Liebe Aida 

Von Annabelle Hirsch

Lesedauer: 10 min. 

Liebe Aida,

ich schreibe dir heute einen Brief, weil ich das Gefühl habe, dass es an der Zeit ist, dass wir einmal mit dir, statt immer nur über dich sprechen. Seit über einem Jahrhundert denken Männer und Frauen über dich, dein Schicksal, deine Entscheidung zu sterben nach, nur haben wir dabei bisher die Chance verpasst, dich zu fragen: Wie siehst du die eigentlich? Es ist ja bekanntlich eine Unart deiner Zeit, Stücke und Romane mit dem Namen einer Frau zu versehen, also so zu tun, als ginge es um sie, nur um die Handlung dann von einem Mann anführen zu lassen. Die namengebende Dame kommt vor, so wie du ja auch, Aida, nur verhält sie sich ausschließlich in Relation zu einem oder gar mehreren Männern. Keine ihrer oder deiner Regungen sind unabhängig. Alles passiert in Bezug auf seine Wünsche, seine Kämpfe, seine Ambitionen. Ihre und deine Gefühle und Träume werden von seinen Bestrebungen kontaminiert, umgeleitet, zermalmt, erstickt, verdreht. Ärgert dich das nicht? Hattest du nicht vielleicht ab und an Momente in denen du dachtest: Es reicht, ich steige aus dem Spiel der Männer aus und verbünde mich mit Amneris?

„Eure Beziehung interessiert mich. Zwei Prinzessinnen verfeindeter Staaten, die den gleichen Mann lieben."

Ich wundere mich, wie wenig Empathie ihr füreinander zu empfinden scheint. Ihr erwähnt das Leid der anderen mit keinem Wort, verspürt offenbar weder Mitleid noch Solidarität, von Schwesterlichkeit wollen wir gar nicht erst anfangen. Das Zentrum eurer Universen ist durch und durch männlich, was drum herum passiert nehmt ihr kaum wahr. Ihr zerstört gegenseitig euer Leben. Und das für die schönen Augen oder in diesem Fall die schöne Stimme eines Mannes. Als Frau meiner Zeit, das sage ich dir ehrlich, finde ich das befremdlich. Frauen, die andere Frauen niedermähen, also schlecht oder klein machen, sich allerlei Gemeinheiten ausdenken, um sie aus dem Weg zu räumen, nur um ins Blickfeld eines Mannes zu geraten irritieren mich zutiefst.

Immerhin gibt es einen Moment in dem man denken könnte, du seist nun vielleicht doch gleichberechtigt tonangebend und eine agierende statt nur reagierende Person in dieser Konstellation: Du überredest deinen Geliebten Radamès, mit dir zu fliehen. Du bringst ihn dazu, sein Land zu verlassen und seine bisherigen Träume des Ruhms und der Ehre aufzugeben, um mit dir zu sein. Das hat Kraft. Das hat Power. Es spricht auch für ihn, nicht jeder würde das machen. Dummerweise überredest du ihn nicht, weil du es so willst, sondern weil du dazu erpresst wurdest. Von deinem Vater. Einem Mann, der sich offenbar wenig um dein Wohlergehen schert und dich und deine Liebe zu ihm gnadenlos ausnutzt. Er sieht dich nicht, Aida. Zumindest nicht als die, die du bist, nicht als eigenständiges Wesen, sondern ausschließlich als Verlängerung seiner Selbst. Und wahrscheinlich siehst du dich auch ein bisschen so. Du weißt es ja nicht besser.

Beim ersten Lesen und Hinhören fragte ich mich: Wie konntest du nur auf ihn reinfallen? Ich habe mich darüber geärgert, dass du es ihm so leichtmachst, dich von ihm so einfach und widerstandslos ins Unglück stürzen lässt. Er sagt: Zerstöre dein Leben, zerstöre deine Chance auf Liebe für mich und du sagst einfach: Okay, klar. Warum tust du das? Es hat mich traurig gemacht, doch dann, und vielleicht machte mich das fast noch trauriger, fiel mir ein, wie schwer es ist, auf emotionale Übergriffigkeit und Missbrauch zu antworten. Gerade wenn er von Vätern kommt. Das ist nicht nur zu deiner Zeit so, Aida, das gilt bis heute.

„Es ist nicht leicht, sich von seiner Herkunft, seinen Eltern, den Erwartungen frei zu machen und seinen eigenen Weg zu gehen."

Diese Binsenweisheit ist in Fällen wie deinem doppelt wahr: Wenn das Leben einen mit einem manipulativen Elternteil gesegnet hat, dauert es lange, bis man versteht, dass Loyalität nicht bedeutet, sich in Gefahr zu bringen oder sich gar um der „Liebe“ Willen Schmerzen zuzufügen. Auch nicht, oder insbesondere dann nicht, wenn das implizit oder explizit gefordert wird. Wärst du ein bisschen älter geworden, hättest du das noch gelernt. Es hätte dich Kraft und Mut gekostet, hätte wahrscheinlich auch weh getan, aber du wärst dort angelangt. Ganz sicher. Denn Kraft und Mut hast du ja. Auch für Schmerz bist du dir nicht zu schade. Du setzt alles ein für die Liebe, so wie es sich für eine Frau der Leidenschaft gehört. Ich glaube man bewundert das an dir. Dieses unbeugsame, dieses Streben nach Absolutem, diese wenige Rücksicht für dich selbst. Du bist kein Wesen der Kompromisse, da bist du anders als wir. In deiner Welt werden Gefühle nicht stundenlang toddiskutiert, sondern direkt in Aktion verwandelt: Etwas wird gesagt oder getan und prompt rollt die Lawine los. Unaufhaltsam. Alles mit sich reißend. Wie ein Sturm. Man liebt dich dafür. Man findet dich romantisch und deine Entscheidungen tragisch aber dadurch auch besonders schön.

Es dir gleich tun wollen trotzdem die wenigsten, wir wissen ja wie es ausgeht, aus sicherer Distanz davon träumen finden wir aber durchaus schön: Wie erhebend muss es sein, auf Leben und Tod zu lieben, sich vollends in eine Geschichte hineinzustürzen und alles andere, das Leben, die Freunde, die Arbeit und vor allem sich selbst zu vergessen! Wie groß ist es, dem anderen sagen zu können: Nimm alles von mir, ich pfeife auf Selbstschutz! Früher habe ich das auch gedacht. Ich dachte, das sei die richtige Art, Beziehungen anzugehen, doch mittlerweile bin ich skeptisch. In deinem Fall zum Beispiel (und vielleicht auch in meinem) frage ich mich: Kommt deine Aufopferung im Namen der Liebe nicht der ungesunden Beziehung zu deinem Vater nahe? Warum bedeutet Liebe, so wie du sie lebst Selbstaufgabe? Kann es sein, dass du, deiner Erziehung wegen, denkst, Liebe und Leid gehören zwangsläufig zusammen?

ANNABELLE HIRSCH

Annabelle Hirsch arbeitet als freie Journalistin für FAS/FAZ, TAZ, ZEIT ONLINE und diverse Magazine, schreibt Kurzgeschichten und ist literarische Übersetzerin aus dem Französischen. Die Autorin studierte in München und Paris Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft und Philosophie. Annabelle Hirsch lebt in Rom und Berlin. Zuletzt erschient von ihr der Band Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten bei Kein & Aber (2022).

Oder erzählst du uns einfach nur sehr viel über deine Zeit und die Rolle der Frau? Du bist in einem Jahrhundert geboren in dem die bürgerliche Ehe als Norm gerade ihren großen Siegeszug antrat und viele Frauen in ein sehr monotones, sehr leidenschaftsloses Leben stürzte. Sie erstickten an ihrer Langeweile und Unfreiheit und träumten sicher ab und an davon, so zu sein wie du. So furchtlos, so radikal, dachten sie. Dass du im Grunde für die gleichen weiblichen Werte stehst wie sie, nämlich die rückhaltlose Hingabe, das eigene Verschwinden zugunsten des anderen, werden sie übersehen haben. Männer fanden Frauen wie dich faszinierend, unter anderem auch, weil es am Ende schlecht für dich ausging. Das war damals sicher beruhigend. Ein Garant der Ordnung. Was wäre wohl gewesen, hätte deine Leidenschaft dich glücklich gemacht? Was für ein Beispiel hättest du den Ladies abgegeben, wäre dein Ausbruch aus der Farblosigkeit des Daseins als Frau gut ausgegangen? Es wäre ein Problem gewesen. Eine alternative Narration. So hingegen sagte man mit dir: Ihr könnt die Flucht wagen, ihr könnt mehr wollen als die Tristesse, die wir euch anbieten, aber ihr werdet daran zugrunde gehen. Immerhin werden die meisten, fast alle Frauenfiguren deiner Zeit, die es wagen stark und außerhalb des für sie vorgesehenen Rahmens zu lieben, von dieser Liebe zerstört. Sie sterben. Fast immer. Oft töten sie sich selbst.

Vor kurzem las ich in französische Zeitung dies bezüglich: „Die leidenschaftliche Liebe ist das Grab der Frauen“. Ich glaube, sie meinten das metaphorisch. In deinem Fall passt diese Feststellung leider wortwörtlich: Du steigst für die Liebe hinab ins Grab. Du bist wie eine dieser indischen Witwen, die man mit ihrem verstorbenen Ehemann lebendig einbuddelt oder verbrennt, weil ihr Dasein ohne hin keinen Sinn mehr macht – weder für die Gesellschaft, noch für sie selbst. Ist das nicht entsetzlich? Was denkst du über die Tatsache, dass wir noch immer an diesem Narrativ der selbstzerstörerischen Liebe hängen, sie feiern, als ein Ideal? Ist das nicht befremdlich? Ein bisschen makaber? Nun kannst du natürlich zwei Dinge entgegen: Zum einen kannst du mir an den Kopf werfen, dass ich offenbar keine Faser Romantik in mir habe und das alles einfach nicht verstehe, dass ich zu kühl denke, zu rational. Mag sein.

„Zum anderen könntest du darauf hinweisen, dass die Leidenschaft, die romantische Liebe, die ich hier so anprangere, nicht nur Frauen kaputt macht. Auch Männer gehen an ihr zugrunde."

Radamès zum Beispiel hätte ein wesentlich entspannteres und längeres Leben geführt, hätte er Amneris’ Angebot angenommen, dich nie wieder gesehen und sich mit ihr zusammengetan. Das stimmt in gewisser Weise auch. Trotzdem glaube ich, dass eure Schicksale und eure Entscheidungskraft darin nicht ganz vergleichbar sind. Radamès hat den Rahmen des Geschehens, also den Krieg zwischen euren Ländern, Ägypten und Äthiopien, mit angetrieben. Er hat sich mit Begeisterung in die Schlacht gestürzt, hat sich das gewünscht und so ganz aktiv zur Zuspitzung eurer Lage beigetragen. Du nicht. Dein Tod ist nicht die Konsequenz eines Risikos, das du bewusst und aus freien Stücken eingegangen bist. Im Gegensatz zu ihm (und deinem Vater) ist dein Tod so etwas wie ein Kollateralschaden. Du stirbst an den Regeln einer Welt, an deren Errichtung du nicht teilgenommen hast.

Deshalb frage ich mich jetzt, sicher auch, weil ich es gerne glauben mag: Kann es sein, dass du vielleicht gar nicht aus Selbstaufgabe, sondern aus Protest in den Tod gehst? Bist du keine klassische Liebestod Heldin, die das Leiden und die Selbstzerstörung der Frauen romantisiert, sondern vielmehr eine Kämpferin? Eine moderne Version der Antigone? Ich will es gerne so sehen. Ich möchte denken, dass du nicht nur stirbst, weil du nicht ohne Radamès leben willst, sondern auch, weil du für eine andere Welt kämpfst. Eine Welt, in der die Werte der Älteren das Glück der Jüngeren nicht mehr ersticken. Vor allem aber auch eine Welt, in der eine junge Frau wie du andere Möglichkeiten des Ausdrucks und der Rebellion zur Hand hat als den Freitod. Und weißt du was, Aida, vielleicht ist es dir geglückt. Vielleicht hast du den ein oder anderen Zuschauer nicht nur mit einfachem Pathos berauscht, sondern ihn wachgerüttelt. Vielleicht drehte sich in den letzten hundertfünfzig Jahren nach dem Opernabend mit dir ab und an ein Herr zu seiner Frau und seinen Kindern und fragte: Was wünscht ihr euch? Wie wollt ihr leben? Wen wollt ihr lieben? Dafür, für diese Chance dank deiner Stimme nicht nur zu schwelgen sondern vielleicht auch über die Liebe und ihre Strukturen nachzudenken, müssen wir dir danken, liebe Aida.

Deine Annabelle

Bild: Elif (10 Jahre alt). Produziert im Rahmen des Sirkhane Darkroom. Sirkhane Darkroom ist ein mobiles Fotoprogramm für gefährdete und benachteiligte Kinder an den Grenzgebieten zur Türkei.

AIDa

Oper in vier Akten (1871)