Spuren extremer Erfahrung
Zur Situation von Traumaüberlebenden und ihren Angehörigen


Zwei Menschen treffen in der Fremde aufeinander und verlieben sich. Beide haben zuvor Krieg, den gewaltsamen Tod geliebter Menschen und erzwungene Flucht erlebt, und diese traumatischen Erfahrungen haben tiefe Spuren hinterlassen. So kann – sehr verkürzt – die Ausgangslage der Protagonisten Dido und Aeneas beschrieben werden.


Text: Thomas Ehring

Prof. Dr. Thomas Ehring studierte Psychologie an den Universitäten Mainz und Hamburg und promovierte am King‘s College in London. Anschließend war er an der Universität Bielefeld als wissenschaftlicher Assistent tätig und absolvierte die Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten (Verhaltenstherapie) am IPP Münster. Er war von 2007 bis 2012 als Assistant Professor an der Universität Amsterdam sowie von 2012 bis 2015 als Professor an der Universität Münster tätig. Seit April 2015 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der LMU München sowie wissenschatlicher Leiter der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz.

Bild: Evelyn Freja



Im weiteren Verlauf scheitert die Beziehung und endet tragisch. Könnte dieses tragische Ende mit den traumatischen Erfahrungen der beiden zusammenhängen? Welchen Einfluss haben Traumata auf das Leben der Betroffenen, insbesondere auf ihre Beziehungsfähigkeit? Allgemeingültige Antworten auf diese Fragen sind nicht möglich. Jeder Mensch reagiert auf seine oder ihre eigene Art und Weise auf ein traumatisches Erlebnis.
Zu den faszinierendsten wissenschaftlichen Erkenntnissen über Traumafolgen gehört dabei der Befund, dass es vielen Menschen gelingt, auch extreme Erfahrungen erfolgreich zu bewältigen. Viele Traumaüberlebende können daher auch stabile und befriedigende Beziehungen führen. (Ebenso können Beziehungen selbstverständlich auch dann tragisch enden, wenn niemand der beteiligten Person zuvor traumatische Erlebnisse hatte.

FOLGEN VON TRAUMATISIERUNG AUF BEZIEHUNGEN
Traumata können jedoch durchaus zu schwerwiegenden psychischen Problemen führen, die auch Beziehungen beeinträchtigen. Diese können sich zum Beispiel darin äußern, dass Traumaüberlebende auch in alltäglichen Situationen starke Angst erleben, besonders schreckhaft und wachsam sind oder wie abwesend wirken. Zudem kann es Betroffenen schwerfallen, dem Partner oder der Partnerin zu vertrauen, sich zu öffnen oder körperliche und emotionale Nähe auszuhalten. All dies kann für Angehörige schwierig sein einzuordnen und zu akzeptieren. Als Schlüssel zum Verständnis dieser Veränderungen im Verhalten und Erleben nach Traumata ist es hilfreich sich bewusst zu machen, dass diese einen gemeinsamen Kern haben:

Obwohl die gefährlichen und grausamen Erlebnisse bereits in der Vergangenheit liegen, erleben Betroffene mit posttraumatischen Problemen immer noch eine aktuelle Bedrohung.

Das Trauma ist zwar in der Realität abgeschlossen, nicht jedoch im persönlichen Erleben. Das Verhalten passt für Außenstehende nicht zur alltäglichen Situation, ist jedoch vor dem Hintergrund der Wahrnehmung einer aktuellen Bedrohung unmittelbar verständlich.
Wie kommt es zu diesem Erleben einer aktuellen Bedrohung? Eine Ursache ist, dass Traumaüberlebende im Alltag regelmäßig Teile ihrer Erfahrung ungewollt wiedererleben: als Albträume, als sich aufdrängende Bilder, Geräusche, Erinnerungen oder Flashbacks oder als starke körperliche Reaktionen auf Situationen, die an das Trauma erinnern. So kann ein Kriegsveteran auch später als Zivilist in Alltagssituationen immer wieder Bilder von Verletzten oder Toten vor dem inneren Auge sehen, Geräusche oder Gerüche aus der traumatischen Situation wahrnehmen und sich in eigentlich harmlosen Situationen wieder in Lebensgefahr fühlen. Überlebende von Gewalt sehen häufig immer wieder das Gesicht des Täters vor sich, spüren erneut den körperlichen Schmerz des Angriffs oder reagieren auf bestimmte Berührungen durch andere Menschen mit starker Angst. Dieses ungewollte Wiedererleben kommt wie aus heiterem Himmel, es kann sehr lebhaft sein und vermittelt das Gefühl, dass Teile des Traumas „hier und jetzt“ noch einmal stattfinden. Im Extremfall können Betroffene in diesen Momenten den Bezug zur Realität verlieren und nicht mehr sicher unterscheiden, was damals geschehen ist und was gerade aktuell passiert.

Zudem ist während eines Traumas der Körper in äußerster Alarmbereitschaft. Diese kann bestehen bleiben, selbst wenn die eigentliche Gefahr schon längst vorbei ist. Betroffene bleiben dann extrem wachsam und schreckhaft, leiden unter Schlafstörungen und Konzentrationsproblemen. Die Symptome des Wiedererlebens, der Schreckhaftigkeit und Wachsamkeit sind sehr belastend. Traumaüberlebende versuchen daher oft, Situationen oder Personen aus dem Weg zu gehen, die Wiedererleben auslösen können. Diese Vermeidung vieler Situationen kann die Lebensqualität und Lebensführung drastisch einschränken und auch dazu führen, dass Betroffene sich vom Partner oder der Partnerin zurückziehen.
Schließlich beschreiben viele Menschen nach einem Trauma, kaum mehr Freude empfinden zu können oder sich innerlich wie betäubt zu fühlen. Andere erleben sich wie abgeschnitten und entfremdet von anderen und haben Schwierigkeiten, selbst nahestehenden Personen noch zu vertrauen.

TRAUMATA DAMALS UND HEUTE
Lassen sich diese Befunde zu Traumafolgen im 21. Jahrhundert so ohne weiteres auf frühere Generationen übertragen? Sind aktuelle Konzepte zu Traumata und deren Folgen nicht sehr stark kulturell und historisch bedingt? Trotz der gebotenen Vorsicht können zwei Beobachtungen festgehalten werden. Erstens sind traumatische Erlebnisse wie Krieg, Flucht und Vertreibung, sexuelle und körperliche Gewalterfahrungen oder Naturkatastrophen keine moderne Erscheinung, sondern begleiten uns aller Wahrscheinlichkeit nach schon seit Beginn der Menschheitsgeschichte. Und so ist es zweitens nicht verwunderlich, dass die körperlichen und seelischen Folgen solcher Traumata in historischen und literarischen Texten bereits über Jahrtausende hinweg dokumentiert worden sind: von einer 4000 Jahre alten Klage über die Folgen des zerstörerischen Kriegs in der antiken Stadt Ur, über Homers Ilias, Shakespeare-Dramen wie Henry IV bis hin zu zeitgenössischen Texten. Viele der psychischen Traumafolgen, die in der aktuellen wissenschaftlichen und psychotherapeutischen Literatur beschrieben sind, finden sich hier bereits wieder: von Schlafstörungen, Albträumen, Angstsymptomen, belastenden Erinnerungsbildern, Reizbarkeit und Aggressivität bis hin zu Problemen in persönlichen Beziehungen.

Offenbar sind zumindest einige der Spuren, die Traumata in Menschen hinterlassen können, universell. Diese Universalität gilt jedoch ebenso für die beeindruckende menschliche Anpassungsfähigkeit.

Menschen können Traumata verarbeiten, so dass die Erlebnisse zu einem Teil der eigenen Biografie werden und die Wahrnehmung der aktuellen Bedrohung zurückgeht; Traumaüberlebende können ihr Leben zurückerobern. Heute, im 21. Jahrhundert, gibt es wirksame psychotherapeutische Behandlungen, die dabei unterstützen.
Auch wenn diese in früheren Zeiten noch nicht zur Verfügung standen, ist nicht auszuschließen, dass einige zentrale Prinzipien dieser Therapien in ganz anderer Form auch schon lange vor unserer Zeit ihre Wirkung entfaltet haben: die Konfrontation mit den Erinnerungen und Verbalisierung der traumatischen Erfahrungen, eine Neubewertung der Erfahrungen sowie eine bewusste Reorientierung der eigenen Ziele und Werte für das Leben, das Sammeln neuer Erfahrungen, die Vertrauen schaffen und Sicherheit vermitteln, sowie das Erleben von Unterstützung durch andere Menschen. Kehren wir zurück zur Ausgangsfrage, welche Effekte Traumatisierung auf Beziehungen hat. Wir haben festgestellt, dass diese sehr schwerwiegend sein können, eine Bewältigung und Verarbeitung der Erlebnisse und der Traumafolgen aber möglich ist. Die Psychologie lehrt uns jedoch, dass menschliches Erleben und Verhalten grundsätzlich vielfältig und komplex ist (auch wenn dies manchmal unserem ebenfalls menschlichen Wunsch nach einfachen kausalen Erklärungen widerspricht).
Und so ist wohl die wichtigste Erkenntnis, dass weder Traumatisierung zwangsläufig Beziehungen scheitern lässt, noch dass Beziehungen von Personen ohne traumatische Erfahrungen davor gefeit sind, tragisch zu enden.