Reri Grist
Da war diese Vorstellung von Le nozze di Figaro Anfang der 1970er Jahre im Münchner Nationaltheater; Reri Grist sang die Susanna. Nach ihrer Rosenarie („Deh vieni non tardar“) im 4. Akt wurde derart lange applaudiert, dass die Sängerin in aller Ruhe ins Kostüm der Gräfin schlüpfen (was wegen des Kleidertauschs an dieser Stelle ja auch notwendig ist) und danach den unverändert anhaltenden Applaus ein weiteres Mal entgegennehmen konnte: ein Superlativ des Beifalls.
Dabei fing alles ganz anders an im Leben der afroamerikanischen Sopranistin – und es hatte mit Oper nichts zu tun. 1932 geboren, wuchs Reri Grist in New York City auf, in Spanish Harlem, zu einer Zeit strenger Rassentrennung. Sozialer Aufstieg für Schwarze? Einzig möglich durch Sport oder Musik. Schon als Kind sang und tanzte Reri Grist in kleinen Rollen am Broadway. Dann, 1957: die Uraufführung von Leonard Bernsteins West Side Story. „Somewhere“, das ist eigentlich ihr, das ist Reri Grists Lied, von ihr wurde es erstmals auf einer Bühne gesungen. Wenig später war es auch Bernstein, der sie zur Klassik brachte, als er das Sopransolo in Gustav Mahlers vierter Symphonie mit ihr besetzte. Nach dem Sprung vom Broadway-Musical in die Carnegie Hall gelang der Sängerin jener nach Europa Anfang der 1960er Jahre. Als erste Schwarze wurde Reri Grist in Köln Ensemblemitglied eines europäischen Opernhauses. Bald darauf begann ihre beispiellose, bis in die 1990er Jahre währende Karriere und führte sie an alle bedeutenden Opernhäuser der Welt – an denen sie alle Partien sang, in denen bisher ausschließlich weiße Sängerinnen auf der Bühne gestanden hatten.
Ihr Publikum begeisterte sie mit ihrem klaren, vollen, silbrig tönenden, stets sicheren Sopran. Nicht weniger waren es ihre Natürlichkeit, ihr Humor, ihr Charme, mit dem Reri Grist auf der Bühne bestach. Fern lag ihr jede manierierte Anwandlung, das kitschig Süßliche, nie tappte sie in diese Fallen ihres Fachs.
Seit ihrem Einspringen in Ariadne auf Naxos als Zerbinetta 1965 stand Reri Grist in München am häufigsten auf der Bühne: 159 Aufführungen weist das Vorstellungsarchiv nach. Hier war sie Susanna, hier wurde sie gefeiert als Aminta in Die schweigsame Frau, hier sang sie immer wieder Zerbinetta und Gilda, brillierte als Despina und Zerlina, als Blonde in der Entführung aus dem Serail, als Oscar in Un ballo in maschera, als Nannetta im Falstaff, und natürlich war sie „die“ Rosina in Rossinis Barbiere di Siviglia. Am 26. November 1974, der Premiere der Neuinszenierung dieser Oper am Nationaltheater war allerdings für viele in München die (Opern )Welt nicht mehr in Ordnung. In der epochalen Inszenierung von Ruth Berghaus stand ein riesiger weißer Frauentorso auf der Bühne; eine Brustwarze öffnete sich, und aus diesem „Fenster“ sang Reri Grist. Natürlich wurde sie gefeiert, wie immer. Dennoch: eine DDR-Regisseurin und eine schwarze Sängerin, das war für manche im Publikum zu viel der Exotik. Die Premiere endete in einem Skandal.
Erst 1987 verabschiedet sich Reri Grist von ihrem Münchner Publikum: Am 16. Juni sang sie hier ein letztes Mal die Susanna. Aber ihr Wirken in dieser Stadt war noch lange nicht zu Ende. Bis 1997 bekleidet sie die Professur für Gesang an der Münchner Musikhochschule, gab Meisterkurse, engagierte sich weltweit in Opernstudios für junge Sängerinnen und Sänger – unter denen inzwischen viele Schwarze und andere People of Color sind. Inzwischen!
„Mit der Erstaufführung von Kurt Weills Lost in the Stars trat am 18. April 1964 erstmals eine Gruppe farbiger Sänger, an ihrer Spitze Felicia Weathers und William Ray, im Cuvilliés-Theater auf“, notierte Rudolf Hartmann, der damalige Intendant der Bayerischen Staatsoper. Von 1964 war es ein weiter Weg bis zur Selbstverständlichkeit schwarzer Sänger auf der Opernbühne wie Golda Schultz oder Pretty Yende. In München markierten Barbara Hendricks mit einer Vorstellung als Susanna (1988), eine kleine Santuzza-Serie (Cavalleria rusticana) von Grace Bumbry (1990), einige Auftritte von Simon Estes als Fliegender Holländer, Orest (Elektra), König Philipp (Don Carlos) und Amfortas (Parsifal) und ein einziger Liederabend mit Jessye Norman diesen Weg. Die Behauptung also, dass er schnell gegangen wurde, kann man sich abschminken wie Monostatos seine schwarze Farbe. Reri Grist, die heute mit ihrem Mann in Hamburg lebt, ebnete diesen Weg an der Bayerischen Staatsoper am Nachhaltigsten.
Der Geburtstag dieser außergewöhnlichen Künstlerin fällt seit 90 Jahren auf einen außergewöhnlichen Tag: den 29. Februar. Wir gratulieren ihr von Herzen.
Pascal Morché