Von lyrisch-dramatischen Szenen zum musikalischen Volksdrama
Krieg und Frieden im kulturhistorischen Kontext
Text: Dorothea Redepenning
Dorothea Redepenning war – nach akademischen Stationen in Hamburg, Detmold, Marburg und Erlangen – von 1997 bis zu ihrer Emeritierung 2020 Professorin für Musikwissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Sie ist vielfach ausgewiesen durch ihre Forschung auf dem Gebiet osteuropäischer Musik; zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen im Besonderen die Musik Russlands, der Sowjetunion und der postsowjetischen Zeit, die Musik des 19. und 20. Jahrhunderts, die Geschichte der Symphonie und der Oper, Musik und Politik, Franz Liszt und Dmitri Schostakowitsch. Ihr zweibändige Geschichte der russischen und sowjetischen Musik ist das wissenschaftliche Standardwerk zu diesem Thema. In der Reihe C. H. Beck Wissen erschien 2016 die Biografie Peter Tschaikowsky.
Die Oper Krieg und Frieden durchlief einen außergewöhnlich langen Arbeitsprozess. Das ist zum einen der komplexen Vorlage geschuldet, Lew Tolstois gleichnamigem Roman; zum anderen ist die Entstehung der Oper auf das Engste mit der politischen Gegenwart der Kriegs- und frühen Nachkriegsjahre verknüpft, die nach dem Sieg über Hitlerdeutschland in der Sowjetunion von einem überbordenden stalinistischen Patriotismus geprägt waren. Zugleich fallen in die Jahre 1946 und 1948 eine Reihe von kulturpolitischen Erlassen, die die sowjetischen Künste wieder auf die Kulturdoktrin des Sozialistischen Realismus einschwören sollten und denen Sergej Prokofjew im Besonderen zum Opfer fiel. All das führte dazu, dass sich die Konzeption der Oper immer wieder veränderte und dass die letzte Fassung, die in die Ausgabe von Prokofjews Gesammelten Werken einging, mögliche Varianten der Gestalt dieser Oper bewahrte. In der Praxis bedeutet das, dass bei jeder neuen Inszenierung eine eigene Lösung gefunden werden muss. Man kann darin einen Mangel erblicken, weil der Komponist als Autorität zurücktritt, oder aber eine Chance, denn ein offenes Werk (um ein Wort von Umberto Eco zu gebrauchen) bietet unterschiedliche Zugriffe und gestattet es, das Werk von seiner stalinistischen Überformung zu befreien, ohne es dabei zu verfremden.
I. Eine erste Fassung
Am 22. Juni 1941 überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Damit brach Hitler den Nichtangriffspakt, den er und Stalin geschlossen und den ihre Außenminister, Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow, am 24. August 1939 unterzeichnet hatten. Die militärische Mobilmachung begann umgehend, auch die Künstler reagierten sofort. Schriftsteller, Maler, Kinoregisseure, Plakatkünstler, Komponisten, sie alle engagierten sich an der „Kulturfront“, wie man es damals ausdrückte. Dmitri Schostakowitschs siebte Symphonie wurde gleich 1941 ein klingendes Emblem und ein internationales Symbol des Widerstands gegen Hitler. In einer Rundfunkansprache vom 3. Juli 1941 prägte Stalin in Erinnerung an den „Vaterländischen Krieg“ gegen Napoleon den Begriff „Großer Vaterländischer Krieg“, der bis heute in Russland gebräuchlich ist.
Sergej Prokofjew war 1936 endgültig in die UdSSR übergesiedelt und hatte mit Alexander Newski (1939), seiner ersten Zusammenarbeit mit dem Filmregisseur Sergej Eisenstein, dem neuen sowjetischen Patriotismus eindrucksvoll musikalische Gestalt verliehen. Bei Kriegsbeginn unterbrach er umgehend die Arbeit an dem Ballett Aschenbrödel, die er 1940 begonnen hatte, und wandte sich kriegsbezogenen Werken zu, darunter die Symphonische Suite Das Jahr 1941 und „Sieben Massenlieder“, die Ballade vom unbekannten Knaben (1942/43) und später eine opulente Ode auf das Ende des Krieges (1945). Die sechste, siebte und achte Klaviersonate, die während der Kriegsjahre entstanden, wurden von vornherein als nachdenkliche und ermutigende Kommentare verstanden. Die fünfte Symphonie (1944) ging, wie der Komponist Krzysztof Meyer sagte, „in die Liste der herausragendsten Werke ein, die thematisch mit der Tragödie des Zweiten Weltkriegs verbunden sind“.
Im Sommer 1941 wurden Prokofjew und seine Familie zusammen mit anderen Künstlerfamilien in den Nordkaukasus evakuiert. Im Herbst siedelten die Prokofjews nach Tiflis über. Das Opernprojekt Krieg und Frieden,sein Opus magnum, nicht nur unter den Werken zum Krieg, sondern insgesamt in seinem Schaffen, hatte Prokofjew noch vor der Evakuierung in Angriff genommen. Tolstois 1868/69 erschienener Roman, ein Höhepunkt der Weltliteratur, ist eine Epopöe, deren Handlung sich auf die Zeit von 1805 bis 1812 erstreckt, von den Napoleonischen Kriegen bis zu Napoleons Scheitern in Russland. Zeitgeschichte und private Schicksale sind eng miteinander verflochten, indem am Beispiel dreier großer Familien und ihrer Beziehungen zueinander herausgearbeitet wird, wie der Krieg das Leben aller verändert und gute wie schlechte Charaktereigenschaften schärfer hervortreten lässt.
Das sind der verarmte Graf Rostow und seine Tochter Natascha, der zum alten russischen Adel gehörende Fürst Bolkonski, der die Verlobung zwischen seinem verwitweten Sohn Andrej und Natascha Rostowa vereitelt, und der Petersburger Höfling Fürst Kuragin, dessen leichtfertige Tochter Hélène mit Pierre Besuchow, dem illegitimen Sohn und Erben des steinreichen Grafen Besuchow, verheiratet ist, während sein Sohn Anatol, wiewohl verheiratet, Natascha umschwärmt und entführen will. Diese Personen und ihre weitverzweigten Familienbande, ihre Pläne und ihre Intrigen werden verquickt mit einfachen Leuten, die sich unter den Kriegsbedingungen heroisch bewähren. Historische Figuren treten auf wie Zar Alexander I. und Michail Kutusow, Generalfeldmarschall und Napoleons Gegner, den Tolstoi als bescheidenen Mann und wahren Helden darstellt. Hinzu kommen Kriegsszenen wie die Schlachten bei Austerlitz (1805), bei Hollabrunn und Schöngrabern (1806) und bei Borodino (1812), Beschreibungen von Partisanenkrieg, Lagebesprechungen, Truppenschauen. Andrej Bolkonski, in jungen Jahren Napoleon-Bewunderer, dann Frontsoldat und glühender Patriot in der Schlacht von Borodino, trifft, selbst schwer verletzt, seinen Rivalen Anatol Kuragin wieder, der ein Bein verloren hat, und vergibt ihm, dass er einst versuchte, Natascha zu entführen. Natascha, zu Beginn lebhaft, jugendlich, gefühlvoll, charmant, pflegt den sterbenden Andrej, ihre große Liebe, und heiratet am Ende Besuchow, mit dem sie eine glückliche, unpoetische und kinderreiche Ehe führt.
Aus diesem Roman eine Oper zu machen, ist ein kühnes Unterfangen. Prokofjew entschied sich, die beiden Hauptstränge, „Frieden“ und „Krieg“, ins Zentrum zu stellen, die Hauptpersonen bzw. zentrale Ereignisse quasi kaleidoskopartig in einzelnen Bildern nachzuzeichnen. Das Libretto verfasste er gemeinsam mit Mira Mendelson, einer jungen Schriftstellerin, mit der er 1941 ein Verhältnis begann. Für die Dialoge verwendeten sie Tolstois originalen Wortlaut. Dieses Vorgehen geht auf die russische Tradition zurück, hochwertige Literatur direkt, gegebenenfalls ohne zwischengeschaltetes Libretto zu vertonen. Die sogenannte Petersburger Schule begann damit, Alexander Puschkins „Kleine Tragödien“ als Operntexte zu vertonen. Pjotr Tschaikowski nahm für Jewgeni Onegin Puschkins unveränderte Worte, ebenso verfuhr Modest Mussorgski in Boris Godunow mit Puschkins Drama und Prokofjew selbst mit Fjodor Dostojewskis Roman in seiner Oper Der Spieler. Das Libretto von Krieg und Frieden folgt dieser Tradition, indem der Text eine Kompilation aus Tolstois Worten darstellt. Für Volksszenen und die Darstellung volkstümlicher Charaktere wurden Quellen aus der Zeit verwendet. Im April 1942 war die Oper skizziert, ein Jahr später, am 13. April 1943, schloss Prokofjew die Instrumentierung ab.