Die Oper hat den Ruf weltfremd zu sein
Ein Gespräch mit Carolyn Abbate, Lehrstuhlinhaberin des Fachbereichs Musik an der Harvard University.
Fotografie: Tealia Ellis Ritter
Lesedauer: ca. 10 Min
Ja, die Oper hat den Ruf, weltfremd zu sein. Wie können wir sie näher ans echte Leben rücken?
Ich glaube nicht, dass eine Opernfigur jemals wie ein echter Mensch auf uns wirken kann. Vielleicht können wir die Oper als Paralleluniversum betrachten: Wir leben in unserem Universum, befolgen dessen Regeln, sprechen und interagieren miteinander. Das finden wir im Schauspiel wieder – zwar überhöht, aber trotzdem verständlich als Gespräch zwischen Menschen.
Und in einem Paralleluniversum, das wir nur erahnen können, leben auch Menschen, aber in fünf oder sechs Dimensionen. Das übersteigt unsere Vorstellungskraft. Das einzige, schemenhafte Bild, das wir uns davon machen können, ist die Oper.
Aber Opernaufführungen muten oft altmodisch und unrealistisch an. Warum?
Warum sollten wir von der Oper überhaupt verlangen, echt oder realistisch zu sein? Statuen aus der Hölle marschieren über die Bühne und die Menschen singen die ganze Zeit – Oper kann nicht realistisch sein. Wenn man nach leichten Zugängen oder einfachem Verständnis sucht, ist man bei diesem Genre an der falschen Stelle. Weil es ganz einfach irrational ist.
Im Schauspiel passieren auch irrationale Dinge – aber ich kann mich mit den Personen auf der Bühne identifizieren. Die Sänger:innen in der Oper benehmen sich nicht wie echte Menschen.
Sie sagen, dass die Sänger:innen ihre Rollen nicht glaubwürdig spielen. Aber welche Theaterstücke haben Sie im Kopf, deren Charaktere sich wie echte Menschen verhalten? Denn auch im Theater verhalten sich die Personen oft unglaubwürdig. Zum Beispiel in Frankreich, im klassischen Theater des 18. Jahrhunderts, hätte das Publikum niemals damit gerechnet, dass die Menschen auf der Bühne dem echten Leben entspringen. Zu den Charakteren gab es immer eine Distanz. Und diese Distanz vervielfacht sich bis ins Unendliche, wenn die Person zu Ihnen singt anstatt zu sprechen.
Fanden die Leute den Gesang auf der Bühne schon immer seltsam?
Von Anfang an, ab 1600, wurde die Oper kritisiert, weil sie nicht realistisch war. Ihr fehle es an „Verisimilitude“, das war der fachliche Ausdruck damals. Dabei ging es nicht um die Handlungen, die albern waren – manchmal übernatürlich und mit Göttern als Hauptfiguren.
Die Kritik bezog sich auf eine einzige Sache: den Gesang. Wenn die ganze Zeit gesungen wird, kann es nicht realistisch sein. Um das Problem zu lösen, gab es einen Vorschlag: In der Oper sollte nur gesungen werden, wenn die Menschen in der Handlung tatsächlich singen.
Also wenn jemand im Libretto sagt: Lasst uns alle gemeinsam singen, und danach folgt ein Lied. Diese Einschränkung wollten die Theoretiker:innen der Oper auferlegen – aber natürlich hat sich das nicht durchgesetzt, weil der Gesang viel zu schön war, um ihn so zu begrenzen.