Wortloses Ende

Vladimir Jurowski und Dmitri Tcherniakov kehren mit ihrer Inszenierung der Oper Krieg und Frieden zur Urfassung von Sergej S. Prokofjew zurück.


DAS GESPRÄCH FÜHRTE RUTH RENÈE REIF

Dr. Ruth Renée Reif studierte in Wien Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte und ist seit ihrer Promotion 1987 in München als freie Journalistin und Publizistin tätig. Zu ihren Veröffentlichungen zählen eine Biografie über die Sopranistin Karan Armstrong, ein historisches Porträt der Stuttgarter Philharmoniker sowie zahlreiche Gespräche mit Musikern, Schriftstellern und Philosophen – so auch immer wieder in Publikationen der Bayerischen Staatsoper wie Max Joseph oder Engelsloge. Auch für die Broschüre zum 500-Jahres-Jubiläum des Bayerischen Staatsorchesters 2023 hat sie einen Beitrag verfasst.


Maestro Jurowski, am Todestag von Sergej Prokofjew, hat an der Bayerischen Staatsoper das gewaltige Opernepos Krieg und Frieden Premiere. Was veranlasste zu dieser Wahl?

Vor allem meine Liebe zur Musik Prokofjews und zu diesem Stück. Es gehört zu den wichtigsten Musiktheaterstücken des 20. Jahrhunderts. Zudem wurde es an der Bayerischen Staatsoper noch nie gespielt.

Tolstois Roman stellt den Krieg der menschlichen Gesellschaft gegenüber beziehungsweise analysiert das menschliche Verhalten während eines Krieges.

Der Einmarsch der deutschen Armee am 22. Juni 1941 bot Prokofjew den Anlass, seinen schon lange gehegten Plan in die Tat umzusetzen und Leo Tolstois Roman zu veropern…

Prokofjews Oper ist seine Interpretation von Tolstois Roman. Dessen Titel bedeutet nämlich nicht „Krieg und Frieden“, sondern „Krieg und die Welt“ oder „Krieg und Gesellschaft“. Das Wort „Mir“ existierte im Altrussischen in zwei Schreibweisen („мiр“ für Frieden und „мир“ für die Welt als menschliche Gesellschaft), und Tolstois Wahl war eindeutig. Sein Roman stellt den Krieg der menschlichen Gesellschaft gegenüber beziehungsweise analysiert das menschliche Verhalten während eines Krieges. Prokofjew setzt aber die Akzente in seinem Stück etwas anders als Tolstoi, und es gibt daher die saubere Trennung des Stücks in zwei Teile – den Friedensteil, der sieben Bilder umfasst, und den Kriegsteil, dem weitere sechs Bilder gewidmet sind.

Für Prokofjew waren die Ereignisse des Vaterländischen Krieges von 1812 und das damit verbundene moralische Suchen ein Weg, die Wirklichkeit seiner Zeit zu begreifen. Kann seine Oper heute ein Weg sein, unsere Zeit zu begreifen?

Dass Tolstois Roman einen Weg aus der ausweglos erscheinenden Situation von heute weisen kann, dessen bin ich fast sicher. Mit Prokofjews Oper verhält es sich etwas komplizierter.

Worin weicht die Oper vom Roman ab?

Tolstoi ließ sich von keinerlei ideologischen Schemata beeinflussen, auch nicht vom Patriotismus. Er steht als Autor abseits und blickt weder als Franzose noch als Russe, sondern allein als Mensch auf das Geschehen. Sein Roman ist antimilitaristisch, pazifistisch, philosophisch und zutiefst humanistisch. Tolstoi wurde ja ganze 16 Jahre nach den Ereignissen von 1812 geboren und schrieb seinen Roman zwischen 1865 und 1868, also in einer Zeit, die von keinen militärischen Konflikten ähnlichen Ausmaßes gezeichnet war. Prokofjew dagegen befand sich bei der Komposition seiner Oper in einer weitaus schwierigeren Lage. Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion in den 1930er-Jahren musste er sich als sowjetischer Komponist der herrschenden Staatsideologie unterwerfen. Sonst riskierte er das Verbot seiner Werke und im schlimmsten Fall seine Freiheit oder sogar sein Leben.

Was bedeutet das für seine Veroperung?

Es ist kein Zufall, dass Prokofjew, der als überdurchschnittlich talentierter Schriftsteller die Libretti seiner früheren Opern immer selbst verfasste, jetzt seine zweite Frau Mira Mendelson in die Arbeit einbezog. Sie war die Tochter zweier so genannter „Roter“ Professoren von der Moskauer Universität und die Frucht kommunistischer Erziehung (sie war 1915 geboren worden und somit um ganze 24 Jahre jünger als Prokofjew). Gerade aus ihren Versen, besonders in den Chören der dramatischen Kriegsbilder, hört man den überbetonten Patriotismus, der mit Tolstoi nichts zu tun hat.

Prokofjew hatte ein Faible dafür, Prosa zu vertonen. Seine Libretti sind nie oder selten gereimt. Er war überzeugt, dass die neue Zeit nach neuen Formen verlangt.

Würden Sie sagen, dass ohne die Zuarbeit von Mira Mendelson die Oper grundlegend anders wäre?

In seiner musikalischen Anlage schrieb Prokofjew ein eher lyrisches, intimes und sehr menschliches Werk. Vor allem der Friedensteil stellt einen modernen Versuch dar, lyrische Szenen nach dem Vorbild von Tschaikowskys „Eugen Onegin“ zu schreiben. Dabei bedient er sich der Originaltexte aus dem Roman von Tolstoi. Prokofjew hatte sowieso ein Faible dafür, Prosa zu vertonen. Seine Libretti sind nie oder extrem selten gereimt. Er war überzeugt, dass die neue Zeit nach neuen Formen verlangt und dass man als Komponist in der Lage sein müsse, auch einen Zeitungsartikel zu vertonen. Seine Vertonungen der Prosatexte von Tolstoi stehen denn auch außerhalb jeder Kritik. Problematisch sind aber oft die hinzugefügten Chorgesänge, vor allem im zweiten Teil der Oper. Natürlich waren sie ein Schachzug, um das Wohlwollen der Machthabenden zu erwecken. Aber sie lassen das Werk auch als zum Teil „sowjetisch“ abstempeln.

Nun tauchte die Oper ab und an in westlichen Spielplänen auf. Wie ging man damit um?

In der Tat stand man bereits bei früheren Aufführungen vor diesem Problem. Ich durfte das Werk vor Jahren in der Pariser Inszenierung von Francesca Zambello dirigieren, und deren Fassung war massiv beschnitten. Jene Inszenierung versuchte auch, das Sowjetische zu übermalen und das Ewiggültige, Menschliche, das uns allen an Prokofjew so teuer ist, hervorzuheben. Wobei sie sich am überbetonten Patriotismus des Werks nicht so sehr störte, er wurde als ein historisch gültiger Aspekt des Werks akzeptiert. Heute jedoch müssen wir viel rigoroser streichen. Das ist schon eine bittere Ironie, denn als der Regisseur Dmitri Tcherniakov und ich vor einigen Jahren zu unserem ersten Gespräch über die Oper zusammenkamen, war der erste Wunsch von uns beiden, sie komplett aufzuführen und jede einzelne Note zu spielen. In ihrer Länge kommt sie dann einer „Götterdämmerung“ nahe, was für deutsche Opernbesucher nichts Ungewöhnliches darstellt. Am 24. Februar aber begann der Krieg, und wir waren beide nahe daran, das Projekt abzusagen. Vor allem Tcherniakov verzweifelte über die Lage.

In der Oper können wir die ewigen Fragen stellen, die uns bis heute und vor allem heute wieder beschäftigen.

Welchen Ausweg haben Sie gefunden?

Wir haben eine Fassung erstellt, die sich auf die Protagonisten Natascha Rostowa, Andrei Bolkonski und Pierre Besuchow konzentriert und in der das kriegerische Geschehen nur eine Kulisse bildet. Den Friedensteil haben wir strichlos belassen, aber im Kriegsteil wurden alle Bilder stark zusammengestrichen, eines fiel sogar komplett weg. Nur die intime Sterbeszene von Andrei haben wir unangetastet gelassen. Auf diese Weise können wir in der Oper die ewigen Fragen stellen, die uns bis heute und vor allem heute wieder beschäftigen.

Und was haben Sie gestrichen?

Die entscheidenden Schnitte betreffen die Massenszenen, die etwas karikaturhaften Darstellungen der französischen Besatzer und die überdimensionierte Darstellung des russischen Heerführers Michail Kutusow. Während Tolstoi diesen unglaublich lebendig und lebensnah beschreibt, artet er bei Prokofjew zu einer wenig glaubwürdigen, ikonenhaften Stalin-Figur aus.

War es schwierig, Striche vorzunehmen, ohne dass es zu Brüchen in der Musik kam?

Glücklicherweise komponiert Prokofjew grundsätzlich nicht durchgängig (wie Wagner), sondern in kürzeren, autonomen Musikabschnitten. Er arbeitet eher wie ein Filmkomponist und baut seine Musik nach kubistischer-konstruktivistischer Denkweise, so dass man Teile abtrennen kann, ohne das Ganze zu zerstören. Diese Kompositionstechnik war Prokofjew von frühester Jugend an eigen, noch lange bevor er oder sonst jemand anfing, Musik für den Film zu schreiben. Deshalb fanden er und der große Filmregisseur Sergei Eisenstein, der ebenfalls so viel vom Filmschnitt als Ausdrucksmittel hielt, dann auch zueinander. Insgesamt kann ich sagen, dass wir mit unseren Kürzungen zu Prokofjews erster Fassung zurückkehren. Darin gab es zum Beispiel die Szene mit der großen Arie von Kutusow noch gar nicht.

Ist das jene Fassung für zwei Abende?

Prokofjew erstellte zwei Fassungen der Oper. Von der ersten Fassung wurde in Leningrad 1946 der erste Teil (Frieden) und 1948 der zweite Teil (Krieg) aufgeführt. Dann wurde das Stück verheerend kritisiert, vor allem aus ideologischer Sicht, und die erste Fassung wurde verboten. Später erarbeitete Prokofjew eine zweite Fassung. Deren Aufführung erlebte er jedoch nicht mehr. Er bemühte sich sehr darum. Aber nach dem antiformalistischen Parteibeschluss über die Oper „Die Große Freundschaft“ von Wano Muradeli vom Februar 1948 verschwanden alle Opern von Prokofjew aus den Spielplänen. Nach der Fertigstellung der zweiten Fassung schrieb Prokofjew einen Brief an die künftigen Dirigenten und Regisseure, in dem er erklärte, welche Szenen der Oper wegfallen könnten, wenn man sie an einem Abend spielen möchte. An diesem Brief orientierten wir uns.

Das Werk ist keine gewöhnliche Oper, sondern ein Grenzgänger zwischen den Genres, eine Mischung aus Oper, Lied, Symphonischer Dichtung und Film.

In seiner Schrift „Der Künstler und der Krieg“ vermerkt Prokofjew, er habe in seiner Oper „besonders die großen Veränderungen betonen“ wollen, die im Bewusstsein und im Charakter der Personen „aufgrund der ihrem Vaterland drohenden Gefahr“ vorgegangen seien. Können Sie das nachvollziehen?

Nur teilweise. Die einzige Person, die sich im Laufe der Oper tatsächlich stark verändert, ist Pierre. Die Besonderheit dieser Oper liegt darin, dass ihre Vorlage kein Theaterstück ist. Und Prokofjew bestand darauf, den Wortlaut von Tolstois inneren Monologen unangetastet zu lassen. So reden die Personen zwar über ihre Gefühle, aber sie handeln nicht oder fast nicht. Andrei räsoniert ständig über seine Seelenzustände. Auch Natascha erzählt viel von dem, was in ihrer Seele passiert. Das Werk ist eben keine gewöhnliche Oper, aber ein Grenzgänger zwischen den Genres, eine Mischung aus Oper, Lied, sinfonischer Dichtung und Film. Hätte Prokofjew länger gelebt, wäre sicher noch eine dritte Fassung entstanden. Man merkt, wie sehr er mit dem Schluss haderte. Er wusste nicht, wie er die Oper zu Ende bringen sollte.

Für welchen Schluss haben Sie sich entschieden?

Wir spielen den Urschluss aus der ersten Fassung, nur mit der Besonderheit, dass wir am Ende keinen Chor, sondern ein Bühnenorchester (eine Banda) haben. Die ist von Prokofjew als grandioser Kontrapunkt zum finalen Chor komponiert, wobei die Banda die eigentliche melodische Funktion übernimmt, während der Chor nur den ideologisch korrekten Text in einem betont unbeteiligten, fast rezitativischen Ton beisteuert. Daher merkt man den Wegfall des gesungenen Teils gar nicht, so organisch ist die Mischung vom Hauptorchester und Bühnenorchester. Als ich diese Fassung Tcherniakov zeigte, sagte er mir, die besten Opern würden sowieso mit einem großen Orchesternachspiel enden. So entschieden wir uns für ein wortloses Finale. Die letzten gesungenen Worte werden von Pierres Monolog stammen, in dem er von der Notwendigkeit der Besinnung und des Verstehens des Geschehenen spricht.

Krieg und Frieden (Woina i mir)

Hintergründe zum Stück