Annette Baumann (AB): Du interpretierst in La Sylphide mit James nun erstmals die männliche Hauptrolle. Was unterscheidet diese romantische Rolle von anderen, die du bisher getanzt hast, in technischer Hinsicht, aber auch in interpretatorischer?

António Casalinho (AC): Diese romantischen Rollen, egal ob James in La Sylphide oder die Protagonisten von Giselle, sind etwas lyrischer, als die Figuren in anderen klassischen Werke. Was ich bei dem Choreographen Pierre Lacotte besonders mag, ist, dass seine Figuren sehr charakterstark sind. Das sind Charaktere, die durch die Liebe geprägt sind, durch die Gefühle, sie sind romantisch. Technisch ist die Rolle auch anspruchsvoll, aber seine Virtuosität ist eine subtile.
 

AB: Hast du eine Lieblingsstelle in La Sylphide?

AC: Gute Frage. Den Pas de trois im ersten Akt mag ich sehr. Vor allem die Dynamik der Musik in den einzelnen Soli. Jeder Tänzer bzw. Tänzerin erzählt da eine eigene Geschichte, man sieht dass die Situation für alle drei verwirrend ist. Dieser Pas de trois ist ein bisschen wie die Essenz dieses Balletts. Effie verkörpert die wirkliche Welt, die Sylphide ist eine Art Einbildung und verkörpert die Natur und diese beiden Wesen vermischen sich in James‘ Kopf.
 

AB: In dieser Spielzeit zeigt das Bayerische Staatsballett mit La Sylphide und Giselle zwei romantische Handlungsballette aus dem 19. Jahrhundert. Auf der anderen Seite steht bei der Ballettfestwoche ein sehr moderner Dreiteiler mit einem Werk Pina Bauschs auf dem Programm. Was tanzt du lieber?

AC: Ich bin da ein bisschen voreingenommen, tendenziell mag ich das klassische Ballett mehr.
Ballett ist für mich spezifischer, es gibt Vorgaben, die man einhalten muss, um gut zu sein. Ich mag es, die ganzen technischen Anforderungen zu meistern und dabei trotzdem noch in der Lage zu sein, eine Geschichte auf eine persönliche Art und Weise zu erzählen. Wobei moderne Stücke auch toll sind, das Zeitgenössische gibt dir mehr Möglichkeiten, dich auszuprobieren, es steckt vielleicht noch mehr von dir selbst drin. Aber es kommt immer auch auf die Choreographie an.
 

  AB: Hast du ein Lieblingsballett?

AC: Das ist immer das, das ich gerade tanze (lacht)

AB: Du hast mit acht Jahren mit dem Ballett angefangen. Wann wusstest du, dass du Tanzen zu deinem Beruf machen möchtest?

AC: Das kam schleichend. Ich war immer sehr aktiv und habe viel gemacht. Als ich mit Ballett anfing war das nur zum Spaß und wir hatten wirklich viel Spaß. Ich hatte viele Freunde im Ballett und ich bin auch wegen ihnen ins Training gegangen. Dann begannen die Wettbewerbe, national und bald auch international. Meine Lehrer fingen an, mich richtig zu pushen. Sie sagten mir, ich könnte eines Tages Geld mit Ballett verdienen, viel Geld. Ich war noch jung, ich habe damals gedacht, dass ich mir dann einen Ferrari kaufen könnte oder eine Insel (er lacht). Irgendwann wurde das dann alles ernster. Es gab nicht diesen einen Moment, Ballett war einfach Teil meiner Erziehung. Ich mag diese harte Arbeit, die Routine.
 

AB: Im Anschluss an dein James-Debüt wurdest du überraschend von Laurent Hilaire zum Principal Dancer befördert. Wir fühlst du dich nun als Erster Solist?

AC: Im Grund hat sich nicht viel verändert. Ich bin immer noch derselbe Mensch. Der größte Unterschied liegt in der Motivation. Man sieht das auch an den anderen Tänzer:innen, die gerade befördert wurden: Sie sind selbstsicherer geworden, wollen noch mehr arbeiten, sind super motiviert. Das trifft auch auf mich zu.
 

AB: Bereits vor deiner Promotion wurdest du von der Zeitschrift Dance Europe als 'Tänzer des Jahres' nominiert. Was bedeuten dir Preise?

AC: Für mich geht es eher um die Anerkennung des Publikums, als um den Preis. Wobei es natürlich auf die Auszeichnung ankommt. Wenn es ein Wettbewerb ist, dann machst du das, um dich mit anderen Tänzern zu messen. Und das Ergebnis ist in der Regel sehr subjektiv. Der Preis von 'Dance Europe' ist allgemeiner, da kann jeder abstimmen. Wir Tänzer sind Künstler und wir leben vom Feedback unseres Publikums. Mir ist es lieber, wenn ich an zweiter oder dritter Stelle stehe und alle denken, ich sollte an erster Stelle sein. Das ist besser als umgekehrt, wenn ich ganz vorne stehe und alle der Meinung sind, da gehört der eigentlich nicht hin.
 

AB: Was war dein bisher schönster Moment auf der Bühne? Gibt es so etwas in deiner noch jungen Karriere?

AC: Ich erinnere mich an das allererste Mal, als ich hier in München auf der Bühne stand. Das war in Balanchines Jewels, ich war in Diamonds als Corps-de-ballet-Tänzer besetzt – das war auch das einzige Corps de ballet-Stück, das ich gemacht habe. Ich war sehr beeindruckt davon, zum ersten Mal mit Orchester zu tanzen. Das war ein ganz neues Gefühl für mich. Am Ende gab es diesen Moment, da standen die Principals Madison (Young) und Jinhao (Zhang) vorne und verbeugten sich. Ich war in diesem Moment einfach so glücklich, da zu sein. Und ich habe mir selber gesagt: Dort werde ich in ein paar Jahren auch stehen.
Außerdem gab es noch mein Mercutio-Debüt in Romeo und Julia. Das war auch ein ganz besonderer Augenblick auf der Bühne. Nicht nur auf der Bühne, das war der gesamte Prozess, die ganze Probenarbeit, an die ich mich als etwas Besonderes erinnere. Besonders mag ich die Kampfszene mit dem Todeskampf am Ende. Die Szene ist ziemlich stressig, weil so viel gleichzeitig passiert und du die ganze Zeit spielen musst. Ich habe das mit Osiel zusammen gemacht und ich erinnere mich ganz genau, wie wir uns zum letzten Mal umarmen. Ich weiß noch, wie ich ihn angeschaut habe und diese Verbindung gespürt habe. Diese Gegenseitigkeit. Ich war so auf mein Schauspiel fokussiert und dann schaue ich ihn an und auch er ist ganz in seiner Rolle und hat darauf reagiert, was ich gemacht habe. In dem Moment habe ich fast angefangen zu weinen.
 

AB: Auf was freust du dich in dieser Saison am meisten?

AC: Tatsächlich ist mir mein James-Debüt sehr wichtig. Und dann freue ich mich auf den Romeo. Ich studiere aktuell die Titelpartie ein, nachdem ich schon den Mercutio machen durfte letzte Spielzeit. Es fühlt sich fast ein bisschen seltsam an, jetzt auf der anderen Seite zu stehen. Ich finde es sehr aufregend, nun in die Rolle des Romeo zu schlüpfen und so eine große Geschichte zu erzählen, die jeder kennt.
 

AB: Mit welcher Tänzer:in aus der Vergangenheit hättest du gerne einmal auf der Bühne gestanden?

AC: Mikhail Baryshnikov. Mit ihm hätte ich gerne die Bühne geteilt, das muss ein besonderes Gefühl gewesen sein.

 

AB: Vielen herzlichen Dank für deine Zeit und das Gespräch!

 

                                                                   Das Interview wurde geführt von Annette Baumann