Eine Oper ist ein Oratorium ist eine Oper
über einen vermeintlichen Gattungszwitter Semele
Text von Silke Leopold
Fotos von Daisuke Yokota, Inversion (2015) Courtesy of the artist & Galerie Jean-Kenta Gauthier
Ein untreuer Ehemann zwischen einer ambitionierten Geliebten und einer rachsüchtigen Ehefrau; eine Intrige, die mit dem Tod der Geliebten endet; eine tragische Verstrickung, die alle Beteiligten in dieser Dreiecksgeschichte schuldig werden lässt, ein Ende, das erschüttert und dennoch hoffen lässt – das ist der Stoff, aus dem Opern sind. Um so seltsamer mutet es an, dass Georg Friedrich Händel, der zweifellos bedeutendste Musikdramatiker zwischen Claudio Monteverdi und Wolfgang Amadeus Mozart, die Geschichte von der thebanischen Königstochter Semele, die ihren Drang nach Unsterblichkeit mit dem Tode bezahlen muss, als Oratorium vertont hat – als ein Oratorium freilich, das mehr als alle anderen Oratorien Händels zur Oper tendiert, das gar auf einem Opernlibretto basiert und vielleicht einen Versuch Händels darstellt, zwischen den scheinbar gegensätzlichen Bereichen seines Schaffens zu vermitteln: zwischen der höfischen italienischen Oper und dem bürgerlichen englischen Oratorium.#
Dabei bedarf es zunächst einer Erklärung, warum Händel, als er im Sommer 1743 mit der Komposition der Semele begann, auf einen Text zurückgriff, der beinahe vierzig Jahre alt war. Zugegeben – die meisten seiner vierzig Opern basierten auf Libretti, die mindestens eine Generation zuvor zum ersten Mal vertont worden waren. Bis zum Schluss stellte Händel jene altmodischen Libretti, in denen die Bühnenaktion, die überraschenden Ereignisse, die übernatürlichen Erscheinungen für Abwechslung und Unterhaltung sorgten, über die neuen rationalistischen Libretti mit ihrer lediglich auf dem Dialog aufgebauten Dramaturgie der Intrige. Doch mit Semele hatte es eine besondere Bewandtnis. Sie stellte den vorerst letzten und – wie alle anderen zuvor – gescheiterten Versuch dar, in London eine genuin englische, zumindest aber englischsprachige Oper zu etablieren. Seit die italienische Oper um die Mitte des 17. Jahrhunderts ihren Siegeszug durch ganz Europa angetreten hatte, seit sowohl in Frankreich als auch in Deutschland in schöpferischer Auseinandersetzung mit dem italienischen Modell Opern entstanden, hatte es auch in England immer wieder Vorstöße gegeben, eine englische Oper zu schaffen. Henry Purcells „Semi-Operas“ genannte musikalische Dramen, in denen so patriotische Themen wie King Arthur und Albion and Albanius behandelt oder so genuin englisches Theater wie Shakespeares Midsummer Night’s Dream verarbeitet wurden, bildeten nicht nur den Höhepunkt dieser Bemühungen, sie förderten auch zutage, dass das englische Publikum, was das Wesensmerkmal der Oper, den gesungenen Dialog, anging, tief gespalten war. Vor allem in intellektuellen Kreisen galt die Oper als Inbegriff welschen Unsinns. „Wenn ich in die Oper gehe“ – so brachte es Lord Chesterfield später auf den Punkt, „lasse ich meinen Verstand zu Hause“. Die Semi-Operas hatten auch deshalb so großen Erfolg, weil sie auf das Rezitativ, auf den gesungenen Dialog verzichteten und Musik nur dort zuließen, wo sie auch im richtigen Leben hingehörte – in den Festen wie den großen Divertissements, mit denen Titania ihre Gefolgschaft unterhält, oder in Zusammenhang mit übernatürlichen Erscheinungen wie in der berühmten Szene des Frostgeistes. Henry Purcells einzige Oper Dido and Aeneas, die diesen Namen in vollem Umfang verdient, stand als Privataufführung nicht im Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik. Mit Purcells Tod 1695 erlahmte zunächst auch das gerade gewachsene Interesse an musikalischem Theater wieder; mehr als ein Jahrzehnt sollte es dauern, bis der neuerliche Versuch, eine englische Oper zu schaffen, unternommen wurde.
Diesmal war es der Komponist John Eccles, der gemeinsam mit dem erfolgreichen Komödiendichter William Congreve eine englische Oper plante, die sich diesmal ganz an den kontinentalen Modellen orientieren sollte. Statt eines „britischen“ Themas wählte Congreve die in Ovids Metamorphosen behandelte Geschichte der Semele und stellte sie nach den gängigen Erzählstrukturen seiner Zeit als einen bunten Bilderbogen mit tragischen und komischen Ereignissen dar, erhaben und lächerlich in abruptem Wechsel, mit viel Raum für Bühnenzauber und Maschinenwerk. Das Thema war dafür gut gewählt – hat es doch alles, was ein Libretto benötigte. Eine schöne Protagonistin wie Semele, die der Versuchung erliegt, ihre Liebe für ihren Ehrgeiz zu instrumentalisieren, und dafür den Tod durch den Gott erleiden muss, der nichts anderes als ihre Liebe wollte; einen Liebhaber wie Jupiter, zärtlich und fordernd, dessen erotische Ungeduld über die Vernunft des Weltenlenkers siegt; eine dunkle Ränkeschmiedin wie Jupiters Gemahlin Juno, die Semeles unschuldige Eitelkeit in todbringende Bahnen lenkt; eine komische Figur wie Somnus, der Gott des Schlafes, den Juno nur mit Mühe aus seiner Lethargie reißen und auf ihre Intrige einschwören kann; darüber hinaus zahlreiche Gelegenheiten, die Schaulust des Publikums zu befriedigen: Etwa zu Beginn, wenn Juno das Feuer auf dem ihr geweihten Altar zweimal löscht, wenn Jupiter Semele durch die Lüfte entführt, oder am Schluss, wenn eine dunkle Wolke Semele einhüllt, in der sie zu Asche verbrennt. Und wie die meisten Geschichten aus Ovids Metamorphosen hat auch die von Semele ein versöhnliches Ende; denn noch im Sterben gab Semele ihrem Sohn Dionysos das Leben, der aus der Asche geborgen wurde – ein Gott, dem bestimmt war, die Menschen vor Sorgen zu bewahren und ihnen Glück zu schenken.
Semele hätte 1707 in Szene gesetzt werden sollen, und es ist nicht bekannt, warum diese Aufführung schließlich abgeblasen wurde. Eccles’ Partitur verschwand in den Archiven, und Congreve veröffentlichte sein Libretto 1710 in einer Gesamtausgabe seiner Werke. Ein Jahr später gab Händel mit seiner Oper Rinaldo sein Londoner Debüt, und der Erfolg dieses Werkes machte alle zaghaft sprießenden Bemühungen um eine englische Oper mit einem Schlag zunichte. Drei Jahrzehnte lang sollte Händel mit seinen italienischen Opern das Londoner Theaterleben dominieren: finanzielle Schwierigkeiten, Angriffe von Seiten der „englischen“ Partei, Konkurrenzunternehmen, Querelen mit dem Ensemble – nichts konnte letztlich den Siegeszug der Opera seria verhindern. Erst als der Opernbesuch bei der tonangebenden Londoner Gesellschaft aus der Mode kam, als die Opernkompanien vor leeren Häusern spielten, wandte er sich nach dem Misserfolg seiner Oper Deidamia im Jahre 1741 anderen Aufgaben zu.