Semele
Sie ist Statistin ihres eigenen Lebens. Die eigene Lebensrealität ist ihr fremd. Semele wird von ihrem Vater zur Ehe mit Athamas gedrängt und findet sich schlagartig in ihrer eigenen Hochzeitszeremonie wieder, durch die Heiratsindustrie zu einer pompösen Hollywoodszenerie hochgeschraubt. Indem sie sich selbst von außen zu beobachten beginnt, erschafft sie als scheinbaren Ausweg eine Parallelrealität, die sie über ihr Leben stülpt, wo all ihre Sehnsüchte gestillt werden: ein verständiger Vater, ein liebender Ehemann, Selbstbestimmung, kurzum: die Erfüllung. Allerdings temporär und vor allem irreal. Am Ende stünde der Weg zurück in ihr tatsächliches Leben an, in dem sie flugs als Ehefrau durch ihre Schwester Ino ausgetauscht wurde, weil sie ihrer dort zugeteilten Rolle nicht gerecht werden konnte. Semele, physisch anwesend, wird psychisch den Weg in die Realität nicht zurückfinden. Ihr Verstand wird durchglühen. Zu sehr hatte sie sich von der Normalität entfernt. Zu wenig deckten sich die starren Erwartungen an sie als Individuum mit ihrem eigenen Willen. Dieser Grundkonflikt der Semele wurde von William Congreve und Georg Friedrich Händel aus Ovids Metamorphosen in die für die Barockoper gängigen Erzählstrukturen gebettet. Heute kann es auch der Blick auf die einengende Macht des bürgerlichen Korsetts sein.