Den Musikern einen Raum geben
Ein Gespräch mit Thomas Larcher und Friederike Gösweiner
TL Thomas Larcher
FG Friederike Gösweiner
AB Ariane Bliss
Foto: enkuu smile
Ein Gespräch mit Thomas Larcher und Friederike Gösweiner
TL Thomas Larcher
FG Friederike Gösweiner
AB Ariane Bliss
Foto: enkuu smile
AB Das Jagdgewehr ist 2018 uraufgeführt worden. Also ist es jetzt, Anfang 2025, vermutlich ungefähr zehn Jahre her, dass Sie zum ersten Mal über das Projekt nachgedacht haben. Wie kam es zu dieser Oper?
TL Zuerst war da eine Anregung: Elisabeth Sobotka, die damalige Intendantin der Bregenzer Festspiele, wollte gerne, dass ich eine Oper für sie schreibe.
FG Dann hat es bei der Suche nach einem Stoff mehrere Anläufe gegeben.
TL Friederike Gösweiner erinnerte sich schließlich, dass sie vor vielen Jahren die Novelle eines japanischen Autors, Das Jagdgewehr von Yasushi Inoue, gelesen hatte. Neben der thematischen Konstellation war ihr vor allem der formale Aufbau im Gedächtnis geblieben.
FG Das Libretto ist die erste Schicht, die fertig sein muss; der Auftraggeber will anhand des Textes wissen: Was wird es? Mich hat die Novelle von Inoue sofort sehr angesprochen, einerseits wegen ihrer Form, andererseits wegen ihres zeitlosen Inhalts. Es ist ziemlich schwer, eine Vorlage zu finden, die für eine Oper tauglich ist: Viele Stoffe fallen durch, weil sie in ihrer Komplexität nicht umsetzbar wären; wir wollten keinen Stoff zu sehr simplifizieren. Eine Novelle ist formal etwas Geschlossenes, Konzentriertes, das leichter zu einem Operntext umzuarbeiten ist als zum Beispiel ein wortreiches Drama. So konnte es auch gelingen, dass am Ende nichts von mir erfunden oder hinzugefügt worden ist, sondern jedes Wort aus der deutschen Übersetzung des Originals stammt.
AB Es war also ein fertiges Libretto vorhanden, als Thomas Larcher anfing zu komponieren.
FG Er hat im Zuge der Arbeit noch sehr viel gestrichen, es wurde immer noch kürzer. Aber die Konfliktlinien und Verbindungen zwischen den Figuren sind erhalten geblieben, auch die Rahmenstruktur und die Ebene über Sprache mit dem Gedicht am Anfang, dem Tagebuch und den Briefen. Das Jagdgewehr ist für mich vor allem auch ein Text über Kommunikation. Wir haben auch nichts an der zeitlichen Verortung verändert. Natürlich kann man sich fragen: Was ist japanisch an dem Stoff, was ist typisch für die 1930er- und 1940er-Jahre, in denen die Handlung spielt, und sind die Probleme der Figuren deshalb veraltet? Für mich ist der Stoff nicht veraltet, er hat etwas Zeitloses.
AB Hat das Japanische für Sie eine Rolle gespielt?
TL Der Stoff ist ein menschlich allgemeingültiger, insofern hat das Japanische für mich eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Mir ging es um die Herausforderung, aus diesen vielen kleinen textlichen Elementen etwas musikalisch Größeres zu formen, Linien und Verläufe plastisch werden zu lassen. Das führte mich zum Ursprung meines Komponierens für Stimme zurück, als ich beim Stück My Illness is the Medicine I Need 2002 wochenlang aus einer Zeitschrift Zitate aus Interviews mit Nervenkranken herausgeschnitten, sortiert, umgeschichtet habe, bis ich ganz kleine Fragmente vor mir liegen hatte, die ich dann in eine musikalisch sinnhafte Form bringen konnte. Mit dieser Oper hat sich hier für mich gewissermaßen ein Kreis geschlossen.
FG Es ist wahrscheinlich eine gewisse Strenge in den japanischen Texten, die mich angezogen hat – wir hatten zu diesem Zeitpunkt bereits über verschiedene japanische Stoffe nachgedacht. Und die Bilder, die in der Novelle vorkommen, würden in einem französischen oder italienischen Text so nicht auftauchen, jede Sprache hat ihre eigene Metaphorik. Wenn es in einem Operntext um Empfindungen gehen soll, also um die Seele, dann ist eine nicht zu überladene, aber zugleich bilderreiche Sprache wichtig.
AB Sie haben viele Werke geschrieben, in denen die Natur eine zentrale Rolle spielt: The Living Mountain oder Ihre dritte Symphonie A Line above the Sky, die ihren Namen einer Kletterroute in den Dolomiten verdankt. Was interessiert diesen naturverbundenen Komponisten an diesem städtischen Stoff, der in den schicken Vororten von Kobe angesiedelt ist?
TL Für mich ist das überhaupt kein städtischer Stoff! Die Bilder aus der Natur spielen eine viel größere Rolle und führen uns jeweils seelische Zustände vor Augen: das weiße Flussbett als Sinnbild für den Jäger in der Einsamkeit oder das brennende Boot im Meer. Es ist die Fortschreibung einer uralten musikalischen Tradition, wenn man mit „Naturlauten“ operiert. Es geht dabei aber nie um Imitation von Naturgeräuschen an sich, sondern um das Evozieren von Assoziationen bei den Zuhörern. Und der Begriff „Natur“ wurde auch immer schon viel weiter gefasst: Zum Beispiel waren Geräusche im Sinn einer akustischen „Street Photography“ (Posthorn, Hufgeklapper, militärische Signale, Sirenen etc.) immer schon Teil des musikalischen Vokabulars der jeweiligen Zeit.
FG Die vielen Klangfarben in Thomas Larchers Werken, die an die Natur und unsere Alltagsumgebung erinnern, kann jeder, der sich schon einmal in den entsprechenden Surroundings bewegt hat, dechiffrieren, es ist keine komplizierte Symbolik. Bei den Zuhörern werden dadurch Erinnerungen geweckt, Anknüpfungspunkte geschaffen; eine Vertrautheit zwischen Komponisten, Interpreten und Zuhörern entsteht.
AB Sie haben viele Formen von Vokalmusik komponiert. Was „muss“ man als Komponist einer Oper anders machen, als wenn man ein Vokalwerk für den Konzertsaal schreibt?
TL Ich glaube, dass das Verhältnis zwischen solistischen Stimmen, Texten und der Instrumentalmusik sehr oft nicht stimmt. In der Oper wird der Lautstärkelevel oft immer weiter nach oben gedreht. Die Stimmen, die Intonation und die musikalische Differenziertheit leiden. Das ist eine toxische Entwicklung, die auch nicht durch elektronische Verstärkung gelöst werden kann. Eine Möglichkeit für die Zukunft könnte sein, auf ein Instrumentarium des Frühbarocks zurückzugreifen …
Musikalisch interessiert mich bei der Oper das Kontrapunktische, das Zusammenweben von mehreren Stimmen mit den Instrumenten, wie zum Beispiel in der Szene, nachdem Saiko gestorben ist, quasi bei ihrer Grablegung, zu der ich eine polyphone Verknüpfung zwischen Solisten, Chor und Instrumental- Ensemble geschrieben habe.
FG Ich glaube, der Komponist muss gar nicht so viel anders machen, wenn er Musiktheater schreibt. Ein Librettist muss vieles anders machen als etwa ein Autor von Theaterstücken: Er darf sich nicht als Schöpfer eines selbstständigen Werkes begreifen. Er muss die noch gar nicht existierende Musik und den jeweiligen Raum mitdenken, ihnen vertrauen.
AB Sie gehen bei einigen Partien sehr in die Extreme der stimmlichen Möglichkeiten: in die höchsten Höhen des Soprans bei Shoko, in ein sehr tiefes Altregister bei Saiko, und man hat den Eindruck: auch sehr bewusst?
TL Das klassische Singen darf nicht verharren in alten Mustern, um den Sängern entgegenzukommen, sondern es muss gemeinsam ein Weg gefunden werden, der neue Ausdrucksmöglichkeiten evoziert. Vor allem das Flüstern und die leisen Passagen waren mir wichtig. Aber wenn das in meiner Oper gelungen ist, dann aus den Anregungen und Situationen des Librettos heraus und nicht, weil ich etwas Neues suchen wollte. Wenn man um jeden Preis etwas Neues finden will, dann ist das die beste Voraussetzung dafür, dass man überhaupt nichts findet.
AB Könnte man sich die Verteilung der Stimmlagen auch anders vorstellen, sagt die Stimmlage etwas über die Figuren aus?
TL Shoko ist die jüngste der Frauen. Sie hat dieses Kindliche, durch die enorme Höhe aber auch eine große Kraft. Ihre Mutter Saiko ist älter, also singt sie tiefer. Das entspringt natürlich auch den natürlichen Entwicklungen einer Stimme während eines Lebens. Dass Josuke ein sehr leichter und beweglicher Bariton ist, hat viel mit der Person von Andrè Schuen zu tun, der die Partie in der Uraufführung gesungen hat.
AB In einem Punkt bedienen Sie die Operntradition – und dann auch wieder nicht: Es gibt einen Chor, aber niemals ist er „Volk“ oder „Masse“. Trotzdem war es offensichtlich wichtig, einen Chor dabei zu haben?
TL An keiner Stelle initiiert der Chor die Handlung. Er ist eine Verlängerung des Instrumental-Ensembles, ein Bindeglied zwischen Instrumenten und Solisten, er bringt weitere Farben hinein. Dieses Verbindende und Webende war mir wichtig. Aber die „glückliche Grundidee“, einen Chor zu verwenden, kam aus der Frage: Wer soll das Gedicht zu Beginn singen? Ich war später froh, beim Komponieren immer wieder auf den Chor zurückgreifen zu können. In gewisser Weise war es also auch hier wieder der Text, der die Richtung vorgab.
FG Für mich ist der Chor eine Art Echo, eine Verstärkung der Einzelempfindungen. So wie das Gedicht immer nachhallt und den Grundstein legt für die ganze Erzählung, so tritt der Chor am Anfang prominent auf und kommt dann in dieser verstärkenden Funktion immer wieder dazu.
AB Das Jagdgewehr fängt mit den reibenden Klängen des Schlagwerks an. Die Anzahl und Form der Instrumente, die die Schlagzeuger zu spielen haben, ist enorm, von Marimba und Cymbalom bis zu Alltagsgegenständen wie Rührschüsseln und Spiralfedern. Das ist eine Klangpalette, die offenbar sehr wichtig für Ihre Musik ist.
TL In der sogenannten Neuen Musik wird viel mit „erweiterten Spieltechniken“, oft könnte man auch sagen: mit Effekten gearbeitet. Mein Bestreben ist dagegen immer, dass ich den Musikern einen Raum geben möchte, Musik zu machen. Das geht weit über das Erzeugen von Klängen hinaus: Es geht darum, dass die Musiker auf dem aufbauen wollen, was sie gelernt haben und was das Ausdrucksspektrum ihres Instruments hergibt. Neue Kombinationen dieser tradierten Spielweisen und Klänge sind das eine, was mich sehr interessiert. Auf der anderen Seite gibt es das weite Feld der „Geräusche“, die im Alltag und in der Natur existieren. Das könnte man herstellen durch die erwähnten erweiterten Spieltechniken, zum Beispiel, indem eine Flöte viel mit Überblasen, mit Slaps, mit Multiphonics und ähnlichem spielt. Helmut Lachenmann zum Beispiel hat die Palette an Farben und Klangerzeugungsmöglichkeiten im Sinne dieser musique concrète instrumentale sehr erweitert. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass sich die Musiker oft unwohl fühlen damit, weil sie nicht in diese Richtung ausgebildet sind. Ich gehe deshalb einen anderen Weg – ich verlagere viele Klänge, die ich mir vorstelle, ins Schlagwerk und zu Instrumenten, die zum jeweiligen Ensemble dazugeholt werden (Akkordeon, Cymbalom, Klavier). Es handelt sich also eher um „direkte musique concrète“. Es werden ja auch Steine, Flaschen, Metallteile u. ä. verwendet.
AB Wir fügen Ihrer Oper im Sinne unseres Festivals Ja, Mai als „Festival für frühes und zeitgenössisches Musiktheater“ Musik von Claudio Monteverdi bei, Musik aus der Zeit, als sich die Klangwelt dessen, was wir „klassische Musik“ nennen, eben erst etablierte. Sie selber bauen Ihre Musik aus sehr einfachen Grundelementen auf: hier ein prägnanter Rhythmus, da eine Tonleiter, dann ein Dreiklang und eine Dissonanz. Ich habe den Eindruck, dass sich das sehr eng aneinander anschließt: die Musik von Thomas Larcher und die Musik von Claudio Monteverdi.
TL Die Zeiten verbinden und vermischen sich durch die technologischen Möglichkeiten unserer Zeit. Durch die Reproduzierbarkeit von Musik auf elektrischem oder mechanischem Weg ist heute so viel verfügbar, dass man die Vektoren überallhin ziehen kann. Die Grenzen zwischen alt und neu verschwimmen gewissermaßen: Für jeden, der eine bestimmte Musik zum ersten Mal hört, ist sie ohnehin neu, und für jeden, der sie zum zweiten Mal hört, ist sie ohnehin alt, gleichgültig, aus welcher Epoche sie stammt. Jeder hört ein anderes Stück, sowohl bei Monteverdi als auch bei meiner Musik, aufgrund seiner eigenen Hörerfahrungen, seiner musikalischen Prägung oder dem Raum, den er Musik in seinem Leben gibt oder nicht gibt.
Ich plädiere nicht dafür, sich als Komponist Elemente zu suchen und sich ihrer zu bedienen wie in einem klanglichen Baumarkt. Ich denke eher an Arvo Pärt oder Steve Reich, die sich intensiv mit der Musik des Mittelalters beschäftigt haben, oder an Edgar Varèse, der Alltagsgeräusche des 20. Jahrhunderts für bestimmte signifikante Situationen benutzte: Hupen und Feuerwehrsirenen. Es gibt dieses berühmte Gespräch zwischen Albert Einstein und Niels Bohr, ob denn der Mond überhaupt am Himmel ist, wenn man nicht hinschaut. So ist es mit der Musik auch: Die Musik ist eigentlich nicht vorhanden. Die Musiker kratzen nur auf Saiten herum und produzieren Wellen in der Luft. Aber das ist noch keine Musik. Dann treffen die Wellen aufs Ohr und werden prozessiert, dann ist es Strom. Wo ist aber bei alldem die Musik? Sie entsteht bei der Verarbeitung dieser Ströme im jeweiligen Zuhörergehirn. Aber warum wandert dieser Strom dann dorthin, wo der Herzschlag irritiert wird und der Fluss der Tränen entsteht? Das ist es, was mich interessiert. Und ist dann das feuchte Taschentuch quasi das Negativ einer Partitur, das andere Ende von Beethovens Neunter?
AB Sieben Jahre nach der Bregenzer Uraufführung und viele auch groß besetzte Werke von Thomas Larcher später: Was müsste im Jahr 2025 ein Stoff haben, der Sie zu einer zweiten Oper inspiriert?
TL Der Stoff wäre 2025 der gleiche wie ein Stoff, der schon im Jahr 500 vor Christus interessiert hat! Die Zeiten fliegen vorbei, aber die Menschen ändern sich (leider) nicht ... Ich übrigens auch nicht. Ich kann mir vorstellen, etwas ganz Kleines zu machen: Ich habe vor Jahren ein Stück auf ein Gedicht von einem amerikanischen Jazzmusiker für Klarinette und Tenor geschrieben, Lyrical Lights. Das ist ein Mini-Beziehungsdrama und eigentlich eine perfekte Oper. Sie dauert nur sieben Minuten.
Musikalisch würde ich wie gesagt neu über das Verhältnis der Stimme zum Instrumental-Apparat oder über meinen Umgang mit dem Text nachdenken. Aktuell stelle ich mir die Frage, ob sich nicht jenseits der klassischen Stimme neue Herangehensweisen eröffnen, wie es zum Beispiel Kaija Saariaho gemacht hat, die in ihrer letzten Oper Innocence eine Partie mit einer Folk-Sängerin besetzt hat.
Thomas Larcher studierte Klavier und Komposition an der Musikhochschule Wien. Für Gesang schrieb er u. a. My Illness Is the Medicine I Need für Sopran und Klaviertrio, The Living Mountain für Sopran und Instrumentalensemble sowie Love and the Fever für Chor und Orchester. Sein OEuvre für Instrumentalmusik umfasst neben fünf Streichquartetten u. a. zwei Klavierkonzerte, ein Violin-, ein Viola- und zwei Cello-Konzerte sowie drei Symphonien. 1994 gründete er das Festival Klangspuren Schwaz, das sich zu einem zentralen Festival für neue Musik entwickelte. Von 2004 bis 2022 leitete er die Kammermusikreihe Musik im Riesen in Wattens, 2023 gründete er als dessen Nachfolgeprojekt das Kammermusikfestival listening closely. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, etwa mit dem Großen Österreichischen Staatspreis oder dem Prix de Composition Musicale der Fondation Prince Pierre de Monaco. Er ist Mitglied des Österreichischen Kunstsenats und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
Friederike Gösweiner ist freischaffende Schriftstellerin, Redakteurin, Lektorin und Literatur-Kritikerin, u. a. für Die Presse und die Zeitschrift Literatur und Kritik. 2016 erschien ihr erster Roman Traurige Freiheit, für den sie den Österreichischen Buchpreis für das beste Debüt erhielt, 2022 ihr zweiter Roman Regenbogenweiß. Sowohl ihre wissenschaftliche als auch ihre literarische Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Ehrenring der Republik Österreich.