Menschen haben die trügerische Hoffnung, dass die Entladung der Gewalt die Gewalt bremst.
Andreas Zick über Gruppenkonflikte, Identitätsvorstellungen als Ursache von Gewalt und deren Zähmung.
Lesedauer: 10 min.
Das Team um Regisseur Damiano Michieletto setzt sich unter anderem mit der Theorie von René Girard auseinander, die in letzter Zeit wieder einige Resonanz erfährt: Aidas und Radamès‘ Tod wird gedeutet als Opfertod, der der Vergemeinschaftung und Befriedung einer Gesellschaft und zur Überwindung von deren Krise zu dienen scheint. Braucht unsere säkularisierte, rationale Gesellschaft so etwas wie „Sündenböcke" noch?
Nein, niemand braucht Sündenböcke, weil die Vertreibung der Sündenböcke in die Wüste, ihre Herabwürdigung, ihre Vernichtung nicht den gewünschten Effekt bringt und eine Frustrations- Aggressions-Hypothese nicht stimmt:
Die Aggression gegen den Sündenbock hilft nicht, die Frustration abzubauen. Es hat einen kurzfristigen Effekt, der nicht hält. Daher werden ständig neue Sündenböcke gesucht. Außerdem blendet es aus, wer denn tatsächlich Personen oder Gruppen zu Sündenböcken erklärt.
Es ist das Gruppengefühl, gesiegt zu haben, das den Effekt erzeugt, die kollektive Euphorie, die verblendet, was eigentlich passiert. Wir suchen in Krisen Sündenböcke eigentlich nur, weil uns eingeredet wird, dass es sie gibt. Da halte ich es mit den Fragen des epischen Theaters, die heißen könnten:
Wer hat ein Interesse daran, uns den Sündenbock schmackhaft zu machen? Was gibt die Vertreibung vor? Ist das, was wir sehen, das reale Verhältnis oder spielen wir das uns vorgegaukelte Spiel der Vertreibung und der Dominanz nach?
Welche Funktion, welche Ausprägung haben diese „Sündenböcke‘?
Sündenböcke, oder eben „Outgroups“, sind hoch relevant für Propaganda und Agitation. Die Agitation holt Menschen bei der Ohnmacht ab und verstärkt sie. Sie gaukelt uns vor, wer für die Ohnmacht verantwortlich ist. Dazu wird ein Sündenbock kreiert, werden ganze Herden zusammengestellt. Dann wird uns vorgespielt, dass diese illegitimer Weise Macht und Einfluss haben und es wird uns ein Weg gewiesen: Schließt euch uns an, distanziert euch von dem System, in dem die Sündenböcke Macht erhalten. Schließt euch zusammen!
Wir bieten euch etwas: eine Identität, die mit Zugehörigkeit, Macht und Einfluss, mit einer Weltsicht und Erkenntnis, Selbstwert und einem Vertrauen verbunden ist.
Die Sündenböcke haben also eine Funktion im Radikalisierungsprozess. Ob sie welche sind, hängt davon ab, ob unsere Umwelt den Eindruck teilt – Sündenböcke sind sozial konstruiert. Gruppen erklären Menschen zu „den Anderen“, schreiben ihnen Merkmale zu, bürden ihnen Verantwortung für Missgeschicke und Sünden auf, die sie selbst erzeugt haben. Denn darum geht es in der alttestamentarischen Geschichte.
Grundsätzlich gefragt: Wie definieren Sie Gewalt?
Gewalt ist zunächst einmal ein Verhalten, welches vorsätzlich eine andere Person, eine Gruppe wie auch Institutionen schädigt. Gewalt sucht das Recht von anderen zu brechen, Zwang auszuüben oder sie zu zerstören.
Es gibt viele Ausformungen der Gewalt: Wir denken vielleicht zuerst an die physische Gewalt, die direkt gegen andere gerichtet ist. Gewalt kann auch psychisch erfolgen und andere seelisch zu quälen suchen. Dazu gehört die verbale Gewalt durch Beleidigungen, die symbolische Gewalt durch Bilder, die andere zerstören will.
Mit Blick auf die neuen digitalen Welten und sozialen Medien wissen wir, dass Gewalt durch Hassrede und Hassbilder erfolgen kann und so Menschen schädigen will, gegen ihren Willen. Gewalt kann direkt gerichtet sein, oder auch indirekt durch das Unterlassen von Hilfe. Gewalt kann gebilligt wie legitimiert werden.
Der Friedens- und Konfliktforscher Johann Galtung hat neben der personalen Gewalt auch die strukturelle und kulturelle Gewalt unterschieden. Die strukturelle Gewalt begreift Gewaltentwicklungen als Prozess. Die Folgen der Gewalt sind nicht beabsichtigt, die Opfer nicht aktiv ausgewählt, sondern Betroffene eines Systems. Menschen in Pflege, Menschen, die in rassistischen Systemen leben, erfahren diese Gewalt und können oft die Ursachen nicht kenntlich machen, sind den Strukturen ausgeliefert und die Täter:innen erkennen selbst nicht, dass sie Gewalt ausführen. Die kulturelle Gewalt drückt sich in der Grundhaltung einer Gesellschaft gegenüber der Gewalt aus. Sie kann in der Sprache, der Kunst, dem Recht, der Wissenschaft, in Medien, Erziehung und Religion verankert sein.
Menschenfeindlichkeiten sind ein Seismograph dieser Gewaltformen. Auch Vorurteile, die andere durch stereotype oder rassistische Zuschreibungen entwürdigen oder dehumanisieren sind Formen der Gewalt. Einige Formen sind leicht zu erkennen, andere Formen bleiben oft im Verborgenen. Sie geraten nicht ans Tageslicht, weil die Opfer keine Stimme haben, sich vor Scham nicht äußern oder sie wissen, wenn ihre Gewalt zur Sprache kommt, werden sie eventuell ein zweites Mal herabgewürdigt.
Einige Formen der Gewalt äußern sich in Aggressionen, insbesondere in so genannten Mikroaggressionen im Alltag. Gemeint sind alltägliche Verhaltensweisen, verbale und nonverbale Botschaften an andere, die sich auf ihre Gruppenmitgliedschaft beziehen.
Hier wird man auch bei Aida fündig ...
Amneris zeigt in der Oper einige solcher Botschaften an Aida. Darunter fallen Verhaltensweisen, die weniger schädigend erscheinen, wie Beleidigungen, Klatsch und Tratsch, Gerüchte, scheinbar legitime Kritik, Leugnungen von Herabwürdigungen. Gewalt ist von Aggression getragen, die gewissermaßen das Verhältnis von Amneris gegen Aida prägt. Aggressionen suchen das Recht der anderen zu brechen. Viele Aggressionen sind Beziehungsaggressionen, bei denen die Beziehung zu anderen das Vehikel ist um sie zu schädigen.
Und noch einmal: In der Forschung wie auch in der Gesellschaft kennen wir längst nicht alle Formen der Gewalt, sind erschrocken und hilflos, wenn sie dann plötzlich erscheint, weil sie zufällig sichtbar wird und die Legitimität der Schädigung nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Die Gewalt gegen Frauen, gegen Menschen mit anderer sexueller Orientierung, gegen Kinder war bis in das 20. Jahrhundert legitim und doch war es Gewalt.
Und mit Blick auf Aida und das, was Giuseppe Verdi über das Verhältnis zwischen persönlicher Liebe und dem Krieg zwischen Völkern vorführt, ist auch die staatliche Gewalt im Blick zu halten. Aida ist eine Sklavin, und Machtdemonstrationen, wie der Triumphmarsch in dieser Oper, zeigen auch Möglichkeiten, Gewalt durchzusetzen.
Haben alle gewalttätigen Konflikte etwas gemeinsam?
Alle Konflikte, die so weit eskalieren, dass sie mit Gewalt ausgehandelt werden, basieren auf Identitätsvorstellungen und weniger auf Konflikten um begrenzte Ressourcen oder Mittel.
In Aida geht es selbst auf der Ebene der Liebe zwischen Personen um den Konflikt zwischen Nationen, die das Liebesschicksal prägen. Wenn in Konflikten eine Partei die Identität eines „Wir sind höherwertiger“ annimmt und die Herstellung ihrer Dominanz und Höherwertigkeit zum Ziel macht, auch wenn dabei Verluste in den eigenen Reihen in Kauf genommen werden müssen, dann kippen Konflikte in Gewalt.
Gibt es „gute" und „schlechte" Gewalt?
Für die Forschung gibt es keine gute Gewalt, wie sie vielleicht in Bildern der reinigenden Gewalt, der Selbstkasteiung oder der Befreiung von Trieben durch karthatische Gewalt angedacht werden können.
Weder das psychoanalytische Modell der Entladung von Frustration und Reinigung durch Gewalt, noch das ethologische Dampfkesselmodell – Frustration staut sich an und wie in einem Dampfkessel entlädt sie sich als Gewalt und ist danach vorbei – haben sich in empirischen Studien als belastbar erwiesen.
An diesen Modellen wird dennoch hartnäckig festgehalten ...
Menschen haben die trügerische Hoffnung, dass die Entladung der Gewalt die Gewalt bremst. Mächtige gaukeln uns vor, die Gewalt habe etwas Nützliches. Hoch aggressive und gewaltbilligende Menschen werden aber nicht sanftmütiger, wenn sie lange auf einen Sandsack eindreschen; ich könnte Befunde aus der Forschung zitieren. Frustrationen sind nicht vorbei, wenn Hass und Wut ausgesprochen werden. Gewalt ist natürlich, Gewalt ist menschlich, aber unser Prozess der Zivilisation hängt von der Zähmung der Gewalt ab.
Genau davon berichtet Verdis Oper und sie berichtet obendrein davon, dass die Unterwerfung unter eine Staatsräson, die Gewalt bedeutet, keine Lösung ist.
Wir erleben gerade eine Neubewertung dieser zvilisatorischen Leistung: Der gesellschaftliche Konsens geht in die Richtung, das (militärische) Gewalt wieder legitimiert ist. Ist so eine gesellschaftliche Entwicklung nach Beendigung eines Krieges rückgängig zu machen?
Der Krieg Russlands drängt auf absolute Unterwerfung und dagegen setzen die Ukraine und der Westen das Modell einer selbstbestimmten demokratischen Zivilgesellschaft; zumindest hoffen wir das. Russland hat einen massiven Rückschritt gemacht, hat ein Tabu gebrochen, einen Zivilisationsbruch, der mit Blut-und-Boden-Ideologien und Geschichtsverdrehungen gerechtfertigt wird.
Gewalt ist ein Zivilisationsbruch. Krieg ist ein Rückschritt, zumal die Weltgemeinschaft ganz andere Herausforderungen hat.