dieser Pflicht. Und dazu dient ihm die Kunst. Der entscheidende Satz heißt: „Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte“ – das wären die naturwissenschaftlich erklärbaren physikalischen Schrecklichkeiten, Naturkatastrophen, Erdbeben, auch Krankheiten etc., also die physischen Kräfte – „und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze“ – das wären die Strafgesetze, die Sittengesetze und Marktgesetze – „baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins.“ Hier sind wir bei Kants ästhetischer Theorie in der Kritik der Urteilskraft. Neben dem Reich der physischen Determination und dem Reich der menschlichen Gesetze, mit denen wir Ersteres zu bändigen versuchen, gibt es eben dieses seltsame dritte Reich, in dem der ästhetische Bildungstrieb herrscht, und in diesem Reich ist der Mensch von den „Fesseln aller Verhältnisse“ befreit und „von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen“ entbunden.

Die Freiheit der Kunst soll innerhalb der Grenzen des ästhetischen Reiches eine Freiheit von jeglichem physischen und moralischen Zwang erlauben. Wie kann man sich das vorstellen? Wir sind ja als Menschen nirgendwo frei von physischen und sozialen Zwängen und deshalb hängen wir auch alle in diesen Funktionssystemen fest. Aber Schiller sagt es trotzdem. Er muss dann natürlich ergänzen, dieses „dritte, fröhliche Reich“ sei nur ein „Reich des Spiels und des Scheins“. Also es ist Fiktion. Es wird in diesem Reich nur so getan als ob.

Es ist eine real existierende Scheinwelt und dessen ist sich auch jeder bewusst. Das ist in der Oper oder im Theater oder in der bildenden Kunst dasselbe: Es wird überall so getan als ob. Man tut so, als wäre Venus lebendig, dabei ist sie aus Stein, und als könnte es so eine Schönheit einfach so von Natur aus geben, dabei ist sie mühsam hergestellt. Das heißt, das „dritte, fröhliche Reich“ ist nur deshalb fröhlich und von allen Zwängen befreit, weil es ein Reich des Scheins und des Spiels ist. Nur spielerisch können wir uns überhaupt befreien, und dieses Reich ist nur zum Schein keinen moralischen und physischen Schranken unterworfen. Wir können Götter auftreten lassen, wir können morden, wir können Häuser in die Luft sprengen, wir dürfen auf der Bühne alles machen, solange es Spiel ist. Wenn wir es tatsächlich machen würden, wären es natürlich strafbare Handlungen und keine Kunst. Das ist erst einmal das, was Schiller sagt. Wir haben uns mit der Kunst einen Ort geschaffen, der völlig anarchisch und gesetzlos sein darf. Das unterscheidet den Kunstbereich von jedem anderen gesellschaftlichen Subsystem.

2. Funktionslosigkeit

Ich muss jetzt noch ergänzen, wie sich diese Einsicht von Schiller dann später in der Systemtheorie Niklas Luhmanns durchsetzt, um die Tragweite dieses Gedankens deutlich zu machen. In seinem Buch Die Kunst der Gesellschaft lautet der für mich entscheidende Satz: „Ein Kunstwerk zeichnet sich durch die geringe Wahrscheinlichkeit seiner Entstehung aus. Es ist sozusagen ein demonstrativ unwahrscheinlicher Sachverhalt.“ Für Luhmann sind bekanntlich alle  Systeme durch eine relativ geringe Wahrscheinlichkeit ihres Entstehens charakterisiert, aber keines von diesen Funktionssystemen definiert sich durch diese Unwahrscheinlichkeit, sondern über gesellschaftliche Funktionen, die durch sie möglich werden: über Gewinnmaximierung oder über die Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung. Aber die Kunst und die Kunstwerke definieren sich lediglich durch diese Unwahrscheinlichkeit ihres Entstehens. Wenn es sonst nichts gibt außer dieser Unwahrscheinlichkeit, also wenn sie keine übergeordnete Funktion haben, dann sind es Kunstwerke. Die Funktion des Kunstwerkes ist seine Funktionslosigkeit oder, wie Luhmann schreibt, seine Unbestimmtheit. Wenn ich auf der Straße ein umgekipptes Auto, mit Beton übergossen, sehe, dann denke ich vielleicht erst einmal an einen eifersüchtigen Ehemann, der das Auto des Geliebten seiner Frau mit einer Ladung Zement zerstört hat, dann ist es keine Kunst, denn es hat für den Urheber eine ganz persönliche Funktion: Wutentladung durch Rache. Oder ich denke, es war ein Wahnsinniger am Werk oder es war ein Unfall. Auch in diesen Fällen ist es keine Kunst. Nur, wenn ich das alles nicht denken kann, dann sage ich, wie am Kurfürstendamm, es ist wohl ein Kunstwerk (von Wolf Vostell).

Das ist also die Kunst der Kunst, etwas herzustellen, bei dem man gerade keine Funktion oder erwartbare Logik erkennen kann und das in seiner Unbestimmtheit einfach nur unwahrscheinlich ist. Und ich finde natürlich diese Definition, Kunst zeichne sich durch die Unwahrscheinlichkeit ihres Zustandekommens aus, tausendmal besser als alle Versuche, über formal-ästhetische oder gar moralisch-politische Kriterien anzugeben, wie Kunst beschaffen sein sollte. Sie können das auf alle gelungenen Kunstwerke beziehen, sie sind immer zum Zeitpunkt ihres Entstehens unwahrscheinlich gewesen. Wenn sie erwartbar werden, wenn es schon eine Gebrauchsanweisung oder ein Erklärungsmuster dafür gibt, dann sind es keine Kunstwerke mehr, dann haben wir es mit dem Museum der toten Kunst zu tun, wie häufig auch im Theater oder in der Oper, oder es wird zu Kunstgewerbe, oder es ist ein wunderbares Kunsthandwerk. 

„Die bloße Freiheit schafft keine Kunst, sondern Beliebigkeit.“

3. Paradoxie

Jetzt müssen wir uns überlegen, wenn wir nach der Zukunft der Oper, überhaupt des Theaters und der Kunst fragen: Wo ist denn jetzt das Problem mit dieser Unwahrscheinlichkeit? Nun, zum Beispiel in der Oper, wenn die Musik so gespielt wird, wie sie eben gespielt wird, dann ist das nicht gerade unwahrscheinlich. Wir kriegen die Unwahrscheinlichkeit, die Kunst definiert, heutzutage schwer zustande. Möglicherweise, weil schon alles Unwahrscheinliche ausgereizt worden ist, aber auch, weil wir das Unwahrscheinliche mittlerweile schon erwarten. Und etwas, das man erwartet, ist nicht mehr unwahrscheinlich. In der Kunst ist also das Unwahrscheinliche zum Wahrscheinlichen geworden, weshalb wir heute bei der Realisierung der Kunst echte Probleme haben. Und gerade in der Oper, mit ihren traditionellen Festlegungen, kulminieren diese Probleme, wenn man dort Kunst als „definitiv unwahrscheinlichen Sachverhalt“ machen will.

An dieser Stelle hilft die nächste These, von meinem Freund, dem Kunsttheoretiker Boris Groys, der wie Schiller sagt, in der Kunst sei alles erlaubt. Der Künstler kann  machen, was er will, er braucht nicht zu begründen, was er macht, er kann es einfach machen. Aber wenn man einfach irgendetwas macht, funktioniert es meistens nicht. Das meiste interessiert nicht und wird auch nicht als Kunst anerkannt. Die bloße Freiheit schafft keine Kunst, sondern Beliebigkeit. Boris Groys sagt, damit ein Werk als Kunst anerkannt werde, müsse es ein Paradox erfüllen: Es dürfe nicht aussehen wie Kunst. Es dürfe aber auch nicht aussehen wie Nicht-Kunst. Wenn es wie Kunst aussieht, ist es Kitsch, und wenn es wie Nicht-Kunst aussieht, dann ist es einfach keine Kunst, dann hat es eine Bestimmung, dann ist es Design, dann ist es irgendein Gebrauchsgegenstand, dann passt es in die Verwertungslogik des Marktes. Kunst muss also zugleich aussehen wie Kunst und wie Nicht-Kunst. Das ist das Entscheidende an der Kunstpraxis heute. Im Rahmen der Kunstimmanenz kriegen wir keine Unwahrscheinlichkeit zustande.

Wir brauchen eine Anbindung an die Nicht-Kunst, damit die Entstehung des Kunstwerks unwahrscheinlich wird und es als ein genuines, gegenwärtiges Kunstwerk begriffen werden kann. Ich bin jetzt also von der Kunst zur Gesellschaft gekommen. Nicht von der Gesellschaft zur Kunst. Die Kunst darf nicht selbstreferentiell und redundant werden. Sie braucht von sich aus einen Bezug auf die Nicht-Kunst, das heißt, auf den Kontext, sprich, auf die Gesellschaft. Und die Qualität eines Kunstwerkes, das sich durch die Unwahrscheinlichkeit seines Zustandekommens auszeichnet, bemisst sich heute daran, wie diese paradoxe Einheit von Kunst und Nicht-Kunst gelingt. Das ist eigentlich meine These, und diese These ist theoretisch möglicherweise schlecht begründet, in der Praxis aber produktiv und eigentlich unvermeidlich.

4. Scheitern

Es gibt viele Regisseur:innen, auch in der Oper, die sagen, Kunst bedeute im wesentlichen Scheitern. Das ist manchmal nur ein koketter Spruch, aber es kann auch ein wichtiger inhaltlicher Gedanke sein. Wir leben in einer Funktionsgesellschaft, und funktionieren heißt immer richtig funktionieren, nicht falsch funktionieren. In der Funktionsgesellschaft geht es um Erfolg und Gewinn und um möglichst gelingende soziale Praxis. Wir wissen aber, dass die soziale Praxis nicht immer gelingt, sehr häufig geht sie daneben, und wir wissen sogar auch, irgendwo im Hinterkopf, dass „in the long run“ jede soziale und jede menschliche Praxis danebengeht, scheitert. Das sieht man vor allem daran, dass wir alle, auch bei noch so tollen lebensverlängernden Maßnahmen, irgendwann mit unserem Leben zu Ende sind und verschwinden.

Das Wissen um dieses Verschwinden, das früher in den christlich geprägten Gesellschaften durch Kreuzigungsdarstellungen, durch Trauergottesdienste, durch Fastenzeiten und durch Karfreitags zeremonien überall gegenwärtig war, passt nicht in unser Erfolg  fixiertes gesellschaftliches Funktionssystem hinein und hat seinen Ort verloren. Fast nur noch die Opern beschäftigen sich offensiv mit dem Tod und mit dem notwendigen Leiden und mit der Vergänglichkeit. Die Oper hat eigentlich nur zwei Themen: Liebe und Tod. Und Liebes- und Todessehnsucht erweisen sich in der Oper oft als ein und dasselbe. Und fast immer genießen wir am Ende das Sterben des oder der Protagonist:in. Die in der Oper praktizierte Einstellung zum Tod evoziert das Gegenteil von dem, was wir normalerweise im Alltag darüber denken. Wir können genießen, was wir in unserem erfolgsfixierten Leben verdrängen müssen.

„Für den rauschhaften Menschen, der für die Musik und für den dionysischen Exzess offen ist, wäre es nicht nur kein Problem, sondern sogar wünschenswert, bald zu sterben.“ 


Ich will dieses Paradox am Beispiel von Friedrich Nietzsches Strategien der „Noth-Wendigkeit“, an den gegenläufigen Weisheiten des Silen und des homerischen Menschen illustrieren. Wir haben es im normalen Leben, laut Nietzsche, mit der Vernünftigkeit des  „homerischen Menschen“ zu tun, der sagt: Das Schlimmste, was wir als Menschen zu ertragen haben, sei, dass wir überhaupt sterben müssen, aber das Allerschlimmste ist das Wissen, dass man bald sterben muss. Das ist der Ausgangspunkt des homerischen Menschen, und der versucht natürlich, das Leben möglichst lange zu erhalten, indem er alles vermeidet, was sein Leben vorzeitig beenden könnte. Der Ausgangspunkt des Silen, eines philosophischen Begleiters des Rauschgotts Dionysos, ist laut Nietzsche der genau entgegengesetzte, und diesem Ausgangspunkt ist offensichtlich die Oper verpflichtet.

Dieser „weise Silen“ antwortet nämlich auf die Frage des Königs Midas, was denn das Beste für den Menschen sei: „Das Beste, hast du schon verpasst. Das Beste ist für dich nicht mehr möglich. Das Beste ist nämlich, nie geboren zu sein.“ Und weiter: „Das Zweitbeste, das kannst du noch haben, das ist nämlich, bald zu sterben.“ Was der Silen sagt, ist also unserer konventionellen homerischen Weisheit diametral entgegengesetzt. Er sagt eigentlich etwas Unglaubliches: Für den rauschhaften Menschen, der für die Musik und für den dionysischen Exzess offen ist, wäre es nicht nur kein Problem, sondern sogar wünschenswert, bald zu sterben. Das heißt, dass es ihm egal ist, wann er stirbt. Am besten bald. Diese beiden Weisheiten sind nun wirklich die Kontradiktion schlechthin. Aber wir müssen, das lehrt uns nicht zuletzt die Oper, diese beiden Sätze als gleichermaßen geltend begreifen, obwohl sie sich gegenseitig ausschließen.

Wenn man eine Wagner-Oper wie Der Fliegende Holländer hört und sieht, geht es eigentlich nur um diesen Konflikt: Ist der ewige Tod das Ziel oder das ewige Leben? Und wenn sich ein solcher Konflikt in dieser Ausschließlichkeit heute nahezu exklusiv in der Oper entfaltet, dann ist die Oper auch heute noch wichtig und in ihren Fragestellungen radikaler als das meiste. In der Oper können wir dieses Paradox auf eine säkularisierte Art ein bisschen verstehen lernen. Ich kann es nicht lassen, hier an einige meiner Lieblingssätze von Friedrich Hölderlin aus der späten Hymne Friedensfeier zu erinnern: „Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch ...“ Das ist wunderbar, das ist Sprechtheater, das ist Diskursivität, das ist kommunikative Kompetenz, das ist auch so eine Zitatensammlung wie diese hier, und dann sagt Hölderlin aber noch etwas mehr und landet bei der Oper – „... bald sind wir aber Gesang.“ Und deshalb wäre ich sehr traurig, wenn die Oper am Ende nichts weiter als ein Funktionssystem wäre, in dem man rezipiert und diskutiert, was die Leute vor zweihundertfünfzig Jahren für Musik gemacht haben. Musiktheater ist die Gelegenheit, das Jenseits zu erfahren, ohne das Diesseits zu verlassen. Deshalb kann man in der Oper das Scheitern genießen. Deshalb braucht die Oper nicht nur Freiheit, inklusive Zweckfreiheit, Unwahrscheinlichkeit und Paradoxie, sondern auch das Scheitern als Gegenstand und eigene bewusste Praxis.

Carl Hegemann

Carl Hegemann, geboren in Paderborn, studierte Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaften in Frankfurt am Main. Nach der Promotion unterrichtete er dort zehn Jahre Philosophie und Soziologie. Er war u. a. Gastprofessor an der Hochschule der Künste Karlsruhe und von 2006 bis 2014 Professor für Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig. Seit 1979 arbeitet Hegemann an zahlreichen Theatern und Opernhäusern, darunter das Tübinger Zimmertheater, das Burgtheater Wien, die Bayreuther Festspiele, die Schauspielhäuser in Freiburg, Bochum, Köln, Zürich und Hamburg, die Staatsopern in Berlin und Hamburg sowie das Opernhaus in Manaus, Brasilien. Nach dem Tod von Heiner Müller war er von 1996 bis 1998 Ko-Intendant am Berliner Ensemble. An der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin unter der Leitung von Frank Castorf war er insgesamt 15 Jahre engagiert, zuletzt als Chefdramaturg. Dort entstanden auch prägende Arbeitszusammenhänge mit Christoph Schlingensief, René Pollesch, Herbert Fritsch und Bert Neumann. Hegemann unterrichtet u. a. an den Kunstuniversitäten in Wien und Berlin. Zuletzt arbeitete er mit Frank Castorf, Jette Steckel und Christoph Marthaler. 2018 gründete er die dramaturgische Beratungsagentur Everyday live.

„Kunst ist Magie, befreit von der Lüge Wahrheit zu sein.“

-Theodor W. Adorno


Vier Dinge, welche die Oper nicht unbedingt braucht
 

1. Werktreue

Wer ernsthaft Werktreue einklagt oder anstrebt, riskiert verrückt zu werden. Denn Werktreue gibt es nicht. Einen Text, ein Libretto, eine Partitur originalgetreu gestalten zu wollen, heißt schon sie zu verfehlen. Denn das Original zeichnete sich zur Zeit seiner Entstehung und ersten Aufführung durch Frische und Neuheit aus. Und das ist etwas, das keine noch so werktreue Wiederholung zurückrufen kann: die Atmosphäre, die eine Oper bei ihrer Entstehung und ihrer Uraufführung vorgefunden hat.

Die Hochzeit des Figaro, in unruhigen vorrevolutionären Zeiten entstanden, heute werktreu zu gestalten,  würde es nötig machen, auch eine vorrevolutionäre Stimmung zu schaffen, ohne die alles was in der Oper stattfindet, auch wenn man ihre Uraufführungsinszenierung bis in Kleinste Detail reenacten würde, einen völlig anderen Charakter hätte, und selbst wenn das gelingen würde, wäre diese Oper nicht werktreu, weil sie damals eine neue Oper war und jetzt eine alte Oper ist, bei deren Betrachtung sich gar nicht von der Rezeptionsgeschichte abstrahieren lässt. So wenig, wie man zweimal in den selben Fluss steigen kann, kann man Werktreue herstellen. Also sollte man es gar nicht erst versuchen. Wer meint, zur Werktreue würde es ausreichen, das Werk in der alten Zeit zu belassen, irrt sich, denn was heute die alte Zeit ist, war damals die neue Zeit.

„Zu behaupten, das Opernhaus sei überflüssig, wäre barbarisch.“ 

2. Opernhaus

Das Opernhaus ist eine Kultstätte, einer der wenigen verbliebenen Orte, die sich heute noch mit dem beschäftigen, was unseren Alltag überschreitet. Musik und Gesang katapultieren uns, wenn es gelingt, in eine Welt hinter der Welt, wo sich Irdisches und Überirdisches verbinden und wir, wenn auch nur scheinbar und als Spiel, die paradoxe Erfahrung einer Welt jenseits der Erfahrung machen können, und wenigstens eine Ahnung vom „Ziel all unseres Strebens“ bekommen können, nämlich „eins zu werden mit allem, was lebt“, so Friedrich Hölderlin. Zu behaupten, das Opernhaus sei überflüssig, wäre barbarisch. Und trotzdem ist es nicht immer nötig.

Mein größtes Opernerlebnis überhaupt fand nicht in, sondern vor einem Opernhaus statt. Und zwar 2007 in Brasilien, am Tag vor der offiziellen Premiere von Christoph Schlingensiefs Inszenierung von Der Fliegende Holländer im Teatro Amazonas in Manaus, der Stadt mitten im Dschungel. Zwanzigtausend Zuschauer auf kleinen Klappstühlen sahen, wie sich das gesamte Personal dieser Oper ins Freie begab und dort halbszenisch, mit viel Improvisation und elektrisch verstärkt, dieses Werk Wagners zur Aufführung brachte, für alle, die sich die teuren Karten nicht leisten konnten.

Es war ein Fest und man bekam den Eindruck, dass diese Oper, die durchaus unchristlich, nicht das ewige Leben, sondern den ewigen Tod besingt und feiert, hier genau richtig war. Am Schluss verwandelte sich die Oper in eine Prozession, Wagners Musik vermischte sich mit Sambaklängen, es wurde getanzt und gelacht. Die vom Karneval ausgeborgten Lastwagen waren mit großen Transparenten bedeckt, die Schlüsselsätze des Fliegenden Holländers zitierten. Zum Beispiel: „Ihr Welten endet euren Lauf, ewige Vernichtung nimm mich auf!“ oder „Wann dröhnt der Vernichtungsschlag, mit dem die Welt zusammenkracht.“ Eine äußerst lebensbejahende Feier des Weltuntergangs, die mit einem großen Fest am Hafen von Manaus endete. Die am nächsten Tag folgende Premiere im Opernhaus war auch ein großes Ereignis.

3. Orchester

Zur Not kann man auch auf das Orchester verzichten und stattdessen viele kleine Boxen in den Orchestergraben stellen und vielleicht ein paar Statist:innen mit kaputten Geigen zur Dekoration. Nur der:die Dirigent:in muss sichtbar sein und seine:ihre Arbeit tun, das reicht zur Herstellung der Illusion.

Bei Schlingensiefs Ready-Made-Oper Mea Culpa funktionierte das so gut, dass selbst erfahrene Opernbesucher:innen und Impresarios nicht merkten, dass die dort gespielte Parzival-Ouvertüre, nicht nur „fast so gut gespielt war wie in Bayreuth“, sondern tatsächlich eine Aufnahme aus Bayreuth war. Das schreibe ich jetzt nicht, um die Orchester abzuschaffen, das wäre genauso barbarisch wie die Abschaffung der Opernhäuser, sondern als Beispiel für einen „definitiv unwahrscheinlichen Sachverhalt“ im Sinne Luhmanns.

4. Sänger:innen

Zugegeben: Das geht jetzt wirkich zu weit. Aber es gibt natürlich auch Opern, die prima ohne Sänger:innen auskommen. Mein Freund Boris Groys erzählte von einer Inszenierung des russischen Regisseurs Ilya Kabakov, in der nur das Orchester und das Bühnenbild spielten und statt menschlicher Akteure gab es auf der Bühne lediglich echte Singvögel zu sehen, „die manchmal mitsangen“, wie Groys berichtete.

Noch ein Beispiel, das ich selbst gesehen habe: Die Oper Krieg des isländischen Komponisten Kjartan Sveinsson, die 2016 an der Volksbühne in Berlin von Ragnar Kjartanson uraufgeführt wurde. Sie zeigt siebzig Minuten in einem, an Kaspar David Friedrich erinnernden Bühnenbild, wie ein Soldat von einer Kugel getroffen wird und dann langsam stirbt. Der sterbende Soldat sagt oder singt kein Wort. Das war fesselnd und ergreifend.

JA, MAI

Das Festival für frühes und zeitgenössisches Musiktheater