Schönberg
Der Körper, das Verlangen und
das Unbewusste


Text: Christian Longchamp

Christian Longchamp, in Lausanne geboren, studierte Kunstgeschichte und Philosophie in Genf und an der Sorbonne in Paris. Er begann seine Karriere als Organisator von Ausstellungen über zeitgenössische Künstler und Filmemacher. Er war Kurator am Auditorium des Louvre (2004–2007), künstlerischer Berater, Dramaturg und Leiter der Publikationen am Opernhaus La Monnaie in Brüssel (2007–2014) und Dramaturg und Leiter der Publikationen an der Opéra national de Paris (2014 / 15). Zwischen 2016 und 2019 war er künstlerischer Berater von Eva Kleinitz an der Opéra national du Rhin in Straßburg, unter anderem verantwortete er als Kurator das multidisziplinäre Festivals Arsmondo. Mit Krzysztof Warlikowski verbindet ihn bereits eine längere Zusammenarbeit, die auch zukünftige Projekte einschließt. Christian Longchamp schreibt regelmässig für die französische Zeitschrift La Règle du jeu. Derzeit entwickelt er zudem eine neue digitale Plattform über zeitgenössische europäische Literatur. Für Dido und Aeneas ... Erwartung arbeitet er zum ersten Mal für die Bayerische Staatsoper.


Die Künstler und Künstlerinnen, die in der Malerei und Literatur des späten 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts die größten formalen Revolutionen vollbrachten, haben nicht nur die Kunst, sondern auch das Verhältnis zwischen Mensch und Welt verändert, denn sie ließen ihr eigenes Leben in die Kunst einfließen: Schöpfung und Existenz waren in ihr untrennbar miteinander verbunden. In der Enthaltsamkeit oder im Exzess. Und in jedem der von ihnen erfundenen zutiefst persönlichen Wege fanden sie einen Zugang zum Universellen. Die Kunst fungierte als Seismograph ihres Innenlebens. Diese Schriftsteller, Schriftstellerinnen und Maler, denen heutzutage Ausstellungen in den größten Museen der Welt gewidmet sind und deren Werke von den renommiertesten Verlagen veröffentlicht und übersetzt werden, sind aus unserem Leben nicht wegzudenken: Sie haben uns zu dem gemacht, was wir sind. Wir verdanken ihnen einen Teil von uns selbst, vielleicht sogar den schönsten. Die Opfer, die sie auf der Suche nach ihrer „Wahrheit“ gebracht haben, sind allseits bekannt. Angesichts dieser einzigartigen Hingabe an ihre selbstgestellte Aufgabe werden sie umso mehr geschätzt. Aber auch verspottet, der Kommerz zieht sie ins Lächerliche, die Ironie versucht, sie klein zu halten. Sie enden auf Teetassen oder teuren Taschen. Doch ihre Stimme ist für jeden, der sie hören will, weiterhin hörbar. Ihre Stimme steht für das Überleben ihres Anspruchs.

ENGELSGESANG
Während eine enge Verbindung zwischen den fieberhaften und unruhigen Existenzen dieser Schöpfenden und ihren Werken besteht, gelten in der Welt der klassischen Musik ganz andere Gesetze. Eine erlesene Welt, in der man unter kultivierten Menschen kaum die Tiefen, die Triebe und das Chaos ermessen zu können scheint. Glatt, ja: Diese Welt ist glatt, hin und wieder mit einigen winzigen Wellen versehen. Mit anderen Worten: Die Musik muss in dieser Welt Engelsgesang sein. Für das Publikum ist nur der Komponist ein Künstler, der die Menschen so sehr liebt, dass er ihnen unverfängliche Genüsse schenkt. Ein Komponist – zumindest wird er noch häufig so wahrgenommen – muss Hochgenuss und Wohlbehagen verbreiten. Und selbst unter den zeitgenössischen Komponisten und Komponistinnen, in dem sehr engen Kreis der Freunde und Freundinnen moderner Musik, in dem der Hochgenuss eine noch größere Rolle spielt, soll um das Leben eines künstlerisch Schöpfenden kein Aufhebens sein. Musik ist hier zumeist ein brillantes Spiel, dem man sich widmet, wenn man zuvor einen Auftrag erhalten hat. Ich übertreibe an dieser Stelle nur wenig. Ja, gewiss, es gab Beethoven, es gab Wagner, es gab Mahler, es gab Bartók, es gab Janáček, es gab Berg, es gab Schostakowitsch, es gab Szymanowski, es gab Scelsi und auch andere. Aber nur wenige, bei denen es nicht um das Spiel oder um Unterhaltung, sondern vielmehr um Notwendigkeit geht.

IN DEN KLÄNGEN, IN DER STIMME
Und dann wäre da noch Arnold Schönberg. Das Schönberg-Ereignis. Die Schönberg-Revolution. Die Schönberg-Radikalität. Innerhalb weniger Jahre änderte sich damals die Musik-Welt. Die Kompromisslosigkeit des österreichischen Komponisten, vor allem seine Unnachgiebigkeit sich selbst gegenüber, insbesondere zur Zeit der Entstehung von Moses und Aron, als er für Publikum und Presse den asketischen Meister der Zweiten Wiener Schule, den radikalsten Teil der Moderne in der Musik, repräsentierte. Ein Künstler mit einer außergewöhnlichen Kompromisslosigkeit, die der Ernst in seinem Blick und seinen Zügen am Ende der 1920er Jahre noch unterstreicht – so setzte Schönberg sich für seine Bewunderer wie auch für seine Kritiker als Idealbild des Erfinders der Zwölftonmusik durch.

Als ein zur Musik konvertierter Pfarrer. Ein Mann ohne Körper. Reine Mathematik der Töne. Doch all dies ist eine Lüge. Auch wenn seit einigen Jahren Essays für mehr Klarheit sorgen, halten sich die stereotypen Klischees in der Welt der Klassik hartnäckig. Arnold Schönbergs schöpferisches Abenteuer wurde schon immer von einer außergewöhnlichen Sensibilität getragen, die ihn extreme, gefährliche Erfahrungen machen ließ, insbesondere in den Jahren vor und nach der Komposition von Erwartung im Spätsommer 1909. Um es anders auszudrücken: Ähnlich wie bei den Bildern von Vincent van Gogh, in denen man die intensive Beziehung des niederländischen Malers zur Welt wahrnimmt, ist es für die Tiefe von Schlüsselwerken in der Geschichte der modernen Musik wie Schönbergs Streichquartett Nr. 2 op. 10 und vor allem Erwartung entscheidend, in den Klängen, in der Stimme Schönbergs Körper zu spüren. Wir befinden uns mit dem Monodram Erwartung an einem entscheidenden Punkt in der Musikgeschichte. Aber wir müssen noch die Malerei erwähnen.

SCHÖNBERG UND GERSTL
Im Spätwinter oder Frühjahr 1906 lernte Schönberg einen 22-jährigen, zehn Jahre jüngeren Mann kennen, den Maler Richard Gerstl, eine launische, exzessive, atemberaubende, einsame Persönlichkeit, einen Mann am Puls der Zeit, der sich leidenschaftlich mit der zeitgenössischen Musik beschäftigte, der, nachdem er die Freundschaft Gustav Mahlers gesucht hatte, sich schließlich mit Schönberg verband. Gerstls Meteorit-gleiches Werk, das mit der Sezession brach, markierte die Geburt des Expressionismus in Österreich, indem es dem Selbstporträt einen großen Anteil einräumte. Die dreißig Monate nach ihrer ersten Begegnung sollten für beide Künstler von entscheidender Bedeutung sein. Was sie vor allem verband, war ihre gemeinsame Überzeugung: In der Malerei wie in der Musik war eine Zäsur notwendig. Schönberg war mit Mathilde, der Schwester des Komponisten und Dirigenten Alexander von Zemlinsky, verheiratet, einer brillanten, anziehenden Frau, von der Fotografien keine hinreichende Vorstellung vermitteln können. Die beiden hatten zwei Kinder. Obwohl Schönberg in Wien bereits einen Namen in der Szene der zeitgenössischen Musik hatte, blieben seine Lebensumstände bescheiden und oft schwierig. Deshalb beschloss er, seine jüngste Obsession, das Malen, in die Tat umzusetzen, in der Hoffnung, schnell Bilder verkaufen zu können und so zusätzliche finanzielle Mittel zu erhalten. Auf Grundlage der Technik, die er sich aneignete, begann eine einzigartige und faszinierende Schaffensperiode. Eine unmittelbare, intensive Freundschaft erfasste die beiden Männer, und Schönberg lud Gerstl ein, einige Tage mit seiner Familie und seinen Freunden in Gmunden zu verbringen, nicht weit von Salzburg.

Im Sommer 1907 kam zu der Verbindung zwischen Schönberg und Gerstl eine immer tiefer werdende freundschaftliche Beziehung zwischen Mathilde Schönberg und Richard Gerstl hinzu. Arnold Schönberg förderte diese Beziehung zunächst, er sah für sich selbst darin den Vorteil, mehr Abgeschiedenheit und damit mehr Möglichkeiten zu haben, sich auf seine eigene Arbeit zu konzentrieren. Die besondere Beziehung Gerstls zu seiner Frau beunruhigte den Komponisten schließlich doch, und auch ihre besänftigenden Briefe konnten ihn nicht zur Vernunft bringen. Zu Recht, denn im Sommer 1908, gerade als Schönberg sein zweites Streichquartett fertiggestellt hatte, wurden Richard und Mathilde in flagranti erwischt. Die vergangenen Monate hatten dem Künstler Richard Gerstl die Gelegenheit geboten, immer weiter über die zu seiner Zeit in Österreich bekannte Malerei hinauszugehen, bis hin zu dem Punkt, an dem er eine Art formüberschreitende Kraft entwickelte, ein zerstörerisches Potential, das der Kunst selbst innewohnt; es zerreißt die Gesetzmäßigkeiten der figurativen Kunst zugunsten einer bis dahin nicht dagewesenen emotionalen Stärke. Und das zu einem Zeitpunkt, als Schönberg seinerseits mit Konventionen brach, indem er im letzten Satz seines Streichquartetts op. 10 eine Frauenstimme einführte, eine Stimme, die die Schwelle zu einem Gebiet überschreitet, das von der tonalen Musik nicht mehr betreten wird. Wir können kaum einschätzen, wie atemberaubend kühn es war, dass Gerstl im Sommer 1908 die Konventionen der westlichen Malerei nicht nur aufgab, sondern brutal mit Füßen trat.

Und auch Schönberg lies die klassischen Regeln der Tonalität hinter sich, um eine neue Klangwelt zu erschaffen, im Sinne eines aufrichtigen Ausdruck seines Innersten.

Sowohl für den Maler als auch für den Komponisten ist diese Aufrichtigkeit zentral. Die Suche nach Wahrhaftigkeit ermöglichte den Durchbruch.

IM MOMENT DER FRAGILITÄT
Doch gerade im Moment der größten Kühnheit, der auch der Moment der Fragilität angesichts des Unbekannten ist, bricht alles zusammen und die Leben von Arnold, Mathilde und Richard werden zerstört. Körperliches Verlangen, Eifersucht, Trennung, Leid, Ablehnung – die Gewalt dieses explosiven Cocktails ist so groß, dass Verzweiflung und sogar der Gedanke an Selbstmord jeden von ihnen befällt. Nur Gerstl setzt seinem Leben ein Ende. Auf eine schreckliche Art und Weise. Er kastrierte sich selbst, stieß sich ein Messer in die Brust und erhängte sich dann, am Abend eines Konzerts von Schönberg und seinen Schülern, zu dem er nicht eingeladen worden war. Einige Wochen zuvor hatte der Komponist, der ebenfalls von dem Gedanken besessen war, sein Leben zu beenden, handschriftlich einen Testamentsentwurf verfasst, der sich im Archiv des Arnold Schönberg Centers Wien befindet. Dieses selten erwähnte Dokument ist von großer Bedeutung, um zu verstehen, in welchem inneren Sturm er versuchte, seinen Gefühlen, der Realität und seinen Fantasien einen Sinn zu geben. Die geistige und formale Nähe dieses Dokuments zu dem Monodram Erwartung, das Schönberg im darauffolgenden Sommer in weniger als drei Wochen komponierte, ist frappierend. Dort findet sich der explosive Cocktail, den ich oben erwähnte: körperliches Verlangen, Eifersucht, Trennung, Leid, Ablehnung, Gewalt.

AUSDRUCK EINER INNEREN KRISE
Es bleibt zwar unklar, von wem der Inhalt des Librettos des Monodrams stammt – die Autorin Marie Pappenheim berichtete in einem Interview in den 1960er Jahren, sie habe die Idee dazu vorgeschlagen, während Schönberg bereits in den Jahren nach der Komposition des Werks in einem Brief an Ferruccio Busoni erklärte, dass die Idee von ihm sei –, doch steht für mich fest, dass das Werk mit all seinen extremen Emotionen ein durch Musik und Worte vermittelter Ausdruck der gewaltigen Krise ist, die der österreichische Komponist ein Jahr zuvor erlebt hatte. Im Januar 1906 fand in Wien die erste Ausstellung mit einer großen Anzahl von Werken Vincent van Goghs statt. Es ist unbekannt, ob Schönberg sie besuchte. Wir wissen jedoch, dass Gerstl von dieser Ausstellung nachhaltig beeindruckt war und dass seine eigenen Bilder durch ihre Intensität und die angstvollen Erfahrungen, aus denen sie erstanden, davon zeugen. Die schöpferische Energie des Unbewussten im damaligen Wien, das sich erst seit kurzem der Psychoanalyse öffnete, wurde sowohl von Gerstl als auch von Schönberg aufgegriffen. Van Gogh hatte es in seiner Darstellung der Welt verstanden, in jedem seiner Bilder das Fieber der Singularität, der Einzigartigkeit erlebbar zu machen, hatte es verstanden, der Kraft seines innersten Lebensbereiches Gestalt zu verleihen. Das war es, wonach auch Arnold Schönberg in diesen Jahren strebte. Erwartung ist ohne Zweifel der stärkste Ausdruck davon, im gleichen Maße wie Schönbergs Selbstporträts und Visionen, die er während dieser Zeit malte: als Mittel nicht der Abbildung äußerer Erscheinung, sondern um eine leidenschaftliche, feurige Kraft, die in ihm steckte, offenbar werden zu lassen. Dieses Werk trägt Schönbergs Körper und sein Unbewusstes in sich, so wie ein Selbstporträt von Gerstl oder von van Gogh Ausdruck expressiver Impulse und kreativer Energien des Unbewussten ist.

Mit Erwartung gelang es Schönberg, einer inneren Katastrophe eine musikalische Form zu geben.

Sofern die Musik dem Komponisten von einem Engel eingeflüstert wurde, waren dessen Flügel nicht mehr unbefleckt. Der Engel hatte vermutlich zuvor mehrmals auf dem Behandlungssofa von Doktor Freud gelegen.

 
Blaues Selbstportrait auf Sperrholz 1910
Blaues Selbstportrait auf Sperrholz 1910
Selbstportrait Gouache auf Papier ca. 1910
Selbstportrait Gouache auf Papier ca. 1910
Selbstportrait auf Karton ca. 1910
Selbstportrait auf Karton ca. 1910
Selbstportrait und Aquarell auf Karton ca. 1910
Selbstportrait und Aquarell auf Karton ca. 1910
Selbstportrait auf Sperrholz 1910
Selbstportrait auf Sperrholz 1910