ÉMILIE LALANDE IM INTERVIEW
Kolophonium, Schweiß und getrocknete Blütenblätter
Émilie Lalande und Jean-Charles Jousni, ihr choreographischer Mitarbeiter, berichten im Gespräch, wie aus Gedichtzeilen das Parfüm des Choreographischen hervorgeht.
EL Émilie Lalande
JJ Jean-Charles Jousni
SH Serge Honegger
SH Émilie, wie ist deine Karriere als Künstlerin mit Angelin Preljocaj verbunden?
EL Er war es, der mich dazu gebracht hatte, das Zeitgenössische im Tanz zu entdecken. Bis ich 18 Jahre alt war, hatte ich nur klassisch getanzt, aber dann entdeckte ich Angelins choreographische Sprache. Sie hat etwas Animalisches, Natürliches und Aufrichtiges. Das sprach mich unmittelbar an. Zehn Jahre war ich Tänzerin in seiner Compagnie, eine Zeit, die mich sehr beeinflusst hat, und die mich wie ein Parfüm umgibt. „Ce léger parfum est mon âme” (Dieser leichte Duft ist meine Seele, Anm. d. Red.), heißt es im Gedicht Le spectre de la rose von Théophile Gautier, ein schönes Bild für all die Erfahrungen, die einen prägen. Auch die choreographische Sprache von Angelin stellt für mich ein solches Parfüm dar.
SH Du hast nach deiner Zeit als Tänzerin in der Compagnie von Angelin Preljocaj einen eigenen Weg als Choreographin eingeschlagen. Womit beschäftigst du dich gerade?
EL Ich bin auf der Suche, wie das Zeitgenössische für den klassischen Tanz nützlich werden kann. Es gibt viel Leichtigkeit im klassischen Ballett, aber mich interessiert ebenso der Bezug zum Boden und die Energie, die man als Tänzer daraus gewinnen kann.
JJ Wenn das Klassische danach strebt, die perfekte Form zu zeichnen, dann findet man im Zeitgenössischen eher das Bestreben, einer inneren Bewegung zu folgen. Für mich sucht Emilie nach den Verbindungen zwischen diesen beiden Perspektiven. Sie wechselt zwischen dem Klassischen und dem Zeitgenössischen. Es wirkt auf mich, als schriebe sie in ihrer Arbeit neue Zeilen zu einem bereits bestehenden Text.
SH Wie würdet ihr diesen neuen „Text“ beschreiben, der im Verlauf der Proben entstanden ist und den ihr zusammen entwickelt habt?
JJ Wir sprechen im Stück ganz allgemein über Beziehungen, insbesondere über Liebesbeziehungen und ihre Kehrseiten. Zudem spielen wir mit unterschiedlichen Zeiten: Zum Beispiel gehört der eine Tänzer von der Kleidung her ganz der Gegenwart an, besitzt aber eine Körpersprache, die eher aus der Vergangenheit stammt. Und der andere, der aus einer früheren Zeit kommt, verfügt über ein Bewegungsvokabular, das ganz zeitgenössisch daherkommt. Solche Paradoxien kommen in der Choreographie immer wieder vor und schaffen einen interpretatorischen Spielraum.
SH Auf der Bühne sind zwei Paare zu sehen. Könnt ihr etwas zu dieser Konstellation sagen?
EL Die beiden Paare repräsentieren auf gewisse Weise zwei verschiedene Lesarten einer einzigen Situation. Vom Tänzerischen her wird man erkennen, dass das eine Paar eine etwas klassischere Note hat, während das andere zeitgenössischer unterwegs ist. Daraus ergibt sich ein Spiel, eine Spannung sowie unterschiedliche Spiegelungen.
JJ Das Resultat hängt ganz entscheidend auch von den Tänzerinnen und Tänzern ab, mit denen wir arbeiten. Die Begegnungen während der Probenarbeit hier im Studio ermöglichen uns, etwas Neues auszuprobieren, von der klassischen Technik auszugehen und die Bewegungen zu transformieren und zu modulieren.
SH Le spectre de la rose hat 1911 Ballettgeschichte geschrieben. Bezieht sich eure Version auf Michail Fokines Originalchoreographie für Nijinsky und Tamara Karsawina?
JJ Es gibt vielleicht gewisse Referenzen an das Original, aber im Vordergrund steht für uns die Rose, ihre Symbolik und ihr Geruch, ein Geruch, der Erinnerungen zu wecken und Assoziationen zu anderen Ideen auszulösen vermag.
EL Den Geist der Rose stellen wir uns als eine Art kollektives Gedächtnis vor, von dem die beiden Paare beeinflusst sind. Zugleich schafft sich jedes Paar seine eigenen Erinnerungen, seine eigene Geschichte mit all ihren magischen, dramatischen, traurigen und schönen Momenten. Davon sind die Wege beeinflusst, denen die Tänzerinnen und Tänzer im Stück folgen.
SH Émilie, mir fällt in deiner Arbeit ein starkes Interesse am Erzählerischen auf. Wie setzt du dieses Mittel ein?
EL Die endgültige Form der Erzählung entwickelt sich im Verlauf der Proben mit den Tänzerinnen und Tänzern. Mich interessiert es nicht, einfach nur eine Folge von inspirierenden Bildern zu gestalten, die dann in einen Körperzustand übersetzt werden. Es wird eine Geschichte zu erkennen sein, ich strebe aber eine offene Form an.
JJ Vielleicht kann man das, was man auf der Bühne sieht, als choreographisches Gedicht verstehen, ein Gedicht, zu dem sich das Publikum seine eigenen Gedanken machen wird.
EL Ich bin neugierig, was die Menschen im Publikum in die Choreographie hineinlesen werden. Einige werden die Geschichte einer Paarbeziehung erkennen, andere werden eine Liebeserzählung sehen oder vielleicht auch eine gewalttätige Seite wahrnehmen ...
SH Ein Gedicht war es ja auch, welches der Version von Michail Fokine zugrunde lag. Auf welche Weise hat dieser Text für euch eine Rolle bei der Konzeption gespielt?
EL Er stellte auf alle Fälle ein Ausgangspunkt für unsere Überlegungen dar. Aber nicht nur das. Er taucht auch in der finalen Version in gewissen Momenten als tänzerische Umsetzung in der Choreographie auf. Wir verstehen das Gedicht aber nicht als eine Art Handlungsgerüst. Es gibt Sequenzen im Stück, die sich direkt auf den Text beziehen, andere entfernen sich davon und man kann sie nicht mehr auf ein bestimmtes Wort oder einen bestimmen Satz zurückführen.
JJ Manchmal ist es nur ein poetisches Bild oder eine einzige Zeile, die uns in den Proben hilft, zu einer choreographischen Lösung zu finden und tiefer ins Thema einzutauchen. Es geht immer darum, eine Übersetzung für einen Körperzustand zu finden.
EL Es fühlt sich ein bisschen wie ein Labor an, in dem viele Experimente durchgeführt werden müssen, bis sich ein Resultat abzeichnet.
SH Émilie, du hast ganz zu Beginn des Gesprächs die Metapher „Parfüm“ verwendet, als ein Bild für die Erinnerungen und Prägungen, die uns wie ein Geist umgeben. Aus welchen Elementen setzt sich die Duftnote deiner Choreographie zusammen?
EL Dazu gehört das Kolophonium, der Geruch des Ballettstudios hier in München, aber auch der Geruch von getrockneten Blütenblättern ... wie jene Rose, von der im Gedicht berichtet wird, eine Rose, die das Mädchen abschnitt, worauf der Geist der Rose erscheint.