Über Frauen in der Choreographie


Sol León und Paul Lightfoot bilden seit 20 Jahren ein choreographisches Duo. Anlässlich des Weltfrauentags hat Annette Baumann mit Sol León über Frauen in der Choreographie, über (männliche) Machtstrukturen, weibliche Schönheit und die Balance zwischen Yin und Yang  gesprochen.

Annette Baumann (AB): Sol, du arbeitest mittlerweile seit über 20 Jahren mit Paul Lightfoot zusammen. Ihr seid ein choreographisches Team, habt unzählige Werke gemeinsam entwickelt. Was hat sich in dieser Zeit verändert, insbesondere für die Frauen?

Sol León (SL): Ich würde sagen, es ist heute anders. Aber leider nicht überall. Es ist eine Evolution. Ja, das Leben ändert sich; ja, das Leben entwickelt sich weiter. Aber nicht genug. Ich denke, heute werden Frauen mehr unterstützt als zu meiner Anfangszeit. Und es macht einen großen Unterschied, ob du als Frau alleine oder mit einem männlichen Partner arbeitest. Für Paul und mich war es anfangs schwer, gleichermaßen anerkannt zu werden. Ich hatte mich dafür entschieden, im „Inneren“ der choreographischen Blase zu arbeiten. Und wenn du in einem Team mit einem Mann arbeitest, steht meist der Mann im Fokus. Ich hatte zum Beispiel oft eine klare Meinung zu einem Thema, aber die Leute waren viel stärker an dem interessiert, was Paul zu sagen hatte. Es war nicht einfach mit der Situation umzugehen, weder für ihn noch für mich.

AB: Ist das heute noch immer so?

SL: Wir haben uns beide weiterentwickelt, Paul und ich. Und wir lernen immer noch dazu. Heute ist es für mich einfacher, ich selbst zu sein.

Wenn ich heute das Gefühl habe, unfair behandelt zu werden, dann sage ich das.

AB: Es gibt bis heute immer noch viel weniger weibliche als männliche Choreographen. Warum?

SL: Das ist ein Problem, das nicht allein im Tanzbereich existiert, sondern in allen Künsten. Frauen wurden lange zurückgehalten, sie wurden in der Vergangenheit viel strenger beurteilt und bewertet als Männer. Ich möchte damit nicht sagen, dass Frauen besser sind. Auf keinen Fall. Frauen sind einfach anders. Heute sind in vielen Bereichen mehr Frauen als früher zu finden. Aber ist das nur so, weil sie Frauen sind?? Das finde ich auch nicht richtig. Na ja, es ist eine Evolution, Veränderungen brauchen Zeit. Ich freue mich sehr, wenn Frauen in wichtige Positionen kommen. Egal ob in der Kunst oder sonst im gesellschaftlichen Leben. Aber ich hoffe, es liegt nicht nur am Geschlecht, dass sie diese Positionen erreicht haben. Jetzt muss die Frau auch einen guten Job machen, sie muss sie selbst sein, muss Dinge anders angehen. Die Schönheit der weiblichen Seite liegt ja genau darin, eben nicht die männliche Seite in Punkto Macht zu imitieren; sondern die Dinge auszubalancieren und so auf ein neues Level zu heben. Ein Level auf dem die Gegensätze zu etwas schönem Ganzem zusammenkommen und zwar auf gesunde Art und Weise.

AB: Glaubst du, es ist eine Machtfrage? Weil Männer die Macht haben, über Karrieren, über programmatische Inhalte, über Strukturen zu entscheiden?

SL: Für mich ist es eher eine Frage von Energien, wie mit Yin und Yang. Männer stecken oft zu viel Power in eine Seite. Aber es geht nicht nur um die eine Seite. Leben, Schönheit, Harmonie, Glück, all das liegt in der Balance von beiden Seiten. Ich bin bestimmt eine Powerfrau, aber ich würde nie sagen, dass ich mehr Power habe als ein Mann. Dann hätte ich ja das gleiche Problem, nur anders herum.

Die Magie liegt in der Balance der beiden Gegensätze.

Harmonie kann Realität werden. Es ist mir sehr wichtig, das an dieser Stelle zu sagen. Es geht mir nicht darum, die Männer zu verteufeln und mich einzig auf die Seite der Frauen zu stellen. Es ist offensichtlich, dass es auch (noch) nicht viele Frauen gibt, die bereit sind für diese echte, richtige weibliche Seite; die das Talent bzw. die Fähigkeit und die Sensibilität besitzen zu verstehen, dass es nicht darum geht, eine Seite auszustechen; sondern darum, die Balance zu finden. Das ist etwas, was Männer allein bis dato nicht geschafft haben. Daher liegt es jetzt an Frauen und Männern gleichermaßen, dieses Gleichgewicht herzustellen. Alles im Leben hat zwei Seiten. Und wenn wir heute in einer Männerwelt leben, könnte es daran liegen, dass es den Männern nicht gelungen ist, beide Seiten des Lebens auszubalancieren.

 

AB: Ein interessanter Aspekt. Meinst du, die Dinge in der Zukunft laufen besser, wenn die Frauen mehr Macht haben, das Leben anders auszubalancieren?

SL: Ich hoffe es. Noch passiert das nicht. Ich glaube auch nicht, dass Frauen so bald mehr Macht haben werden. Das dauert. Aber ich denke, Frauen können bei diesem Prozess helfen, indem sie ihre Sicht auf die Dinge vermitteln, ohne dabei die männliche Perspektive zu degradieren. Diese Erfahrung habe ich oft gemacht, wenn Paul und ich als Team gearbeitet haben.

Man muss sein eigenes Ego auch mal beiseitelassen und dem anderen zugestehen: Du hast Recht.

AB: Selber zurückstecken, jemandem Recht geben – das ist vermutlich etwas, das Frauen besser können?

SL: Ja, weil Frauen das schon immer getan haben. Weil Frauen, egal ob sie Mutter sind oder nicht, die biologische Notwendigkeit in sich tragen, Leben auf die Welt zu bringen und dieses zu erhalten. Das sagt schon eine Menge aus. Der Meinung von Frauen wird inzwischen auch mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Aber wir dürfen uns nicht ausruhen. Es gibt immer noch eine Menge Frauen, die nicht gehört oder sogar umgebracht werden, einfach weil sie sich für Menschenrechte einsetzen. Man denke nur an den Iran.

 

AB: Hast du dich denn in deiner Arbeit als Choreographin je benachteiligt gefühlt? Oder trifft das in deinem Fall weniger zu, weil du mit Paul zusammengearbeitet hast?

SL: Jetzt natürlich nicht mehr, aber in der Vergangenheit: ja. Wir haben zusammengenarbeitet, aber ich hatte oft das Gefühl, dass manche Menschen meine Meinung weniger wertschätzten, als die von Paul. Es gab Leute, die waren von Beginn an nicht an meinen Visionen interessiert. Und damit meine ich nicht nur Männer. Auch für andere Frauen war es merkwürdig zu akzeptieren, dass wir als zwei gleichberechtigte Individuen Teil des kreativen Prozesses in einem gemeinsamen Lebenswerk waren.

AB: Es war anfangs also sehr ungewöhnlich, mit Paul als choreographisches Duo aufzutreten?

SL: Sehr ungewöhnlich, ja. Man hat uns nicht in gleichem Maße akzeptiert. Die Leute wollten immer nur einen. Es war komisch, dass wir zu zweit waren. Und zwar ein Mann und eine Frau. Aber darauf bauen alle unsere Choreographien auf. Es ist wie mit Yin und Yang. Wenn zwei Männer was choreographiert haben, hat man sie als gleichberechtigt angesehen. Wenn aber ein Mann und eine Frau künstlerisch zusammengearbeitet haben, hat man die Frau in einer schwächeren Frequenz wahrgenommen.

Ich mochte es überhaupt nicht, wenn die Leute mich nur als seine Muse angesehen haben und nicht als kreative Kraft.

Zu Beginn habe ich mich darum auch nicht wirklich gekümmert, sondern mich auf meine Arbeit konzentriert. Das hat sich in dem Moment geändert, als ich Mutter wurde. Da habe ich angefangen, mich und meine Bedürfnisse selbst zu managen. Und meine Prioritäten haben sich geändert.
 

AB: Hast du Tipps für junge Choreographinnen? Wie sollten sie sich am besten verhalten?

SL: Du musst immer an dich selbst glauben und dich selbst lieben. Du darfst nicht darauf warten, dass andere Menschen kommen, die dich und deine Arbeit schön finden. Du bist schön! Lerne zu kommunizieren und dich auszudrücken; finde den Stil, der deiner ist. Und dann: Kreiere! Kreiere mit Liebe und teile es.
 

AB: Eine schöne Antwort. Gibt es in deinen Augen denn so etwas wie eine „weibliche“ Choreographie?

SL: Wenn ich eine Choreographie sehe, möchte ich keinen Unterschied sehen. Ich möchte einfach eine gute Choreographie sehen. Da ist es völlig egal, ob sie von einer Frau oder von einem Mann geschaffen wurde. Pina Bausch ist hier das beste Beispiel. Sie hatte ein unglaubliches Potenzial und hat in ihrer Zeit jede Choreographie beeinflusst. Sie war und ist auch meine größte Inspiration.
 

AB: Wie sind denn die Frauen in Schmetterling dargestellt? Welche Rollen spielen sie?

SL: Ich habe mich immer dafür interessiert, wie die Frauen sich über die Generationen hinweg entwickeln, wie sie sich wie ein Faden durch die Evolution weben. Es gibt die drei Stadien in einem weiblichen Leben: das kleine Mädchen, die Frau und die alte Dame. Die große Inspiration für diesen Abend sind in Symbolen gesprochen: Leben, Tod und Verwandlung. Dies kommt auch in Schmetterling zum Ausdruck.

Eine Sache möchte ich abschließend noch sagen: Was der Zuschauer in diesem Abend sehen wird, wurde gleichermaßen von einem weiblichen und einem männlichen Herzen kreiert, die die erwähnten beiden Gegensätze darstellen. Und der Abend wird ganz wunderbar von sensiblen Tänzerinnen und Tänzern auf der Bühne umgesetzt.

VORSTELLUNGSTERMINE 


Sol León und Paul Lightfoot können Sie bei der Einführungsmatinee zu Schmetterling am Sonntag, 19. März 2023 um 11 Uhr im Nationaltheater live im Gespräch mit Serge Honegger erleben. 

Schmetterling sehen Sie ab 31. März 2023 im Nationaltheater. 

Autorin: Annette Baumann

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