Sie sind alle sehr gut im Aushalten
Ein Gespräch mit Ulrike Schwab und Jule Saworski
US Ulrike Schwab
JS Jule Saworski
AB Ariane Bliss
Foto: Joshua Wilson
Ein Gespräch mit Ulrike Schwab und Jule Saworski
US Ulrike Schwab
JS Jule Saworski
AB Ariane Bliss
Foto: Joshua Wilson
AB In drei Stichworten: Was sind die zentralen Themen in Das Jagdgewehr?
US Für mich geht es um Einsamkeit, vor allem um die Einsamkeit innerhalb einer Familie. Und um die verpassten Möglichkeiten, die in ihrer Nicht-Kommunikation liegen: Welche Konsequenzen hat das für das System Familie? In drei Stichworten also: „Familie“, „Einsamkeit“ und „verpasste Möglichkeiten“.
JS Meine Schlagworte wären „tonlos“, „Nicht-Raum“ und „entfärbt“: In der Novelle stehen die drei Briefe nebeneinander: ohne ver-bindende Worte, wortlos, tonlos. Obwohl wir uns in einer Fami-lie und damit in einem Mikrokosmos von Gesellschaft befinden, erzählt jede der Frauen ihre eigene Geschichte, und keine weiß, dass die anderen auch Briefe schreiben. Sie sind wie in Paralleluniversen, da ist kein gemeinsamer Raum vorhanden, also ein „Nicht-Raum“. „Entfärbt“ ist es für mich, weil es keine eindeutige Farbe innerhalb dieser Geschichte gibt, die Figuren sind wie im Nebel. Der Spiegelraum, den wir bespielen, ist der Versuch, diese nicht-greifbaren Worte zu versinnlichen.
AB Der Oper von Thomas Larcher liegt eine Novelle von Yasushi Inoue zugrunde: Sind die Novelle und die Oper für Sie inhaltlich deckungsgleich? Reden wir von der gleichen Geschichte, den gleichen Figuren?
JS Ich empfinde unsere Theaterarbeit fast als Pendant zu der Erzählweise der Novelle in drei Blickwinkeln, die erst zusammen zu einem Ganzen werden: Die Oper ist die Übersetzung der Novelle durch Thomas Larcher ins Musikalische, in den Klang. Dazu kommt eine Übersetzung von Ulrike Schwab ins Szenische und von mir ins Räumliche. Als Bühnenbildnerin beobachte ich fasziniert, wie jemand, der als Komponist die Welt vor allem akustisch wahrnimmt, die Novelle für sich überträgt.
US Die Interpretation von Thomas Larcher macht natürlich etwas mit den Figuren der Vorlage, er charakterisiert sie auf seine Weise. Man selber hat eine Figur in der Novelle vielleicht ganz anders wahrgenommen. Die Spannung zwischen diesen zwei Polen lässt sich in szenische Kraft umsetzen, weil wir uns ansehen können: Was hat er schon erzählt, und was wollen wir noch erzählen, was er nicht in die Vertonung übernommen hat?
AB Novelle und Oper spielen sehr konkret in bestimmten Jahren an bestimmten Orten in Japan und haben trotzdem etwas sehr Allgemeingültiges. Inwiefern ist der japanische Hintergrund des Stoffes wichtig für Sie?
US Es gibt für mich immer unterschiedliche Phasen in der Auseinandersetzung mit einem Stoff: Beim ersten Hören und Lesen hatte es für mich überhaupt keine Relevanz; ich habe den Stoff als völlig zeit- und ortlos und dadurch auch als sehr modern wahrgenommen. Dann gab es Phasen, in denen Japan als Ort der Geschichte wichtig und inspirierend für mich war, in denen ich mich mit dem Land intensiver auseinandergesetzt habe. Im Bühnen- und Kostümbild war Japan als eine der Schichten immer präsent. Man muss das nicht wissen, um die Inszenierung zu verstehen, aber wenn man möchte, kann man deine Inspirationen entschlüsseln, zum Beispiel, dass du dich mit japanischem Holzschnitt beschäftigt hast.
JS Ich würde mich aber hüten zu sagen: Weil es in Japan spielt, will ich eine Bühne machen, die spezifisch japanische Elemente aufgreift. In der Vorbereitung versuche ich, ganz viel in mich aufzusaugen, ohne dass ich dabei schon denke: Ich werde mich im Bühnenbild in jedem Fall mit japanischem Holzschnitt beschäftigen. Zu Beginn steht die Suche nach einer Atmosphäre, und dabei kann beispielsweise die Auseinandersetzung mit japanischen Filmen Anregungen geben: Das Thema Einsamkeit etwa hat dort eine spezifische Schattierung, die ich aus deutschen oder französischen Werken so nicht kenne. Trotzdem könnte die Geschichte auch an jedem anderen Ort spielen.
AB Was ist das für eine Familie, deren Idylle mit dreizehn Jahren Verspätung in sich zusammenbricht?
US Diese Familie hat kein Alleinstellungsmerkmal, sondern man erlebt an ihr beispielhaft die Unfähigkeit, miteinander zu kommunizieren, wie es leider in vielen Familien der Fall ist. Viel zu oft sind Menschen nicht in der Lage, miteinander über ihr Inneres zu sprechen; sie haben es nicht gelernt. Das Innenleben der Figuren ist bei Inoue und Larcher sehr vielfältig, aber das äußere Leben funktioniert abgeschottet davon. Hierin liegt etwas Trauriges und Berührendes zugleich. Man möchte die Figuren schütteln und sagen: Jetzt trau dich doch, aus diesem System auszubrechen und zu erzählen und nachzufragen! Die Einzige, die Fragen stellt, ist die Tochter Shoko, weil sie das Grundgefühl hat, dass in ihrer Familiengeschichte etwas Verborgenes schlummert. Aber auch sie erhält keine Antworten. Sie ist auf der Suche nach Hinweisen über ihren abwesenden Vater, stattdessen findet sie das andere Geheimnis, das ihre Mutter gehütet hat. Mich beschäftigt: Warum verhalten sich Menschen so?
AB Eigentlich dreht sich das Leben der Frauen die ganze Zeit um einen Mann, um Josuke …
US Ich finde nicht, dass das Leben der Frauen wirklich um diesen Mann kreist. Aber er ist sicherlich eine Art Stellvertreter, ein Auslöser für ihre Suche nach einem anderen Weg. Und obwohl es Josuke ist, der uns Zuschauende am Anfang in seine Geschichte holt, fühlt man sich den drei Frauen näher, weil sie sich in ihren Briefen ganz öffnen und von ihren Gedanken erzählen. Josuke bleibt unbeschrieben in seinen eigenen Emotionen.
AB Die drei Frauen haben jede ihre Funktion im Familiensystem: eine Geliebte, eine Ehefrau, eine Tochter. Geliebte und Ehefrau sind außerdem Cousinen und gute Freundinnen.
US Shoko ist das Kind und die Leidtragende bei dem, was die Erwachsenen nicht hinbekommen. Vielleicht solidarisiert oder identifiziert man sich mit ihr deshalb so? Außerdem ist sie die Einzige, die an der Fassade zu rütteln beginnt. Ich mag es sehr, dass die Oper am Ende der Geschichte anfängt: Shoko ist, wenn ihre Mutter gestorben ist und nachdem sie deren Geheimnis gelüftet hat, eine andere, als sie vorher war. Ihre Ohnmacht und die daraus resultierende Wut auf das System, das sie so lange belogen hat, sind ein sehr starker Motor.
JS Für Shoko haben die Ereignisse eine andere Tragik, weil sie selber nicht entschieden hat, ob sie etwas geheim halten möchte oder nicht; sie weiß als Einzige von nichts und hat kein Mit-spracherecht. Ihre Mutter Saiko ist so mit sich und ihrem Liebesleben beschäftigt, dass sie die Tochter überhaupt nicht als eigene Person mitdenkt. Ich bin in meinem eigenen Leben gerade selber an diesem Punkt: Ich bin Mutter von Kindern, die erwachsen werden, und merke, wie ich trotzdem oft noch die Sicht einer Tochter habe und mich mit dem auseinandersetze, was meine Eltern mir mitgegeben haben. Es fällt schwer, plötzlich die Sicht der anderen Seite einzunehmen und damit umzugehen, dass die Kinder jetzt selbständige Menschen sind, die ein Recht darauf haben, auf das zu reagieren, was ich als Mutter falsch gemacht habe. Es ist großartig, mithilfe dieser Oper den eigenen Blickwinkel verlassen zu müssen und aus drei Perspektiven gleichzeitig auf das Leben zu schauen.
US Shoko bricht mit allen, als sie das Geheimnis erfährt, Midori nicht. Sie versucht, es sich so gemütlich wie möglich zu machen in dem Gefängnis der Lüge, das auch sie miterschaffen hat. Sie entdeckt die Affäre ihres Mannes bereits ganz am Anfang, ohne ihn oder ihre Cousine zu konfrontieren. Stattdessen nutzt sie die Macht des Wissens, um ihre selbstgewählten Freiheiten auszuleben. Aber dadurch trägt sie genauso wie ihr Mann dazu bei, dass die Ehe durch das Gift des Nicht-Sprechens zerstört wird. Und auch sie leidet unter ihren unterschwelligen Gemeinheiten gegen ihren Mann. Midori und Saiko gehen beide Wege, bei denen man denkt: Was um Gottes willen machen die da? Es ist so widersprüchlich, und trotzdem findet man sich in ihnen wieder: Man trifft falsche Entscheidungen, kommt nicht mehr von ihnen los, schleppt sie sein Leben lang mit sich herum, und sie fressen einen von innen her auf. Die Figuren sind alle sehr gut im Aushalten, aber sie sind sehr schlecht darin, etwas zu verändern, sie lassen sich treiben vom Leben.
AB Neben den vier Familienmitgliedern gibt es noch eine weitere Figur: den Dichter.
US Sein Gedicht gibt den Impuls für die Entblätterung dieses Familienporträts. Der Dichter ist unser Reiseführer, unsere Tür in die Geschichte. Er liest die Briefe, deshalb können wir sie lesen. Aber er beobachtet die Familie auch und hat seine eigene Meinung zu dem, was er sieht. Sich im Gedicht des Dichters wiederzufinden, muss ein einschneidendes Erlebnis für Josuke gewesen sein: Du dachtest, du bist völlig allein in den Bergen, noch einsamer als die Frauen, denn du schreibst noch nicht einmal jemandem einen Brief, und dennoch ist da jemand, der dich „liest“ und interpretiert. Für mich war die Form der Oper, bei der Vergangenheit und Gegenwart in jeder Szene übereinanderliegen, Anlass, diese Form auf die Figuren zu übertragen: Bei uns sind alle Figuren immer anwesend. Wir befinden uns also nicht in einer chronologischen, realistischen Erzählung. Vielleicht kann man es sich so vorstellen: Die „Geister“ dieser Menschen treffen sich nach vielen Jahren, legen ihre Geschichte noch einmal auf den Tisch und lesen sie gemeinsam. In Situationen, in denen „damals“ die anderen nicht dabei waren, sind plötzlich alle anwesend, der Dichter genauso wie die Familienmitglieder. Unsere Figuren sind also wie in der Hölle ihrer Geschichte gefangen und gezwungen, sie durch ihre Briefe miteinander aufs Neue zu durchleben.
JS In der ersten Szene beschreibt der Dichter sehr ausführlich die Buchstaben auf Josukes Brief. Damit setzt er das Thema, schon bevor er die Briefe liest: Es geht um Schrift, es geht um Wörter, es geht aber auch um Form. Das greifen wir in den Kostümen auf: Die Figuren haben alle den Duktus des Dichters beziehungsweise des Autors als schwarzen Pinselstrich auf ihrem Körper. Ob die bunten Farben sich in ihre weißen Kostüme saugen oder ob sie herauslaufen, bleibt der Deutung der Zuschauenden überlassen. Im Kostüm des Dichters dagegen sind die „Nicht Farben“ Schwarz und Weiß invertiert; dieses Kostüm ist wiederum die Vorlage für die Kostüme des Chores.
AB Den Chor hat Thomas Larcher ursprünglich nur als musikalische Farbe gedacht, Sie setzen ihn auch szenisch ein.
US Der Chor bringt uns Zuschauer:innen im Prolog das Gedicht nahe, er nimmt uns in Empfang wie ein Gastgeber. Deswegen haben wir ihn dem Dichter zur Seite gestellt. Denn die Chorist:innen sind selber auch Rezipient:innen, die die Briefe lesen und sich eindenken in die vier Biografien: Sie doppeln die solistischen Stimmen bei einzelnen Aussagen oder Wörtern und geben ihnen dadurch andere Nuancen.
JS Während die Familie die ganze Zeit nur um ihr Inneres und ihre Einsamkeit kreist, repräsentiert der Chor, dass es doch auch eine Außenwelt gibt.
AB Die Produktion findet im Cuvilliés-Theater und damit in einem sehr präsenten, in Rot und Gold gehaltenen Rokoko-Theaterraum statt. Darauf reagieren Sie mit einem relativ abstrakten Bühnenbild, das viele der schon genannten Aspekte aufgreift. JS Am Beginn des Nachdenkens über das Bühnenbild stand eine Setzung von Ulrike.
US Mich hat diese Oper sehr an Geschlossene Gesellschaft von Jean-Paul Sartre erinnert, an das Gefühl „Die Hölle, das sind die anderen“. Deshalb war mein Wunsch an Jule, dass es einen hermetischen Raum gibt, in dem einerseits Vorgänge möglich sind, wie sie im Alltag einer Familie vorkommen, der aber andererseits keine offene Bühne ist oder aus mehreren Zimmern besteht, sondern dass wir die Beklemmung, das Nicht-Reden dadurch auf die Spitze treiben, dass immer alle im selben ge-schlossenen Raum anwesend sind.
JS Wir kamen dann beide gleichzeitig auf den Gedanken: Das Herz einer Wohnung ist die Küche, Familienleben findet in der Küche statt. Klar, dass in einer Küche auch gekocht wird! Ein anderes wichtiges Element der Bühne hat wieder mit der besonderen Form von Novelle und Oper zu tun: Wenn ein Brief zu Ende ist, würde man vom nächsten Brief erwarten, dass er die Geschichte fortsetzt, die ich aus dem ersten kenne. Stattdessen fängt der zweite Brief wieder von vorne bei den gleichen Ereignissen an. Trotzdem erzählt er eine ganz andere Geschichte – als hätte man die erste Version ein Stück zur Seite gekippt. Daraus haben wir den Gedanken eines Kaleidoskops entwickelt, das unser Raum auch ist: Spiegelwände, zwischen denen sich Personen und Gegenstände, Farben und Formen vervielfältigen und auflösen. So ein Kaleidoskop kann man nicht weiterreichen, ohne dass ein Steinchen verrutscht. Der nächste sieht ein anderes Bild und der erste kann nicht sicher sein, welches genau. Die Spiegelungen im Bühnenbild ermöglichen es den Betrachtenden, über die Perspektive der anderen Zuschauer:innen nach-zudenken. Die Formen, die sich in diesen Raum einschieben lassen, erinnern an die typischen Elemente des Barocktheaters: Wellen, Wolken, eine Sonne. Ihre Farben wiederum sind von den Farben und Mustern japanischer Holzschnitte inspiriert. Rings um unseren Kaleidoskop-Raum ist die Bühne offen, man kann der Theater-maschinerie beim Arbeiten zuschauen. Ein Kaleidoskop, ein abgeschlossener Raum, eine Küche, Japan, die Monteverdi Elemente und das Cuvilliés-Theater und damit die Nähe zum Barocktheater: Das sind die Koordinaten, zwischen denen wir den Bühnenraum aufspannen.