Jeder Mensch ein König

Sie haben Ihre erste Spielzeit mit dem Satz „Jeder Mensch ein König“ überschrieben. Warum?

„Jeder Mensch ein König“ ist ein Zitat aus einem Text von Dezső Kosztolányi, der mich schon seit vielen Jahren begleitet. Er bezieht sich auf die Würde jedes einzelnen Menschen, die Einzigartigkeit und Vielgestaltigkeit, die jedem Menschen eingeschrieben ist. Unsere Gesellschaften sind noch immer sehr gespalten, Phänomene wie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nach wie vor allzu präsent. Es ist notwendig, an der Verständigung zwischen gegensätzlichen Positionen, an der Anerkennung und dem Respekt vor Andersartigkeit zu arbeiten, daran, das Andere anzuerkennen. Denn auch, wenn der Andere nicht wie wir ist, haben wir vieles gemeinsam: „Mein Bruder, du bereicherst mich durch deine Unterschiede“, hat Antoine de Saint-Exupéry gesagt. Dieser Widerspruch kann uns inspirieren und uns für verschiedene Perspektiven sensibilisieren, denn wir alle sind unterschiedlich, wir alle sind Menschen.

 

Mit den Premieren Ihrer ersten Spielzeit scheinen Sie sich auf zeitgenössische Musik zu konzentrieren und einen Schwerpunkt auf Werke des 20. und 21. Jahrhunderts zu legen. Was beabsichtigen Sie damit?

Sind die Werke des 20. Jahrhunderts noch zeitgenössisch, oder sind sie schon Teil unseres musiktheatralen Erbes? Die Musik der vergangenen hundert Jahre ist viel zugänglicher, als wir oft denken. Ich glaube, dass die Unterscheidung zwischen Musik der Vergangenheit, der sogenannten „Klassik“, und zeitgenössischer Musik gar nicht so entscheidend ist. Für mich ist zeitgenössisch alles, was uns heute umgibt. Alle Musik, die wir hic et nunc hören, ist zeitgenössisch, ob sie nun von Claudio Monteverdi oder Georg Friedrich Haas stammt.

Darüber hinaus ist insbesondere die Oper des 20. Jahrhunderts ganz erheblich von großer Literatur inspiriert, ob von Schriftstellern früherer Zeiten – Büchner, Wedekind, Gogol, Leskow, Bernanos – oder aus der Zusammenarbeit von Komponisten und Autoren an originären neuen Opernschöpfungen – wie bei Hofmannsthal und Zweig mit Richard Strauss, bei Auden mit Britten und Strawinsky, bei Cocteau mit Strawinsky und Poulenc und vielen anderen. Dieses spezifische Zusammentreffen von Musik und Text hat zweifellos die universelle Tragweite der Werke verstärkt.

 

Dennoch sind Werke aus den vergangenen hundert Jahren nur marginal im gängigen Opernrepertoire vertreten.

Und darum wollen wir sie fördern! Krzysztof Pendereckis Teufel von Loudun oder Benjamin Brittens Peter Grimes sind wahre Meisterwerke, die es zu entdecken oder wiederzuentdecken gilt. Wie Aribert Reimanns Lear, von dem die Bayerische Staatsoper gerade eine Neuinszenierung präsentiert hat. In den Werken des 20. und 21. Jahrhunderts, die wir zeigen werden, gibt es eine sehr starke und innige Beziehung zwischen Musik und Theater. Der Mensch ist das zentrale Thema. Deshalb sind sie auch so spannend.

 

Und was ist mit dem großen Repertoire?

Natürlich bleibt und ist das Repertoire unverzichtbar. Gleichzeitig möchte ich Werke auf die Bühne bringen, die mit unserer heutigen Realität Resonanzen erzeugen. So spiegeln die Neuproduktionen die Vielfalt und den Reichtum literarischer und musikalischer Kulturen wider, legen einen Schwerpunkt auf das 20. Jahrhundert. Deutschland hat den immensen Vorteil, dass es hier Repertoiretheater gibt, von denen München vielleicht das emblematischste ist. Das Repertoire muss zu einer Bereicherung beitragen, es darf nicht verknöchern oder einfrieren in sich wiederholenden Schleifen: „Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei“, hat Gustav Mahler uns mit auf den Weg gegeben. Ich bin sehr froh, dass wir das Repertoire der Bayerischen Staatsoper mit neuen, zum Teil selten gespielten Werken bereichern können, denn das bedeutet, dass das Publikum häufiger Zugang zu ihnen haben, sich die Werke aneignen und seine persönliche Opernkultur bereichern kann. Wenn wir wollen, dass ein breiteres Publikum Zugang zur Oper findet, müssen wir ihm eine weitgespannte und vielfältige Palette von Werken anbieten – aus allen Epochen und Stilen. In diesem Sinne kann das Repertoire Vielfalt ermöglichen und aufbauen: Der einfache Zugang zu „unbekannten Meisterwerken“ ist ein Reichtum, den wir dem Publikum bieten wollen.

 

Was ist für Sie ein Meisterwerk?

Ein Meisterwerk durchquert die Geschichte, ohne zu altern, denn in jedem Zeitalter hat es etwas zu sagen und erlebbar zu machen. Ein Meisterwerk erzählt eine Geschichte, vermittelt Emotionen, bietet ästhetischen Genuss und regt zum Nachdenken an – auf diese Weise erreicht es eine universelle Ebene. Seit den frühesten Tagen der Menschheit wollen die Menschen ihre Erfahrungen weitergeben, sie aufzeichnen, sie unterzeichnen. Die Geschichte der Kunst und Kultur ist in der Tat die Geschichte des Menschen, der zum Menschen spricht. Prähistorische Fresken, romanische Tympanons, Skulpturen und Glasfenster in Kirchen und Kathedralen gehörten zu den ersten Formen der Kultur, die für alle zugänglich waren. Manche dieser künstlerischen Formungen waren für Menschen, die nicht lesen konnten, der einzige Zugang zur Bibel – damals in der westlichen Welt die Grundlage des Wissens und des allgemeinen Nachdenkens über Welt. Für mich ist das in gewisser Weise auch die Funktion von Theater und Oper heute. Ich möchte nicht der Verwalter eines Mausoleums sein, das eine Tradition konserviert, sondern ich möchte diese Tradition nähren und bereichern. In dieser Spielzeit geht es darum, das Menschliche zu feiern, unsere Menschlichkeit in all ihren Facetten, in ihren glorreichen und schrecklichen.

 

Ist das Theater heutzutage überholt?

Wenn das der Fall wäre, wären wir wohl nicht hier, um darüber zu sprechen. Bisweilen wurde die Oper auf bloße Unterhaltung reduziert, brillant, aber oberflächlich, schnell gesehen, schnell gehört, schnell vergessen, ein Theater des Konsums und der Repräsentation.

Ich für meinen Teil glaube, dass das Theater die Gesellschaft beleben muss, d. h. ihr eine Seele geben und Werte vermitteln, einen Sinn. Kunst hat eine emanzipatorische Dimension, Kultur kann uns weiterbringen, uns befreien. Eines der Ziele von Theater und Oper ist Bildung, eine kulturelle, geistige und soziale Entwicklung: die Menschen sensibler und offener zu machen. Kultur ist unverzichtbar für das Leben und für die harmonische Entwicklung einer Gesellschaft. Deshalb möchte ich die Oper tiefer in der Stadt verwurzeln, indem wir unsere Türen weiter öffnen, uns noch mehr mit dem Draußen verbinden und auf vielfältige Weise präsent sind. All dies, während die Exzellenz des Bayerischen Staatsoper hochgehalten und weiterentwickelt wird.

 

Oper ist eine vielschichtige und aufwendige Kunstform. Entspricht sie noch einer Zeit, in der „schlank“ und „schnell“ die Gebote der Stunde sind?

Ich glaube, dass angesichts der Probleme und der Komplexität unserer Welt der Mensch durch die Oper keine vorgefertigten Antworten finden kann, sondern im Idealfall Wege der Reflexion und Vertiefung. Wir brauchen mehr Orte, an denen wir uns mit dieser Komplexität auseinandersetzen und dabei die Vereinfachung durch Lösungen aus der Konserve vermeiden. Viele populistische Regimes wollen den Menschen weismachen, dass die Antworten auf die Probleme der Welt einfach sind, wollen die Realität in Schwarz und Weiß sehen. Das ist das Gegenteil von Demokratie. Ich bin überzeugt, dass es eine der zentralen Aufgaben der Oper ist, zu reflektieren und sogar mitzugestalten, dass die Welt von morgen größer, offener und vielfältiger wird.

 

Das Theater als Forum oder als Piazza?

Wäre es nicht herrlich, wenn die Oper ein Treffpunkt wäre, der der ganzen Gesellschaft offensteht? In einer durch Individualismus zersplitterten Gesellschaft, nach langen Monaten des Lockdowns, glaube ich, dass wir Orte brauchen, die Begegnungen ermöglichen, die es anderswo nicht gäbe, zwischen Menschen, die sich ohne die Möglichkeit des Theaters nie begegnet wären. Die Oper kann zu diesem Forum werden, in dem sich alle Schichten der Gesellschaft treffen und miteinander reden. Je bunter und vielfältiger sie ist, desto bereichernder ist sie. Theater ist ein Erbe aus dem antiken Griechenland. Damals war das Theater ein Fest, zu dem die Bürger eingeladen und wo sie zusammengerufen wurden. Das Theater hatte eine spirituelle, religiöse und politische Bedeutung: ein „Bühnenweihfestspiel“ im Wortsinn.

 

Sie plädieren für die Idee eines breiteren und vielfältigeren Publikums. Passen denn Oper und Publikumsvielfalt zusammen?

Für mich ist Vielfalt eine ganz grundlegende Anforderung, und Exzellenz kann nicht ohne Offenheit erreicht werden. Dafür möchte ich nicht ein Publikum durch ein anderes ersetzen, sondern das Publikum erweitern. Jeder hat seine eigene Vorstellung davon, was legitim ist oder nicht, schön oder hässlich, gut oder schlecht, und diese Vorstellung entwickelt sich im Laufe des Lebens weiter. Ebenso ist das Kulturverständnis eines jeden einzelnen nicht fixiert, sondern entwickelt sich mit dem Alter, abhängig von der jeweiligen sozialen Herkunft und den persönlichen Erfahrungen. Das Theater muss in der Lage sein, auf diese individuelle Bandbreite zu reagieren. Ich halte nicht viel von der Idee der „kulturellen Evangelisierung“, einer Bekehrung oder Belehrung von „denen da draußen“. Im Gegenteil, der Prozess muss mit einem Blick auf uns selbst beginnen: Wir müssen uns als Institution öffnen.

 

Wie wollen Sie das Haus öffnen?

Ich möchte, dass wir noch einladender werden. Die Art und Weise, wie wir kommunizieren, ist ein wesentlicher Faktor, ebenso wie die Art und Weise, wie wir die Menschen im Haus willkommen heißen, die Programmgestaltung, die Eintrittspreise und die Art und Weise, wie wir unser Publikum unterstützen. Dazu müssen wir unsere Praktiken und unsere Vorschläge hinterfragen und weiterentwickeln.

 

Wie genau?

Dies konkretisiert sich beispielsweise in der Entwicklung unserer Abteilung Offstage 360, in unseren neuen Projekten wie dem Septemberfest oder dem Festival Ja, Mai! Dies ist unsere Zukunft, eine Zukunft voller Dynamik, in der wir keine Kompromisse bei der Qualität eingehen wollen. Ich möchte, dass wir uns ständig selbst herausfordern. Das hat Einfluss auf die Auswahl der künstlerischen Teams, die eine frische Perspektive einbringen, das Publikum von heute in seiner Vielschichtigkeit ansprechen, Neugierde auf neue Begegnungen wecken und das Risiko von Konflikten eingehen. Wenn wir uns nur mit Menschen umgeben müssten, die so sind wie wir, wäre es kurzfristig sicher bequemer, aber auf Dauer langweiliger. Wir müssen uns vorwärtsbewegen, ohne dabei auf hervorragende Leistungen oder gute Auslastung zu verzichten. Besucherzahlen allein sind aber nicht alles: Wir müssen uns ständig fragen, welches Publikum wir mit welchen Werken, mit welchen Künstlern und mit welchen Anforderungen erreichen und berühren. Es geht nicht um Vereinfachung: Komplexität ist eine Tatsache der Welt, keine Option, die man kultiviert oder nicht. Der Mensch ist komplex. Wir können nicht denken, ohne Verbindungen zwischen den Dingen herzustellen. Die Oper spiegelt in ihrer Kombination verschiedenster Kunstbereiche diese Komplexität exemplarisch wider. Die „produktive Irritation“, die uns etwas Neues über uns selbst erfahren lässt, ist wunderbar. Aber es funktioniert nicht, wenn wir von der Prämisse ausgehen, zufriedenstellen zu müssen. Und die „produktive Irritation“ wird umso größer sein, je vielfältiger das Publikum ist.

 

Hört man denn Musik anders mit Menschen, die einen anderen Erfahrungshorizont mitbringen?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man Dinge alleine so hört, wie man sie hören will, dass man aber in der Gesellschaft anderer Menschen Dinge wahrnimmt, auf die man von sich aus nicht unbedingt aufmerksam geworden wäre. Das sind schöne Entdeckungen, die man auch beim Lesen oder beim Anschauen macht. Haben Sie schon einmal über ein Buch, ein Gemälde oder ein Musikstück mit jemandem diskutiert, der Facetten offengelegt hat, die Sie alleine nicht gesehen oder gehört hätten? So ein Dialog ist ein Geschenk. Neben der Debatte oder dem Widerspruch ist es dieser Dialog, der die menschliche Erfahrung fruchtbar macht – oder, wie es der französische Schriftsteller Nicolas Boileau formuliert hat: „Aus dem Zusammenprall der Ideen strahlt das Licht.“

 

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