Reflexionen zu „Hamlet“ 

zur besonderen Geschichte künstlerischer Adaptionen von Shakespeares Meisterwerk  


Text: Serge Dorny 
Lesedauer: ca. 10 Min

„Hamlet“ ist ein paradoxer literarischer Mythos, der sich in der Essenz seiner Rezeption am kürzesten auf den berühmten Satz "To be or not to be" reduzieren lässt oder – mit etwas mehr Raum – auf den hieran anschließenden Monolog. Der inhaltliche Kern von Shakespeares Werk, der hierin verarbeitet wird, hat zu vielfältigen Adaptionen und Bearbeitungen in Theaterstücken, in musikalischen Werken und in Filmen geführt. Paradoxerweise ist „Hamlet“ aber nicht allzu oft für die Opernbühne adaptiert worden. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, etwas über die Rezeptionsgeschichte von „Hamlet“ nachzudenken und anhand dessen aufzuzeigen, wie sehr uns dieses Werk gerade in unserer heutigen Zeit, in unserer Gegenwart betrifft.

Bei einem gedanklichen Spaziergang durch die überlieferten Adaptionen fällt auf:

  • dass das Originalwerk sehr früh in der Geschichte des Theaters von großen Regisseuren inszeniert wurde
  • dass es sehr früh Film-Adaptionen gab; und übrigens hat die Kunstform des Kinos die meisten und reichhaltigsten „Hamlet“-Verarbeitungen hervorgebracht
  • dass es auch literarische Adaptionen für das Theater gibt, die nicht nur auf Hamlet fokussiert sind, sondern auch auf andere Figuren wie Rosencrantz und Güldenstern, Ophelia oder sogar Gertrude, Hamlets Mutter
  • dass es im 19. Jahrhundert musikalische Adaptionen für symphonische Musik gibt, die bis hin zu Liszt, Tschaikowsky, Schostakowitsch und Prokofjew fortgesetzt werden.

Doch zurück den Wurzeln: Shakespeare schuf mit seinem „Hamlet“ (geschrieben in den Jahren 1601-1602) einen literarischen Mythos wie „Faust“ oder „Don Juan“, die zur gleichen Zeit, im frühen 17. Jahrhundert, entstanden sind. Auch diese Mythen und Stoffe machten Karriere, einige sogar ziemlich schnell – wie „Don Juan“ durch das Theater von Molière und die Oper „Don Giovanni“ von Mozart. „Faust“ fand seinen Höhepunkt später und explodierte förmlich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert im Monumentalwerk von Johann Wolfgang von Goethe.

Doch „Hamlet“ – als der „Hamlet“ von William Shakespeare – bleibt im deutschsprachigen Kulturraum seltsam überwältigend, referentiell und einzigartig.

Die zahlreichen Adaptionen konnten sich nicht dauerhaft in unserem Gedächtnis einprägen. In den letzten zwanzig Jahren sind nur zwei Opern entstanden, eine von Christian Jost an der Komischen Oper im Jahr 2009, die andere von Brett Dean im Jahr 2017 in Glyndebourne, die unsere diesjährigen Münchener Opernfestspiele eröffnen wird. „Hamlet“ ist im deutschsprachigen Kulturraum eher ein Werk, das im 20. Jahrhundert seine Renaissance feierte.

In Frankreich hat es sich ganz anders verhalten. Hier wurde Shakespeare im 19. Jahrhundert wiederentdeckt, insbesondere Stendhal stellte ihn mit seinem Werk „Racine et Shakespeare“ aus dem Jahr 1823 der klassischen Tragödie gegenüber. Deutschland hatte seine literarische Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts vollzogen, aber Frankreich lebte länger mit seiner damaligen literarischen Tradition. So konnte im französischen Theater etwa die klassische Tragödie nach Art des 17. Jahrhunderts noch eine ganze Weile weiterleben, was seltsamerweise nur in der Oper seine Spuren bewahrt hat. Ein gutes Beispiel hierzu ist „Norma“ von Alexandre Soumet. Die Wiederentdeckung Shakespeares in Frankreich öffnete in gewisser Weise das Tor zum romantischen Drama. So adaptierte Alexandre Dumas 1847 „Hamlet“ mit großem Erfolg.

Wenn andere Werke Shakespeares die Ehre der Bearbeitung für die Opernbühne erhielten, so geschah dies oft eher aus schlechten als aus guten Gründen. Oper und Theater stellen unterschiedliche Anforderungen an eine literarische Grundlage. Opernlibretti sind kürzer, die Tiefe des Textes entsteht in dem Raum zwischen dem Libretto und der Musik, wobei die Musik die Perspektiven eines Textes immer erweitert und nicht nur eine Spiegelung oder ein Kommentar desselben ist. Das Libretto kann daher durchaus einfach und zugänglich sein, es ist gewissermaßen eine `Reduktion´, eine Fokussierung des literarischen Textes. Viele Shakespeare-Werke – etwa „Die lustigen Weiber von Windsor“, „Otello“ oder „Macbeth“ – haben den Weg vom Text zum Libretto und damit auf die Opernbühne leichter vollzogen. Nicht so aber „Hamlet“.

In der symphonischen Welt hatte „Hamlet“ mehr Glück, wohl deswegen, weil die Komposition – losgelöst vom Text – für die Instrumente eines Orchesters eine größere Freiheit und Vielfalt ermöglichte, um die komplexe Geschichte des Prinzen von Dänemark widerzuspiegeln.

Im 19. Jahrhundert wurde eine einzige Oper hervorgebracht: „Hamlet“ von Ambroise Thomas. Grundlage hierfür war das Stück von Alexandre Dumas.

Gleichzeitig erlebte Hamlet ab dem 20. Jahrhundert bis heute eine wahre Blütezeit was Adaptionen sowohl in der Literatur als auch in Theater und Film betrifft. So nahm sich Konstantin Stanislavski, zusammen mit Edward Gordon Craig, 1911 des „Hamlet“ an und es gibt zahlreiche Theaterinszenierungen der größten Regisseure wie Patrice Chéreau oder 

Thomas Ostermeier. Die unglaublich offene und komplexe inhaltliche Beschaffenheit des Stücks begünstigt eine zeitgemäße Sichtweise und förderte in dieser Hinsicht auch moderne Literaturadaptionen – hier unbedingt zu erwähnen ist sicherlich Heiner Müllers „Hamletmaschine“ aus dem Jahr 1977.

Der thematische Reichtum von Shakespeares „Hamlet“ ist so unermesslich, dass er große Inszenierungen ebenso begünstigt wie aber auch ganz reduzierte, schlankere und damit vielleicht auch modernere Adaptionen, die zum Beispiel zwar von der Hauptfigur ausgehen, aber auch von anderen Figuren des Dramas. Ich denke da etwa an Tom Stoppards tragikomisches Erfolgsstück „Rosencrantz and Guildenstern Are Dead“ von 1966, woraus auch ein Film entstand.

Shakespeares „Hamlet“ geht weit über die Koordinaten seiner im engeren Sinne erzählten Geschichte hinaus, zum Beispiel bezüglich der Frage des Wahnsinns bzw. der Grenzen des Wahnsinns – ein Thema, das im Kino häufig behandelt wird. Aber „Hamlet“ sprengt auch Fragen des Theaters und der Kraft des Theaters. Ich erinnere hier an die Worte Hamlets in der zweiten Szene des zweiten Akts, wo es heißt „The play´s the thing / Wherein I´ll catch the conscience of the king“, übersetzt bedeutet dies „Das Schauspiel sei die Schlinge / In die den König sein Gewissen bringe“. All dies sind Elemente, die „Hamlet“ zu einem unerschöpflichen Fundus von großer Komplexität machen und gerade deswegen zu einem Meisterwerk par excellence.

Schließlich ist „Hamlet“ ein moderner literarischer Mythos, der seine Wurzeln aber in der griechischen Tragödie hat. Es ist die Geschichte eines Sohnes, der entdeckt, dass seine Mutter seinen Vater getötet und ihren Schwager geheiratet hat – ganz ähnlich der Geschichte der Atriden, bei der Klytämnestra ihren Ehemann Agamemnon tötet und anschließend dessen Halbbruder Ägisth heiratet. In Hofmannsthals Tragödie kehrt Orest zurück, um beide zu töten, angestachelt von Elektra. Ist Hamlet ein entfernter Bruder von Orest? 

Mit „Hamlet“ befinden wir uns auf dem Grund, der inhaltlichen Basis, dem Nährboden des universellen Theaters und damit mitten in den wesentlichen Konfliktfeldern alles Menschlichen.

Dass Hamlets Schema dem der Atriden ähnelt, ist eindeutig, aber der Bezug zur Antike geht sogar noch weiter. Wenn der tragische Held beschlossen hat, sich seinem Schicksal zu stellen, zählt nichts mehr. Als Antigone beschließt, ihren Bruder zu begraben, verlässt sie ihren Verlobten Hemon. Hamlet lässt im Namen seines eigenen Schicksals Ophelia in den Wahnsinn und in den Tod gehen.

Mit all den verschlungenen Wegen, die uns Shakespeare in seinem „Hamlet“ offenbart, steht somit letztlich die nackte Wahrheit der Figur im Zentrum, die Suche nach dem Kern von Hamlet, jenseits von Verkleidungen und Beschränkungen. Für uns heute bedeutet dies, eine Vision von „Hamlet“ zu gestalten, die die Überlagerung von verschiedenen Elementen zulässt und gerade deswegen einen großen Reichtum an Möglichkeiten eröffnet. All die äußerst verschiedenen Adaptionen, die „Hamlet“ im Laufe der Zeit erfahren hat – ob im Theater, Ballett oder Film – verarbeiten den engen Raum, den Hamlet selbst in seiner Geschichte sprengen muss.

Deshalb passt „Hamlet“ so gut in unsere Zeit, in die heutige Welt, die eine Welt der Komplexität und – leider auch – der Gewalt und des falschen Scheins und der Illusionen ist. Wie eine post-barocke Welt, in der wir – wie die Menschen in der platonischen Höhle – nur die Schatten derselben sehen. In Shakespeares Drama hält die Virtualität Einzug, steht die Frage nach Fake/dem Falschen/Gefälschten im Mittelpunkt: eben Sein oder Nicht-Sein. Das ist die Frage. Und so wird „Hamlet“ schließlich zu einem sehr heutigen Mythos, der unserer Zeit, in der wir leben, entspricht.