EDOUARD HUE IM INTERVIEW

SH        Serge Honegger
EH        Edouard Hue

 

SH          Mit welcher Bühnensituation lässt du Skinny Hearts beginnen?

EH          Wir befinden uns in der Kälte. Es ist Winter und es fühlt sich an, als würde ein langer Schlaf auf uns warten, aus dem wir vielleicht nie wieder erwachen. Die Figuren, die wir auf der Bühne sehen, sind in einem winterschlafähnlichen Zustand gefangen. Der Körper wurde von ihnen aufgegeben, weshalb er nicht mehr weitergehen will. Aber dann gibt es eine Person, die sich dem entgegenstellt, eine neue Dynamik schafft und die Energie verändert.

 

SH          Um mit der Choreographie zu starten, bist du von einer Grundidee ausgegangen?

EH          Ich habe über eine Struktur nachgedacht, die eine Einfachheit besitzt, die es mir aber ermöglicht, komplexere Formen zu entwickeln, eine Art Rubik's Cube mit verschiedenen Oberflächen und Kanten. Darüber habe ich auch mit dem Komponisten Jonathan Soucasse gesprochen. Wir arbeiten seit sechs Jahren zusammen. Normalerweise entwickeln wir den musikalischen Prozess gemeinsam, aber bei diesem Projekt sind wir anders vorgegangen. Ich erzählte ihm von der Grundidee und bat ihn, im Vorfeld die musikalische Partitur zu erstellen. Jetzt lasse ich mich bei der Choreografie davon inspirieren.

 

SH          Deine Gruppenformationen zeichnen sich durch eine große Vielfalt aus. Wie hast du diesen Ablauf aufgebaut?

EH          Ich gehe von einer relativ einfachen räumlichen Grundform aus, die sich jedoch ständig bewegt und die ich neu aufbauen oder dekonstruieren kann. In meinen Choreographien kommt dieses Element recht häufig vor.

 

SH          Für dieses Projekt hast du ein Ensemble, das hauptsächlich aus klassisch ausgebildeten Tänzerinnen besteht. Inwiefern hat dies die Konzeption von Skinny Hearts beeinflusst?

EH          Bevor ich nach München kam, habe ich mir Videos der Compagnie angesehen und dachte mir, dass ich eine Bewegungssprache entwickeln möchte, die sowohl das hohe Niveau im klassischen Bereich integriert als auch etwas Fremdes mitbringt. Mit den acht Tänzerinnen habe ich meeting points gefunden, wo sich ihre klassische Technik mit meiner choreographischen Sprache gut verbinden ließ.

 

SH          Mir ist in der Probe aufgefallen, dass du mehrmals den Begriff „Artikulation“ benutzt hast, um eine bestimmte Bewegungsqualität zu beschreiben. Was genau verstehst du darunter?

EH          Eine artikulierte Bewegung ist meiner Meinung nach eine Bewegung, die sehr lebendig ist. Sie zeigt, wie dein Körper zu sprechen beginnt, wie er sich zu einem Raum hin öffnet. Sie ist mit einer Sensibilität verbunden, mit der Art und Weise, wie du zu einem bestimmten Zeitpunkt der Aufführung Emotionen vermitteln und eine Erfahrung mit dem Publikum teilen kannst. 

 

SH          Ich würde gerne auf die Atmosphäre des Stücks zurückkommen, die von etwas Kaltem und Winterlichem geprägt ist. Hast du diesbezüglich bestimmte Bilder oder Vorstellungen, die dir durch den Kopf gehen?

EH          Wenn du beispielsweise an Weihnachten rausgehst und alle schon schlafen, liegt dort vielleicht frisch gefallener Schnee, wo noch niemand eine Spur hinterlassen hat. Diese Art von Atmosphäre stelle ich mir vor, wenn ich an Skinny Hearts denke. Ich werde den Lichtdesigner Christian Kass um spezielle Stimmungen für die Beleuchtung bitten, die vielleicht an so etwas wie kalte Vollmondnächte erinnern werden, wenn das Mondlicht vom Schnee reflektiert wird und die Gegenstände Schatten werfen.´

 

SH          In der Probe, die ich gerade gesehen habe, hat es sich angefühlt, als würde sich das Ensemble durch Tiefschnee bewegen …

EH          Ja, wir haben uns soeben mit einer ganz bestimmten Qualität des Gehens beschäftigt. Vielleicht wird das Publikum nicht an Schnee denken, wenn es das Ensemble auf der Bühne sieht, aber für uns ist die Vorstellung von Schnee ein wichtiger Ausgangspunkt. Was die Körperhaltung betrifft, habe ich den Tänzerinnen gesagt, dass es sich um ein Gefühl handelt, wie wenn man morgens frierend aus der Dusche kommt und sich eine Spannung aufbaut, weil man ungeschützt der Kälte ausgesetzt ist ...

 

SH          Das klingt nach einer ziemlich feindseligen Umgebung ...

EH          Ja, die Kälte führt dazu, dass die ganze Aufmerksamkeit auf den Körper gerichtet ist. Gleichzeitig hat man keine andere Wahl, als weiterzumachen.

 

SH          Weißt du bereits, wie du das Stück enden lassen wirst? Werden die Figuren in einem Zustand der Melancholie, der Depression oder der Ekstase angekommen sein? Oder werden sie vielleicht sogar mit ihrem eigenen Ende konfrontiert?

EH          Zum jetzigen Zeitpunkt gehe ich davon aus, dass das Stück in einer Ruhe enden wird, mit weniger Personen auf der Bühne als am Anfang. Ich bin gespannt, wohin uns der kreative Prozess bis zur Premiere führen wird und was der Intention des Stücks am besten dient.

 

SH          Ein solcher Ablauf, der sich in Richtung Stille bewegt, steht im Gegensatz zu einer Dramaturgie, die sich an Formen der Steigerung orientiert ...

EH          In einer choreographischen Partitur werden immer sehr unterschiedliche Elemente zusammengeführt. In Skinny Hearts mögen die ersten zehn Minuten sehr unterschiedlich vom zweiten Teil des Stücks erscheinen. Dennoch sind die Teile miteinander verbunden, da sich der eine aus dem anderen entwickelt. Wir wissen immer, auf welchem Teil des Weges wir uns gerade befinden. Es ist möglich, dass diese Struktur auch mit meinem eigenen Werdegang zusammenhängt. Ich habe die Dinge oft mit viel Energie vorangetrieben, um künstlerisch neue Türen zu öffnen. Aber um sich konsolidieren zu können, muss man immer einen Schritt zurücktreten und sich Zeit für ein Innehalten nehmen. Diese Momente stellen für mich eine Ressource dar, die ich für meine Arbeit als zunehmend wichtig erachte.

 

SH          In deiner Arbeit als Tänzer und Choreograph lotest du gerne Grenzen aus. Was interessiert dich an den Extremen?

EH          Unter "Extremen" verstehe ich eine Bewegungsqualität, die etwas sehr Selbstbewusstes an sich hat, die weiß, wohin sie geht und warum sie ausgeführt wird. Das gilt nicht nur für sehr schnelle Sequenzen, sondern auch für sehr langsame Abschnitte, bei denen man in der Umsetzung besonders präzise sein muss.

 

SH          In diesem Zusammenhang stelle ich es mir anspruchsvoll vor, eine Gruppe von Tänzerinnen, mit denen man noch nie gearbeitet hat, an solche Grenzen zu bringen ...

EH          Das hängt von der jeweiligen Compagnie ab, denn jedes Ensemble hat seine Eigenheiten. Das ist immer ein spannender Faktor für mich, wenn ich zum Choreographieren an einen anderen Ort komme und nicht mit meiner eigenen Compagnie arbeite. Hier in München war ich erstaunt, dass wir an einem Tag an choreographisches Material entwickelt hatten und am nächsten Tag sofort darauf aufbauen konnten. Wir konnten auf diese Weise immer einen Schritt weitergehen und in der Wiederholung von Sequenzen nach der Präzision suchen, die so wichtig ist, damit das Publikum in der Aufführung das künstlerische Ziel der Choreographie erfassen kann.

 

SH          Welche nächsten Projekte stehen bei dir an?

EH          Ich werde bald eine neue Kreation mit meiner eigenen Compagnie beginnen, bei der ich selbst auch auf der Bühne stehen werde. Es ist das erste Mal seit 2018, dass ich als Tänzer in einer Produktion von mir mitwirken werde. Ich freue mich sehr darauf. Darüber hinaus werde ich weiterhin für andere Ensembles choreographieren. Dadurch kann ich mich immer wieder neu erfinden, da neue Fragen auftauchen und man ein gemeinsames Verständnis finden muss.