Der Regisseur Neil Armfield zu Hamlet

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Der große Stoff

Ich habe Hamlet zum ersten Mal im Gymnasium gelesen. In der Schule spielte ich in King Lear und A Midsummer Night’s dream mit, aber nie in Hamlet. Es ist ein Schauspiel, das mich seither trotzdem stets begleitet hat. Ich halte es für das größte Stück, das je geschrieben wurde. Ich durfte Teil eines Künstlerkollektivs sein, mit dem wir 1985 die Idee hatten, gemeinsam ein Theater in Sydney zu kaufen und dort ein Ensemble zu gründen. Und auch während meiner Tätigkeit an genau diesem Haus schlang sich der Stoff um zentrale Punkte meines künstlerischen Lebens: Als ich 1994 an eben diesem Belvoir Theater zum künstlerischen Leiter ernannt wurde, war eine meiner ersten Inszenierungen Hamlet – mit Richard Roxburgh, Cate Blanchett und Geoffrey Rush in den Hauptrollen. Und nicht nur mich hat diese Zeit beeinflusst und beruflich gelenkt: Das Belvoir hat viele bedeutende australische Regisseur:innen in ihren Anfangszeiten gefördert wie etwa Barrie Kosky, Simon Stone und Benedict Andrews oder den Bühnenbildner Ralph Myers, der mich 2010 nach 17 Jahren als künstlerischer Leiter dort abgelöst hat. 

William Shakespeare

Shakespeares Werke waren immer Teil meines Lebens. 1983 inszenierte ich Twelfth Night, 1986 folgte eine Filmversion des Stücks. 1990 inszenierte ich The Tempest, 1996 erneut mit Cate Blanchett als Miranda, 1999 As you Like it mit der großartigen australischen Schauspielerin Deb Mailman als Rosalind. Im Jahr 2015 führte ich Regie bei King Lear, mit Geoffrey Rush in der Hauptrolle. In der Oper habe ich Benjamin Brittens A Midsummer Night’sDream in Houston, Toronto, Chicago und Adelaide inszeniert, bevor Brett Deans Hamlet in Glyndebourne, in Adelaide und letztes Jahr an der Metropolitan Opera in New York folgte.

 

Gedankenanstoß

Das, was Hamlet nach sich zog, ist eine Revolution: Shakespeare hat mit Hamlet als erster Schriftsteller überhaupt das Denken und den Gang der Gedanken im menschlichen Geist in einem dramatischen Text zur Darstellung gebracht. Die Form des Selbstgesprächs ist das perfekte Mittel für diese geistige Erkundung, bei der moralische Fragen gestellt und hoffentlich auch Antworten gefunden werden können. Und dann diese Zweideutigkeiten in diesem Werk! Ist der Geist eine Figur mit moralischer Macht, oder repräsentiert er das Böse? Natürlich müssen wir bei der Interpretation des Stücks und insbesondere bei der künstlerischen Umsetzungen auf Bühnen an diesem Punkt eine Entscheidung treffen. Ich glaube persönlich, dass der Geist Wahrheiten offenbart, die bestätigen, was Hamlet bereits fürchtet, und dass sich die weitere Handlung des Stücks hieraus entwickelt. Die Handlung setzt sich gewissermaßen fort, um das zu bestätigen, was der Geist zuvor gesagt hat.

Oper

Ich habe bei Brett Deans erster Oper, Bliss, der Adaption eines Romans von Peter Carey, die in Australien und anschließend beim Edinburgh Festival aufgeführt wurde, Regie geführt. Brett fragte mich einige Zeit später, was ich von der Idee hielt, eine Oper nach Shakespeares Hamlet zu kreieren. Das hat mich begeistert, weil ich eine so enge Beziehung zu diesem Stück besitze, vielleicht mehr als zu jedem anderen Werk, mit dem ich mich am Theater jemals beschäftigt habe. Als Brett schließlich Matthew Jocelyn als Librettisten auswählte, der wie ich in erster Linie vom Theater kommt, arbeiteten wir in einem Dreieck kreativer Konzentration zusammen, diskutierten, welche Szenen für die Erzählung wesentlich sind und wie man einen solch enormen Text auf etwas Konzentrierteres und Sparsameres kürzen könnte. Ich denke, Matthews Libretto ist ein Wunder der Komprimierung und des Spiels und erlaubt es der Musik, sich auszudehnen, und durch und jenseits der Poesie zu atmen. 

Musiksprache

Brett Dean erschafft eine erstaunliche Klangwelt, die uns in Hamlets Gedankenwelt führt, die der eigentliche Dreh- und Angelpunkt des Dramas ist. Er umgibt uns als Publikum mit dieser Welt, in der Ideen herumfliegen wie Synapsen innerhalb des Gehirns, in dem wir festsitzen. Er hat den außergewöhnlichen Semi-Chorus im Orchestergraben geschaffen, der Worte und Ideen aufgreift und sie erweitert, stotternd wie eine Erinnerung oder Selbstreflexion. Manchmal hallen sie wider und wiederholen die rhetorische Heuchelei, mit der die politische Macht in dieser Welt manipuliert wird. Manchmal stottern sie mit dem Schmerz der Verwirrung und des Verrats, den Ophelia erlebt, während ihr Verstand auseinanderbricht. Brett verwebt diese Ideen mit einem außergewöhnlichen Sounddesign, indem er aufgezeichnete elektronische Verzerrungen verwendet, um uns in die Kluft zwischen der bekannten Welt und dem Unbekannten, dem Materiellen und dem Spirituellen, dem Öffentlichen und dem Privaten zu führen. Und dann ist da natürlich noch die Kraft seiner großartigen Komposition für das Orchester. Dieses Werk ist musikalisch unglaublich.

Essenzen

Shakespeares Hamlet ist ein Werk über die Welt, geschaffen von einem Theatermann. So wird ironischerweise ein Stück, in dem Konzepte von Wahrheit ständig verhandelt werden, zu unserem Wegweiser hin zu einer Wahrheit. Das Theater, erinnern wir uns, ist ein Ort der Fiktion, der Illusion, der Geschichten. Es ist die Ankunft des Geistes, die unseren Raum zum ersten Mal aufbricht, und es ist die Ankunft der Spieler, die das Stück im Stück aufführen, das die Wahrheit über Claudius’ Handlungen enthüllen wird, die endgültig unsere Welt in Stücke bricht. Eine wunderbare Ironie ist, dass Shakespeare selbst den Geist und den König innerhalb des Spiels im Spiel interpretiert hat. So setzte er als Geist die Handlung in Gang, die er als Autor bereits festgelegt hatte. Als Mann des Theaters kannte Shakespeare dessen Wahrheit. Wir befinden uns in einer korrupten Welt, die unserer eigenen ähnelt, in der die Macht von jemandem ausgeübt wird, der lügt und mordet, um sie zu behalten. Letztlich, so Shakespeare, kann man nur den Schauspielern vertrauen, die Wahrheit zu sagen. In unserer Inszenierung wird der imposante Raum, der diese Welt beherbergt, aufgespalten und entpuppt sich als eine Reihe von Theatermöbeln, die wir in ihrer ganzen köstlichen Künstlichkeit sehen.  

„ ... or not to be“

Man geht leicht davon aus, die Worte „To be or not to be“ – weil sie vermeintlich so vertraut wirken – zu verstehen. Wiedererkennen ist jedoch nicht deckungsgleich mit Verstehen. Indem wir die Frage in zwei Teile zerlegen und in Betracht ziehen „nicht zu sein“, werden wir zu einer Spekulation über unsere eigene Existenz geführt: was sie bedeutet, was ihre Abwesenheit bedeuten würde. Im Libretto formuliert Hamlet den Gedanken „... or not to be“, während er am Grab seines Vaters trauert. Er thematisiert somit dessen Tod. Aus dieser Frage leitet sich alles moralische Handeln ab. Andererseits wollten Matthew und Brett mit möglicherweise starren Erwartungshaltungen vonseiten eines Publikums spielen, das darauf wartet, zu erfahren, wie die sechs berühmtesten Worte der Literatur in Musik gesetzt werden.

Ophelia

Hamlet repräsentiert eine moralische, empfindsame, aktive Menschlichkeit. „What piece of work is a man!“ Ophelia ist ein Opfer der Machtverhältnisse am Hof und des übermäßigen Argwohns ihres Vaters Polonius. Sie wird als Spionin für ihren Geliebten eingesetzt, der natürlich ihren Verrat bemerkt. Hamlet, der sich durch die Enthüllungen des Geistes bereits in einem Zustand großer Verwirrung befindet, ausgelöst durch seine hohe Sensibilität, reagiert mit hässlicher, gewalttätiger Empörung auf diesen Verrat durch diejenige, die ihm am nächsten steht. Natürlich versteht Ophelia den Grund für Hamlets Aggressionen nicht. Als er ihren Vater tötet, bringen die klaffenden Widersprüche ihres Lebens ihren Verstand zum Wanken.  

Machtsystem

In einem großen philosophischen und politischen Werk wie Hamlet folgt eine Gesellschaft einem starken Führer, während der Einzelne aus Protest schreit. Natürlich setzt Brett in seiner Oper den Chor ein, um das Gefühl für die Macht eines korrupten Staates zu verstärken. Sie sind die Zuschauer einer Inszenierung, die Claudius initiiert. Bis zum Schluss wird ihnen die Wahrheit vorenthalten. Und sie sind alles, was am Ende von diesem tragischen Kreislauf der Ereignisse übrigbleibt. 

HAMLET

Oper in zwei Akten (2017)