Zum Tode von Hans Neuenfels
„Der Tod ist normal, die Liebe ist es nicht. Sie erträumt man, erhofft und ersehnt man. Den Tod muss man sich nicht wünschen, der kommt von allein.“
Hans Neuenfels in Max Joseph 2014/15, Heft 1
„Der Tod ist normal, die Liebe ist es nicht. Sie erträumt man, erhofft und ersehnt man. Den Tod muss man sich nicht wünschen, der kommt von allein.“
Hans Neuenfels in Max Joseph 2014/15, Heft 1
Mit dem Tod von Hans Neuenfels geht nicht weniger als eine Ära zu Ende. Bis in seine letzten Arbeitstage war er enfant terrible und großer Weiser, unermüdlich Liebender und unerbittlich Störender. Er hat erst als Schauspieler, dann als Regisseur und Autor ein umfangreiches Werk hinterlassen, er hat das Selbstverständnis des Theaters verändert und geprägt, und er hat die Theaterleute immer wieder aufgerufen, Haltung zu zeigen und Stellung zu beziehen. Unter seinen Inszenierungen sind einige der hellsichtigsten, innovativsten und aufregendsten ihrer Zeit, unserer Zeit.
Hans Neuenfels’ erste Stationen als Regisseur waren die Schauspielhäuser in Heidelberg, Stuttgart und Frankfurt. Von 1986 bis 1990 war er Intendant der Freien Volksbühne in Berlin. Seit 1974 führte er auch Opernregie. Seine Interpretation von Giuseppe Verdis Aida in Frankfurt 1981 war einer der berühmtesten Theaterskandale der späten Bundesrepublik, mehr noch: Sie war der Beginn dessen, was man später mit dem Begriff „Regietheater“ zu etikettieren suchte und was doch nur dem Bedürfnis Rechnung trug, hinter den Buchstaben der Werke ihre überzeitliche Bedeutung und ihre aktuelle Interpretation zu finden.
In einem Gespräch mit Nikolaus Bachler hat Hans Neuenfels diesen Umbruch beschrieben und ihn auf das Ernstnehmen der Musik zurückgeführt: „Es war vor allem anders, weil die Institutionen selbst – im Falle Frankfurts besonders in Person des Dirigenten Michael Gielen und später des Dramaturgen Klaus Zehelein – Interpretation einforderten. Der Dirigent wurde Chef eines Opernhauses. Und der verlangte Interpretation. Er verlangte Haltung. Sicht, und zwar Sicht durch die musikalische Interpretation. Das heißt, er wollte wissen, warum da eine Fuge, eine Tempobeschleunigung ist, er wollte der Absicht des Komponisten nachgehen. Und weil die Komponisten unter dem formalen, starken Charakter der Musik ganz verborgene wüste Quellen – immer anarchistische, immer zweifelhafte, skeptische und immer auch analytische Quellen – versteckt hielten, galt es, die zu finden. Das war Detektivarbeit, aber das wurde verordnet.“
Dieses Aufspüren von verdeckten Bezügen trieb ihn in allen späteren Inszenierungen an. Zu seinen wichtigsten Arbeiten zählen Il trovatore (Nürnberg und Berlin), Macbeth und Aida (Frankfurt), Rigoletto und Idomeneo (Deutsche Oper Berlin), Le prophète (Wiener Staatsoper), Die Entführung aus dem Serail (Stuttgart), Lady Macbeth von Mzensk (Komische Oper Berlin) sowie in Koproduktion mit der Ruhrtriennale Schumann, Schubert und der Schnee in Berlin. 2010 inszenierte er bei den Bayreuther Festspielen Richard Wagners Lohengrin. 2005, 2008 und 2015 wurde er von der Zeitschrift Opernwelt zum Regisseur des Jahres gewählt.
An der Bayerischen Staatsoper führte er Regie bei Medea in Corinto von Giovanni Simone Mayr (Premiere 2010), bei Puccinis Manon Lescaut (2014)und bei der Uraufführung von Miroslav Srnkas South Pole (2016). Eine weitere Produktion war geplant: Castor et Pollux von Jean-Philipp Rameau sollte im Rahmen der Opernfestspiele 2020 im Prinzregententheater zur Premiere kommen; sie fiel der Corona-Pandemie zum Opfer. So hat Hans Neuenfels hier zwar nur drei Inszenierungen hinterlassen, aber seine Persönlichkeit, sein Wirken und Denken waren an diesem Haus stets enorm präsent. Die Bedeutung von Mythos und Freiheit hat in seiner Arbeit eine wichtige Rolle gespielt. In der dramaturgischen Reihe Unmögliche Enzyklopädie hat er in der Folge 34 („Unterwerfung“) in der Heilig-Geist-Kirche eine flammende Rede gehalten, deren Kerngedanke war: Die Kunst ist die einzige Macht, die uns zur Freiheit unterwirft.
An der Idee der Freiheit hat Hans Neuenfels immer festgehalten, auch als auf manche Gegebenheiten des Lebens und Älterwerdens Rücksicht genommen werden musste. Es fällt schwer sich vorzustellen, dass die Aufforderungen und Ermahnungen dieses großen Theatermachers nun verstummt sind. Aber seine Kunst lebt weiter, und wenn wir sie ernstnehmen, wird sein Beispiel für uns Ansporn bleiben, die Welt mit offenen Augen zu sehen, zu staunen und zu erkennen. „Es gibt tatsächlich die Liebe auf den ersten Blick, wie den Tod auf den letzten Blick.“
Malte Krasting