Menschen haben die trügerische Hoffnung, dass die Entladung der Gewalt die Gewalt bremst.

Andreas Zick über Gruppenkonflikte, Identitätsvorstellungen als Ursache von Gewalt und deren Zähmung. 

Lesedauer: 10 min. 

Das Team um Regisseur Damiano Michieletto setzt sich unter anderem mit der Theorie von René Girard auseinander, die in letzter Zeit wieder einige Resonanz erfährt: Aidas und Radamès‘ Tod wird gedeutet als Opfertod, der der Vergemeinschaftung und Befriedung einer Gesellschaft und zur Überwindung von deren Krise zu dienen scheint. Braucht unsere säkularisierte, rationale Gesellschaft so etwas wie Sündenböcke" noch?


Nein, niemand braucht Sündenböcke, weil die Vertreibung der Sündenböcke in die Wüste, ihre Herabwürdigung, ihre Vernichtung nicht den gewünschten Effekt bringt und eine Frustrations- Aggressions-Hypothese nicht stimmt:
Die Aggression gegen den Sündenbock hilft nicht, die Frustration abzubauen. Es hat einen kurzfristigen Effekt, der nicht hält. Daher werden ständig neue Sündenböcke gesucht. Außerdem blendet es aus, wer denn tatsächlich Personen oder Gruppen zu Sündenböcken erklärt.

Es ist das Gruppengefühl, gesiegt zu haben, das den Effekt erzeugt, die kollektive Euphorie, die verblendet, was eigentlich passiert. Wir suchen in Krisen Sündenböcke eigentlich nur, weil uns eingeredet wird, dass es sie gibt. Da halte ich es mit den Fragen des epischen Theaters, die heißen könnten:

Wer hat ein Interesse daran, uns den Sündenbock schmackhaft zu machen? Was gibt die Vertreibung vor? Ist das, was wir sehen, das reale Verhältnis oder spielen wir das uns vorgegaukelte Spiel der Vertreibung und der Dominanz nach?


Welche Funktion, welche Ausprägung haben diese Sündenböcke‘?

Sündenböcke, oder eben „Outgroups“, sind hoch relevant für Propaganda und Agitation. Die Agitation holt Menschen bei der Ohnmacht ab und verstärkt sie. Sie gaukelt uns vor, wer für die Ohnmacht verantwortlich ist. Dazu wird ein Sündenbock kreiert, werden ganze Herden zusammengestellt. Dann wird uns vorgespielt, dass diese illegitimer Weise Macht und Einfluss haben und es wird uns ein Weg gewiesen: Schließt euch uns an, distanziert euch von dem System, in dem die Sündenböcke Macht erhalten. Schließt euch zusammen!
Wir bieten euch etwas: eine Identität, die mit Zugehörigkeit, Macht und Einfluss, mit einer Weltsicht und Erkenntnis, Selbstwert und einem Vertrauen verbunden ist.

Die Sündenböcke haben also eine Funktion im Radikalisierungsprozess. Ob sie welche sind, hängt davon ab, ob unsere Umwelt den Eindruck teilt – Sündenböcke sind sozial konstruiert. Gruppen erklären Menschen zu „den Anderen“, schreiben ihnen Merkmale zu, bürden ihnen Verantwortung für Missgeschicke und Sünden auf, die sie selbst erzeugt haben. Denn darum geht es in der alttestamentarischen Geschichte.


Grundsätzlich gefragt: Wie definieren Sie Gewalt?

Gewalt ist zunächst einmal ein Verhalten, welches vorsätzlich eine andere Person, eine Gruppe wie auch Institutionen schädigt. Gewalt sucht das Recht von anderen zu brechen, Zwang auszuüben oder sie zu zerstören.

Es gibt viele Ausformungen der Gewalt: Wir denken vielleicht zuerst an die physische Gewalt, die direkt gegen andere gerichtet ist. Gewalt kann auch psychisch erfolgen und andere seelisch zu quälen suchen. Dazu gehört die verbale Gewalt durch Beleidigungen, die symbolische Gewalt durch Bilder, die andere zerstören will.

Mit Blick auf die neuen digitalen Welten und sozialen Medien wissen wir, dass Gewalt durch Hassrede und Hassbilder erfolgen kann und so Menschen schädigen will, gegen ihren Willen. Gewalt kann direkt gerichtet sein, oder auch indirekt durch das Unterlassen von Hilfe. Gewalt kann gebilligt wie legitimiert werden.

Der Friedens- und Konfliktforscher Johann Galtung hat neben der personalen Gewalt auch die strukturelle und kulturelle Gewalt unterschieden. Die strukturelle Gewalt begreift Gewaltentwicklungen als Prozess. Die Folgen der Gewalt sind nicht beabsichtigt, die Opfer nicht aktiv ausgewählt, sondern Betroffene eines Systems. Menschen in Pflege, Menschen, die in rassistischen Systemen leben, erfahren diese Gewalt und können oft die Ursachen nicht kenntlich machen, sind den Strukturen ausgeliefert und die Täter:innen erkennen selbst nicht, dass sie Gewalt ausführen. Die kulturelle Gewalt drückt sich in der Grundhaltung einer Gesellschaft gegenüber der Gewalt aus. Sie kann in der Sprache, der Kunst, dem Recht, der Wissenschaft, in Medien, Erziehung und Religion verankert sein.

Menschenfeindlichkeiten sind ein Seismograph dieser Gewaltformen. Auch Vorurteile, die andere durch stereotype oder rassistische Zuschreibungen entwürdigen oder dehumanisieren sind Formen der Gewalt. Einige Formen sind leicht zu erkennen, andere Formen bleiben oft im Verborgenen. Sie geraten nicht ans Tageslicht, weil die Opfer keine Stimme haben, sich vor Scham nicht äußern oder sie wissen, wenn ihre Gewalt zur Sprache kommt, werden sie eventuell ein zweites Mal herabgewürdigt.

Einige Formen der Gewalt äußern sich in Aggressionen, insbesondere in so genannten Mikroaggressionen im Alltag. Gemeint sind alltägliche Verhaltensweisen, verbale und nonverbale Botschaften an andere, die sich auf ihre Gruppenmitgliedschaft beziehen.


Hier wird man auch bei Aida fündig ...

Amneris zeigt in der Oper einige solcher Botschaften an Aida. Darunter fallen Verhaltensweisen, die weniger schädigend erscheinen, wie Beleidigungen, Klatsch und Tratsch, Gerüchte, scheinbar legitime Kritik, Leugnungen von Herabwürdigungen. Gewalt ist von Aggression getragen, die gewissermaßen das Verhältnis von Amneris gegen Aida prägt. Aggressionen suchen das Recht der anderen zu brechen. Viele Aggressionen sind Beziehungsaggressionen, bei denen die Beziehung zu anderen das Vehikel ist um sie zu schädigen.

Und noch einmal: In der Forschung wie auch in der Gesellschaft kennen wir längst nicht alle Formen der Gewalt, sind erschrocken und hilflos, wenn sie dann plötzlich erscheint, weil sie zufällig sichtbar wird und die Legitimität der Schädigung nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Die Gewalt gegen Frauen, gegen Menschen mit anderer sexueller Orientierung, gegen Kinder war bis in das 20. Jahrhundert legitim und doch war es Gewalt.

Und mit Blick auf Aida und das, was Giuseppe Verdi über das Verhältnis zwischen persönlicher Liebe und dem Krieg zwischen Völkern vorführt, ist auch die staatliche Gewalt im Blick zu halten. Aida ist eine Sklavin, und Machtdemonstrationen, wie der Triumphmarsch in dieser Oper, zeigen auch Möglichkeiten, Gewalt durchzusetzen.
 

Haben alle gewalttätigen Konflikte etwas gemeinsam?

Alle Konflikte, die so weit eskalieren, dass sie mit Gewalt ausgehandelt werden, basieren auf Identitätsvorstellungen und weniger auf Konflikten um begrenzte Ressourcen oder Mittel.

In Aida geht es selbst auf der Ebene der Liebe zwischen Personen um den Konflikt zwischen Nationen, die das Liebesschicksal prägen. Wenn in Konflikten eine Partei die Identität eines „Wir sind höherwertiger“ annimmt und die Herstellung ihrer Dominanz und Höherwertigkeit zum Ziel macht, auch wenn dabei Verluste in den eigenen Reihen in Kauf genommen werden müssen, dann kippen Konflikte in Gewalt.


Gibt es gute" und schlechte" Gewalt?

Für die Forschung gibt es keine gute Gewalt, wie sie vielleicht in Bildern der reinigenden Gewalt, der Selbstkasteiung oder der Befreiung von Trieben durch karthatische Gewalt angedacht werden können.

Weder das psychoanalytische Modell der Entladung von Frustration und Reinigung durch Gewalt, noch das ethologische Dampfkesselmodell – Frustration staut sich an und wie in einem Dampfkessel entlädt sie sich als Gewalt und ist danach vorbei – haben sich in empirischen Studien als belastbar erwiesen.


An diesen Modellen wird dennoch hartnäckig festgehalten ...

Menschen haben die trügerische Hoffnung, dass die Entladung der Gewalt die Gewalt bremst. Mächtige gaukeln uns vor, die Gewalt habe etwas Nützliches. Hoch aggressive und gewaltbilligende Menschen werden aber nicht sanftmütiger, wenn sie lange auf einen Sandsack eindreschen; ich könnte Befunde aus der Forschung zitieren. Frustrationen sind nicht vorbei, wenn Hass und Wut ausgesprochen werden. Gewalt ist natürlich, Gewalt ist menschlich, aber unser Prozess der Zivilisation hängt von der Zähmung der Gewalt ab.

Genau davon berichtet Verdis Oper und sie berichtet obendrein davon, dass die Unterwerfung unter eine Staatsräson, die Gewalt bedeutet, keine Lösung ist.


Wir erleben gerade eine Neubewertung dieser zvilisatorischen Leistung: Der gesellschaftliche Konsens geht in die Richtung, das (militärische) Gewalt wieder legitimiert ist. Ist so eine gesellschaftliche Entwicklung nach Beendigung eines Krieges rückgängig zu machen?

Der Krieg Russlands drängt auf absolute Unterwerfung und dagegen setzen die Ukraine und der Westen das Modell einer selbstbestimmten demokratischen Zivilgesellschaft; zumindest hoffen wir das. Russland hat einen massiven Rückschritt gemacht, hat ein Tabu gebrochen, einen Zivilisationsbruch, der mit Blut-und-Boden-Ideologien und Geschichtsverdrehungen gerechtfertigt wird.

Gewalt ist ein Zivilisationsbruch. Krieg ist ein Rückschritt, zumal die Weltgemeinschaft ganz andere Herausforderungen hat.

Andreas Zick

Prof. Dr. Andreas Zick ist seit 2013 Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) und Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an der Universität Bielefeld. 1996 promovierte er an der Philipps-Universität Marburg zum Thema Vorurteile und Rassismus: Eine sozialpsychologische Analyse, 2009 folgte die Habilitation an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit der Habilitationsschrift Sozialpsychologie der Akkulturation: Neufassung eines Forschungsbereiches. 2016 erhielt er den Communicator-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Intergruppenkonflikte, Vorurteile und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Radikalisierung und Extremismus sowie Migrationsund Integrationsprozesse.

Kann man gewaltvolle Konflikte zur Entstehungszeit von Aida, im sich formierenden Italien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit Konflikten in heutigen westlichen Gesellschaften vergleichen?

Gegenfrage: Warum bannt uns die Oper, warum finden wir die Musik, den Gesang so hinreißend und tun uns das alles an? Die Oper ist gewissermaßen auch ein Gewaltnarrativ jenseits ihrer Zeitgeschichte.

Aida ist in einer Zeit entstanden, die nicht einfach auf heutige Verhältnisse angewendet werden kann, aber wir leben in Zeiten eines Krieges, in denen sich wieder ein Feldherr aufschwingt, ein Land zu befreien und alle Propaganda und Agitation bemüht, um anderen seine Kultur und Identität aufzuzwingen. Der historische Kontext der Oper, die Zeit des deutschfranzösischen Krieges, gehört meines Erachtens zum heutigen Verständnis dieser Oper.

Aida legt aber vor allem den Blick auf den Nexus zwischen staatlichen Interessen und persönlichen Beziehungen. Staatliche Macht mischt sich mit familiären Verhältnissen. Staatliche Kriege werden auch heute in Teilen von familiären Beziehungsgefügen geprägt, so kurios es klingt. Diktatoren und Führer autoritärer Regime versuchen durch persönliche Netzwerke ihre Macht zu erhalten und Gewalt zu legitimieren. Und auch heute werden in Kriegen Sklav:innen gemacht und gehalten, Menschen vertrieben, Gruppen ausgelöscht und manchmal aus den banalsten Gründen der Täter:innen.
Und nicht zuletzt ist die Gewalt bis heute in vielen Teilen ein männliches Phänomen. Aida ist ein guter Anlass, die Gewalt zu sehen, sie zuzulassen, die Schädigungen zu erkunden.


Gibt es konkrete Erkenntnisse oder Studien dazu, was wir aus dieser Art von „kultureller Erkundung“ erlernen können hinsichtlich unseres Gewaltverhaltens?

Ich könnte auf experimentelle psychologische Forschung verweisen, die zeigt, dass wir zum Bremsen von Vorurteilen und Herabwürdigungen als Menschen am besten aus dem direkten Kontakt zu jenen, die wir ablehnen, lernen.
Dies funktioniert auch, wenn wir es medial erfahren. Wir sehen in der Oper, wie Begegnungen verfeindeter Menschen verlaufen, wie fatal Gewalt ist. Das kann uns bremsen, Gewalt zu billigen und gut zu finden.

Aber Vorsicht: Die Kultur wird auch angewendet, um Macht zu stabilisieren und Gewalt zu rechtfertigen. Daher wirkt die Oper allein eher nicht präventiv. Es kommt auf die Inszenierung an, den Ort, wo sie gezeigt wird und die Idee all jener, die sie umsetzen.


Haben wir seit dem 19. Jahrhundert dazugelernt?

Die Weltgesellschaft hat mit den beiden Weltkriegen und der systematischen Vernichtung von Gruppen und Völkern, nach der Schoah und den nachfolgenden bestialischen Vernichtungskriegen in vielen Teilen der Welt mehr und mehr Institutionen eingerichtet, um die Gewalt zu zähmen.
Sie sollen die Normen und Regeln setzen, Recht durchsetzen und ermöglichen, die Völkerverständigung so gestalten, dass Gewalt besser aufgedeckt, verfolgt und geächtet werden kann. Der Krieg Russlands in der Ukraine wird heute begleitet von einem massiven Programm, um die Kriegsschäden zuverlässig und für Gerichte nachvollziehbar zu dokumentieren und die Rechtsprechung vorzubereiten. Der russische Präsident ist angeklagt. Wir haben heute ein Modell einer Zivilgesellschaft, welche den gewaltfreien Weg und das Gewaltmonopol des Staates gegen die diktatorische Herrschaft setzt. Wir haben einen stärkeren Glauben in die Demokratie entwickelt.

Auch die Abhängigkeit der Staaten voneinander kann Gewalt bremsen. Auf der anderen Seite ist aber auch der Krieg moderner geworden. Staaten führen Informationskriege. Die Waffen sind durchschlagkräftiger geworden, können stärker und kurzfristiger Leben vernichten. Heute werden moderne Kriege anders geführt.


Sie beschäftigen sich auch mit den Dynamiken von Gruppenkonflikten inmitten unserer Gesellschaft, in westlichen Demokratien. Wie funktionieren diese Gruppenkonflikte?

Wir beschäftigen uns mit der Frage, wie sich der Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und andere neue rechte Orientierungen mitten in der Gesellschaft ausbreiten, menschenfeindliche Ideologien, rassistische Ausgrenzungen und Herabwürdigungen in die Mitte vordringen und zu Verschiebungen von Normalität, auch zu Akzeptanz von Gewalt, führen. Wir versuchen zu verstehen, warum Menschen Verschwörungsmythen glauben, sich neuen demokratiedistanten Gruppen anschließen, mit Rechtsradikalen gemeinsam „gegen das System" protestieren, die eine andere Gesellschaftsordnung notfalls mit Gewalt durchsetzen möchten.

Wir beschäftigen uns mit der Frage, warum Menschen andere töten oder töten wollen, ausgrenzen und ausweisen wollen, weil sie ihren Vorstellungen nicht entsprechen.

Was zeigen Ihre Studien?

Dass Konflikte in Gewalt eskalieren, wenn sich eine Gruppe in einer Weise radikalisiert, dass ihre Mitglieder sich mit ihr überbordend identifizieren, Regeln von fairer Konfliktaustragung infrage stellen, Feindbilder entwickeln, die die Feinde für alles verantwortlich machen und dann „ihr System" und die Unterwerfung einfordern.

Dabei sind die Gruppen so organisiert, dass sie ihre Mitglieder ständig mit Propaganda beliefern und befeuern und unter Umständen die Idee, gemeinsam unterzugehen, dominant wird.


Was löst Gruppenkonflikte aus, was kann sie wieder befrieden?

Oft sind es dritte Gruppen, Außengruppen, die den Konflikt moderieren müssen, um Eskalationen zu bremsen. Bei Vorurteilen und Feindbildern helfen Kontakte zwischen den Gruppen. Der Kontakt, das Kennenlernen, die Erfahrung von Gemeinsamkeit ist der Königsweg gegen Vorurteile, weniger die Belieferung mit Informationen, die Bildung darüber, dass die Konfliktpartner nicht so sind, wie es das Vorurteil vormacht. Bei einigen gesellschaftlichen Gruppen, die im Konflikt sind, hilft auch eine Veränderung der Kontexte, der Räume, der Institutionen.

Wir haben beobachtet, wie Konflikte zwischen Gruppen in Geflüchteten- Unterkünften entstehen und sich lösen, wenn Menschen eine Privatsphäre gegeben wird, wenn die Räume menschenwürdiger werden. Auch die Kultur, das gemeinsame Erleben und Erfahren von Kultur, ist letztendlich befriedend.


In welcher Beziehung stehen Gruppenkonflikte und jede:r Einzelne?

Wir gehen davon aus, dass Menschen Identitäten haben, die sich durch unterschiedliche Selbstkonzeptanteile konstituieren. Unsere Identität ist die Antwort auf die Frage: Wer bin ich? Das können wir beantworten, indem wir mit anderen in Interaktion treten, Beziehung haben und nicht nur Rückmeldung geben, sondern andere zu einem wichtigen Teil unserer Identität werden.

Dabei können wir nach Forschungslage zwischen zwei Identitäten unterscheiden. Menschen haben eine personale Identität, die aus gemeinsamen engen Begegnungen mit anderen zustande kommt. Davon abzugrenzen ist die soziale Identität, die vollständig von der Zugehörigkeit zu Gruppen gespeist wird und von Gruppen abhängt. Soldaten im Krieg sind bereit, andere zu töten, die ihrem personalen Selbstkonzept vielleicht sehr ähnlich sind. Sie sind bereit den Nachbarn zu töten, gleich jeder Freundschaft. Zugleich sind Individuen motiviert, ihr Selbstkonzept als wertvoll zu betrachten, Selbstwert mit ihrem Selbstkonzept zu schöpfen.

Der Selbstwert, der mit der sozialen Identität verbunden ist, ist durch die Bewertung der Gruppe bestimmt und diese kann sich durch die Abwertung der anderen definieren, der Gruppen, die von der eigenen abgegrenzt werden. In dem Maße wie die Bezugsgruppe andere abwertet, herabwürdigt, kann das zum Selbstwert der sozialen Identität beitragen. Und damit sind wir wieder bei einer der wesentlichsten Ursachen des Konfliktes: Die anderen werden angegriffen, um die Reihen der Bezugsgruppen zu schließen, Selbstwert zu gewinnen und höherwertig zu erscheinen.

Kann man sich Gruppenkonflikten entziehen?

Wir können es kaum, wenn der Selbstwert und die Identität von den Gruppen abhängen. Gruppen üben auch Druck auf Mitglieder aus, wenn sie sich von der Gruppe wegbewegen. Individuen kommen leichter aus dem Gruppenkonflikt, wenn die Gruppengrenzen durchlässiger sind, sie ein alternatives Gruppenangebot haben, die Gruppe wenig Bindekraft hat und der Selbstwert alternativ aufgebaut werden kann. Menschen, die alternativen Selbstwert außerhalb der Gruppe erhalten, sind besser geschützt. Und schließlich verlangt die Demokratie mit ihrer Zivilgesellschaft Solidarität, Anerkennung von Gleichwertigkeit anderer und Courage. Zivilcourage heißt auch, sich Gruppen nicht leichtfertig zu unterwerfen, nicht autoritär gehorsam zu sein, weil das Sicherheit schafft.

Zivilcourage heißt, sich vor Minderheiten zu stellen und nicht Gruppenkonflikte entscheiden zu lassen. Und auf einer gesellschaftlichen Ebene haben wir Instanzen, die versuchen, den Gruppenkonflikt zu lösen und zu entschärfen, sowie durch Menschenrechte Menschen von gewaltorientierten Konflikten zu schützen.

Daher ist es oft notwendig, Gruppenkonflikte durch eine kluge Moderation zu begleiten, um Menschen die Möglichkeiten zu geben, sich den Konflikten zu entziehen.


Wie wird gesellschaftlicher Zusammenhalt verstärkt in Demokratien?

Indem Werte und Normen von Solidarität vertreten wie ausgeübt werden. In Katastrophenlagen, in der Pandemie, den jetzigen Krisen erleben Menschen Zusammenhalt und Einbindung. Wir sollten Zusammenhalt nur nicht zu einer Schimäre, einem Symbol in einer politischen Sonntagsrede verkommen lassen und aufpassen, was und wen wir mit Zusammenhalt einschließen und ausschließen.

Zusammenhalt bedeutet, dass Gruppen Zugehörigkeit, Bindung, Teilhabe und Wertschätzung wie Hilfe in der Not erfahren. Aber dabei sollte der gesellschaftliche Zusammenhalt offen sein für alle, selbst wenn sie uns fremd und anders erscheinen. In unserer letzten repräsentativen Umfrage, der sogenannten Mitte-Studie zum Jahreswechsel 2020/21 haben wir feststellen können, dass Menschen, die den Zusammenhalt in Deutschland gefährdet sehen, höhere Zustimmungen zu allen Formen rechtsradikaler Meinungen wie auch zu Vorurteilen gegenüber vielen gesellschaftlichen Minoritäten haben. Das weist darauf hin, dass wir in Deutschland in weiten Teilen unter Zusammenhalt den Zusammenhalt einer national homogen gedachten Mehrheitsbevölkerung meinen und nicht jene mitdenken, die Minderheiten angehören. Ihr Zusammenhalt wird infrage gestellt, sie werden durch unseren Zusammenhalt zu den anderen gemacht. Das ist ein fragiler wie auch demokratisch fragwürdiger Zusammenhalt.


Giuseppe Verdi war Humanist, aber am Ende kein Optimist, da veranschaulicht Aida: Er glaubte nicht daran, dass die Menschheit gewalttätige Konflikte dauerhaft überwinden kann. Hat Verdi recht?

Die Gewaltforschung zeigt, viele Formen der Gewalt nehmen ab, selbst wenn das Ausmaß an Hass und Gewalt gerade in unserem Land extrem hoch ist, wie Kriminalstatistiken zeigen.

Wir könnten mit Verdi auch fragen: Wieviel Gewalt akzeptieren wir? Was ist unser Maximal-, was das Minimalziel? Der Prozess der Zivilisation ist ein Prozess der Gewaltkontrolle. Wir haben heute weniger rassistische Rechtsprechungen, die auf Rassetheorien beruhen und die Gewalt legitimieren. In der erwähnten Mitte-Studie stand in der Corona-Pandemie der Rechtsextremismus als Bedrohung an erster Stelle vor allen anderen Bedrohungen.

Das sind positive Zeichen, die Verdis Annahme widersprechen. Aber es ist nicht die ganze Geschichte. Die Hasstaten steigen, der Krieg ist zurück in Europa, die Zahl der bewaffneten Konflikte und Kriege ist angestiegen. Die Welt ist unfriedlicher als vor Jahren und Konflikte und Gewalt schieben sich in die neuen digitalen Welten, die es erschweren, die Zivilgesellschaft widerständig gegen Konflikte zu machen. Vielleicht leben wir in einer neuen Epoche der Ungewissheiten. Die Zeiten waren immer ungewiss, aber die Gesellschaft beschleunigt sie mit ihren neuen technischen Möglichkeiten und in der Einsicht, dass die Konflikte vielmehr global verbunden sind als wir es uns vorgemacht haben. Insofern stehe ich in der ungewissen Zone zwischen Verdi und dem Prinzip Hoffnung, dass es bei Verdi auch gibt. Wir müssen nur genau zuhören und hinsehen. Es kommt weniger auf Verdi oder mich an, sondern vielleicht vielmehr auf das Publikum, wenn es die Oper verlässt. 

 

Die Fragen stellte Katharina Ortmann 

Das Motiv stammt aus der Serie War Rooms des Fotografen Christopher Nunn. In seiner Dokumentation  fotografierte Nunn durch Konflikt beschädigt und veränderte Schulen, Büros, Kulturgebäude, Wohnblocks und Privathäuser in der Ukraine.

AIDa

Oper in vier Akten (1871)