Identitätskrise um Lohengrin

Im Dezember wollen wir weit weg sein von Wagner’scher Opulenz. Viel relevanter scheint 2022 seine Widersprüchlichkeit – ein Spiegel unserer selbst?


VON KATA WÉBER


Die entscheidende Frage ist, wie sich unsere zeitgenössische Praxis mit Richard Wagners monolithischem Meisterwerk verbinden kann. Keine der gängigen Interpretationen bietet für uns den perfekten Schlüssel zu dieser Oper. Traditionelle Deutungen, die auf mittelalterlichen Sagen und christlicher Symbolik basieren, erscheinen uns ebenso unzureichend wie allegorische Auslegungen auf ideologischem Fundament. Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Wir verstehen Wagners Lohengrin vielmehr als Sinnbild einer gesellschaftlichen Krise: Ein schwacher Herrscher wird aufgerieben in den Machenschaften einer Gruppe Privilegierter, die um die Macht kämpfen.

Elsas naives, unreflektiertes Begehren ist einerseits bewundernswert, andererseits zerstörerisch in seiner Verblendung. Lohengrin verkörpert mit großer Kraft die Figur des Messias, aber auch deren negative Umkehrung. Als allegorische Verkörperung des von Gott gesandten Boten ist er zugleich für die Vereitelung jeder Chancengleichheit verantwortlich, indem er verbietet, nach seinem Namen zu fragen.

Gerade diese Widersprüche haben uns erkennen lassen, dass Wagners Oper enigmatisch und voller unauflösbarer Geheimnisse ist. Es wäre daher falsch, sich für eine Deutung zu entscheiden. Die Widersprüchlichkeit ist ein konstitutiver Teil des Werks und sollte unbedingt erhalten bleiben.

Wir wollen Wagners Werk nicht in den Dienst einer bestimmten Auslegung stellen, sondern es zum Anlass nehmen, über die Krise der Ideologien zu sprechen. Gerade die Widersprüche bezeugen Wagners tiefe Menschenkenntnis und sein Wissen über gesellschaftliche Konflikte. Jede gespaltene Gesellschaft kann von einer messianischen Erwartung erfasst werden. In jedem chaotischen Zeitalter kann die Mehrheit ihre Identität und ihren moralischen Halt verlieren und nicht mehr in der Lage sein, Verantwortung für die Gegenwart zu übernehmen. In solchen Phasen bleibt der Mehrheit nichts anderes übrig, als auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Hoffnung ist allerdings ein trügerischer Trost. Sie kann helfen, die Dinge zu ertragen. Sie kann aber auch ein Instrument der Verblendung sein.

Als zeitgenössische Künstler:innen müssen wir auf die Herausforderungen unserer Gegenwart reagieren. Unser Blick richtet sich daher auf Gegenwart und Zukunft, nicht auf die Vergangenheit. In der digitalen Welt, in der sich unsere Identitäten vervielfacht haben, nimmt das Warten auf den Messias eine neue Form an. Der Cyberspace hat keine totale Demokratie, sondern eine Überwachungs- und Kontrollkultur hervorgebracht. Sie markiert eine Ära, in der die bisherige Weltordnung infrage steht und nach neuen Beschreibungsmodellen verlangt.

In dieser Inszenierung wollen wir auf der Bühne einen Raum erschaffen, der genau diese vielfältige Sicht auf nebeneinander existierende Paralleluniversen widerspiegelt. Das Abbild einer posthumanen Welt. In einer Art Laboratorium sollen die Zuschauer:innen die Bühnenereignisse als singuläre Realitätsausschnitte untersuchen können, die kein Ganzes bilden. Sie verfolgen eine Simulation, deren Teil sie selbst sind.

Klar und kalt: Die lettische Bühnenbildnerin Monika Pormale gestaltet die Lohengrin-Inszenierung in München.

Wir betrachten die Aufführung daher nicht als ein Aufeinanderprallen dramatischer Charaktere, sondern als Teil eines gemeinschaftlichen Prozesses. Wir wollen die Charaktere nicht hierarchisch darstellen, sondern als gleichberechtigte Partner, die Teil eines Passionsspiels sein könnten. Figuren, die das Geschehen der Tragödie nicht nur erleiden, sondern – in einem Akt der Entfremdung – auch selbst erschaffen und bezeugen.

Wir hoffen, dass wir die Geschichte so aus dem Griff einer rein religiösen oder politischen Deutung lösen und den Blick auf eine transzendente Perspektive eröffnen können, die uns erkennen lässt, dass sich in Wagners Widersprüchen auch unsere eigenen zeigen.