Yasushi Inoues Meditation über einen einsamen Mann
Defizite im großbürgerlichen Milieu und die Deutung der menschlichen Natur
Lisette Gebhardt
Foto: Mak
Defizite im großbürgerlichen Milieu und die Deutung der menschlichen Natur
Lisette Gebhardt
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Würde man ein Lesebuch der Weltliteratur unter dem Thema „Einsamkeit“ zusammenstellen, wären darin sicher japanische Werke enthalten. Nicht zuletzt fände sich dort Yasushi Inoues (1907—1991) Das Jagdgewehr (Ryōjū). Der Text begründete im Verbund mit der ebenfalls 1949 entstandenen Erzählung Der Stierkampf (Tōgyū) das hohe Ansehen des Autors im In- und Ausland. Das Jagdgewehr beschreibt das mondäne Leben der westjapanischen Oberschicht in der Vor- und Nachkriegszeit. Zugleich legt die Novelle die unglücklichen Verkettungen einer Dreiecksbeziehung offen und bietet ein Panorama diverser Einsamkeiten.
INOUES LITERARISCHES MANDALA
Erzählende Instanz ist ein Dichter, dem sich unter dem Pseudonym Jōsuke Misugi ein vormals einflussreicher und angesehener Bürger in mittleren Jahren schriftlich anvertraut. Der Mann bestätigt dem Literaten, in dessen Prosapoem „Das Jagdgewehr“ er sich in der Gestalt des Jägers erkannt zu haben glaubt, seine lyrische Diagnose tiefster Verlassenheit. Sozusagen als würdigende Geste des Gentlemans gewährt ihm besagter Misugi einen noch genaueren Blick auf seine Misere anhand von drei Abschiedsbriefen. Es sind die Briefe seiner Ehefrau Midori, seiner alleinstehenden Geliebten Saiko, Midoris Cousine, sowie Saikos zwanzigjähriger Tochter Shōko. Die darin getätigten Aussagen belegen den Zusammenbruch von Misugis Welt, nachdem seine über eine Dekade andauernde Affäre mit Saiko offiziell kein Geheimnis mehr ist. Midori fordert die Scheidung, Saiko wählt den Freitod und die desillusionierte Shōko möchte weder Midori noch Jōsuke je wiedersehen.
Ohne ein moralisches Urteil zu fällen, erkundet der Autor Inoue, wie so oft in seinen Analysen der Gegenwartsgesellschaft, die Psychologie der Personen. Briefstruktur, rahmendes Gedicht sowie die übergeordnete Perspektive des Poeten, in dessen Gedächtnis das Schicksal der vier Protagonisten gleichsam aufbewahrt bleibt, umfassen ein Lob auf die Macht der Poesie, eine reizvoll angelegte Milieustudie und eine Meditation über die menschliche Natur – letzteres ist charakteristisch für Inoue, kennzeichnet aber auch die japanische Nachkriegsliteratur generell. Am Ende verursachen die Normen der Elite oder zeitgeschichtliche Umstände das Unglück der Hauptakteure nur auf der Oberfläche, schuld sind vorrangig eigene Charakterdefizite.
DREI ABSAGEN FÜR JŌSUKE MISUGI
Das Jagdgewehr kreist um die Figur des Misugi. Er ist der einsame Jäger mit der Präzisionswaffe auf der Schulter (eine „Churchill Doppelflinte“; aktueller Preis ca. eintausend Euro), der durch ein „verödetes, weißes Flußbett“ schreitet. Seine kühle, wissende Intelligenz macht es ihm schwer, innige Bande zu knüpfen. Misugi repräsentiert das lange in Japan (und nicht nur dort) für einen Erwachsenen geltende Ideal des herben, wortkargen Mannes. Midori nennt ihn eine „wohlbeschirmte, mächtige, unerträgliche Festung“. Äußerlich unbeteiligt nimmt er auch hin, dass er sich nach dem Krieg unter der amerikanischen Militärregierung (1945 – 1951) von „jeder öffentlichen Tätigkeit“ und aus seinen Geschäften zurückziehen muss. Tatsächlich bezieht sich der Text zunächst vor allem auf die Traurigkeit des Protagonisten. Bei näherer Betrachtung vertritt er jedoch zu einem nicht geringen Maß die Sache der Frauen: Durch die Trennung von dem Mann, der lange im Mittelpunkt ihres Daseins stand, erfahren Midori und Shōko einen beachtlichen Zugewinn an Freiheit. Von der Nichte, die sich kategorisch von der Fürsorge des Onkels (er ersetzte lange Zeit den verschwundenen Vater) lossagt, ist zu erfahren, dass die schmerzvollen Ereignisse um den Tod der Mutter bei ihr einen Reifungsprozess in Gang gesetzt haben: Sie beabsichtigt nun, ein „kleines Geschäft für europäische Moden“ zu eröffnen.
Midori, die als junge Ehefrau den reservierten Misugi durchaus geschätzt hat, aufgrund eines Unterlegenheitsgefühls aber nie den Mut fasste, sich gegenüber ihrer Konkurrentin, der eleganten, etwa fünf Jahre älteren Cousine Saiko zu behaupten, wird durch die Loslösung von Misugi ebenso finanziell unabhängig, da sie nun entschlossen Anspruch auf einen gerechten Anteil am familieneigenen Grundbesitz erhebt. Sie plant, im Norden von Kyōto Blumen für die Händler an der Hauptstraße der alten Kaiserstadt zu züchten, und hofft, eines Tages doch noch ihr „Glück zu entdecken“. Beiden Frauen steht mit der ökonomischen Absicherung der Weg in eine positive Zukunft offen. Metaphorisch betonen ihre Arbeitsfelder (Blumenzucht, Modehandel) eine dem Leben zugewandte Haltung, während der Charakter des Mannes mit der Öde des ausgetrockneten Flusses verglichen wird.
Saikos finale Aufkündigung der Beziehung per Suizid trifft Misugi am stärksten. Er erfreute sich einerseits an der perfekten Erscheinung ihrer klassischen japanischen Schönheit, wie er exquisite Keramik und erlesenes Porzellan liebt, andererseits empfand er zu ihr eine echte seelische Verbindung. Der ähnliche Bildungshintergrund und das gemeinsame Gefühl für Ästhetik schufen die Basis. Hinzu kam, dass beide eine Enttäuschung durch die Ehepartner erlitten haben. Die impulsive Midori verkörpert das modern girl (japanisch moga) der 1930er sowie die regionale, avantgardistische Hanshinkan-Moderne, die sich zwischen Osaka und Kobe, z. B. in Ashiya, Takarazuka und Nishinomiya, herausgebildet hat. Midori beginnt im Laufe ihrer Ehe, frustriert von Misugi und seiner Verbindung zu Saiko, Affären mit drittklassigen Liebhabern, was ihr allerdings Misugis Aufmerksamkeit keineswegs ersetzt. Erstaunlich ungeniert schreibt Midori über ihre erotischen Vorlieben: Sie präferiere jüngere, kraftvolle Männer. Ein japanischer Exotismus tritt zu Tage, wenn sie dem Angetrauten die Phantasie vom „Antilopen-Jungen“ mitteilt. Es handelt sich um einen „nackten jungen Mann, der in der Syrischen Wüste unter Antilopen gelebt hat“. Midori ergänzt: „Ich glaube, man kann sagen, sein Gesicht verriet Intelligenz, und sein Körper atmete animalische Wildheit“. Midoris moderne Emanzipation befremdet Misugi derartig, dass er sich über die Ehejahre hinweg umso entschiedener der ruhigen Saiko zuwendet, auch in der Absicht, sich an Midori zu rächen.
Saikos Trauma wiederum betrifft den Verrat ihres Ehemanns Rei’ichirō Kadota. Kadota, angehender Kinderarzt und, wie es in Japan üblich ist, als Erbnachfolger in die Familie der Frau aufgenommen, hatte eine Geliebte. Diese gebar sein Kind. Selbst junge Mutter, war Saiko gerade von diesem Fehltritt verletzt. Unversöhnlich wies sie ihrem untreuen Mann die Tür und hat ihn seither nicht wiedergesehen. Ihr Abschiedsschreiben enthüllt nun die Tatsache, dass sie immer noch Gefühle für Rei’ichirō hegt. Obwohl Saiko bekennt, Misugis liebevolle Zuwendung stets genossen und manch schönen Moment mit ihm verbracht zu haben, gelte ihre wahre Liebe dem Vater von Shōko. Misugi sei also von ihr getäuscht worden. Mit der Nachricht von Kadotas Neuverheiratung schwindet Saikos Lebenswille. Ob die Krankheit, die sie schon länger schwächte, oder die Reue im Hinblick auf Midori schließlich den Ausschlag gaben, Gift zu nehmen, bleibt unklar.
DIE POETISIERTE WAFFE UND DER DICHTER
Obwohl Das Jagdgewehr viel von beschädigten Gefühlen, Gewissenskonflikten und stummem Leiden berichtet, ist das Leitmotiv der Novelle die Waffe mit dem „schimmernden Stahlrohr, das Leben vernichtet“. Indem der Autor im lyrischen Auftakt ein Tötungsinstrument zum Thema macht, nutzt er den Kunstgriff der Vorausdeutung auf eine schicksalshafte Wende. Das Gedicht ästhetisiert zu einem gewissen Grad das Machtpotential der Waffe. Schimmernd geputzt strahle das Gewehr eine „seltsame, blutbefleckte Schönheit“ aus. Yasushi Inoue lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass für das stählerne Instrument, wenn es „auf Lebendes zielt“, keine ästhetische Aura mehr festzustellen wäre. Bereits eingangs im Rahmenkommentar der Dichterfigur, in der man Inoue selbst erkennen mag, äußert sich der Poet zu seiner Ablehnung von jeder „Art von Töten“. Wenn Misugi, laut Midoris Schilderung, einmal das – nicht geladene – Gewehr auf sie anlegt, geschieht dies, weil er sich angesichts der wiederholten Seitensprünge der Ehefrau in seiner Mannesehre gekränkt fühlt. Midori empfindet diese überraschende Gefühlsregung Misugis als willkommene Unterbrechung der eisigen Atmosphäre. Sie wünscht sich einen Gatten voll Leidenschaft, der ihr „durchs Herz“ schießt und sie endlich für ihre Untreue bestraft: um ihm dann am besten „an die Brust“ zu sinken. In dieser Szene greift Inoue romantische Liebesmuster auf, wie sie in der westlichen Literatur seit dem 19. Jahrhundert populär waren. Misugi entspricht dem dunklen, außergewöhnlichen Helden, der schwer durchschaut werden kann und darum umso attraktiver erscheint. Heute würde man das erotische Begehren einer Frau sicher in einer etwas anderen Metaphorik kundtun.
Ein Gewaltakt wird, bei entsprechender Deutung, von allen Beteiligten begangen. Es ist kein Mord, bei dem die im Fall Saikos ermittelnde Polizei Aufklärung hätte liefern können, denn er geschieht auf seelischer Ebene: Jeder tötet den guten Glauben im jeweiligen Gegenüber – man denke an Shōkos Enttäuschung über ihre Mutter. Damit geschieht die Initiation in das, was Leben genannt wird. Freilich ist Misugi schon vor den Frauen den langen Weg zur Erkenntnis gegangen. Der Dichter und der einsame Mann treffen sich im Punkt ihrer Einsicht in das menschliche Dasein, um für einen Moment durch Gedicht und Brief verbunden zu sein.
EUROPA, JAPAN, ZEITGESCHICHTE
Dass der Text vertraut und trotz der Distanz von über sieben Dekaden zur Jetztzeit immer noch nah wirkt, liegt an seinen Parallelen zur europäischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Das großbürgerliche, weltläufige Ambiente, in dem Inoues Protagonisten beheimatet sind, wartet mit prominenten Geschäftsleuten, Ärzten und Philosophen sowie mit ähnlichen Benimmregeln und vertrauter Ausstattung auf: Zur Gemäldesammlung zählen die Maler Gauguin und Vlaminck, man spielt Klavier, genießt Ausflüge zu bekannten inländischen Kurorten, pflegt Kontakte zu Universitäten und zur Kunst-szene, besucht Pferderennen, reist nach London oder Ägypten. Oft wird über einschlägige Aktivitäten in Klatschspalten berichtet. Die Damen verwenden französischen Puder und in den Anwesen gibt es selbstredend Dienstmädchen. Ein Herr wie Misugi übt Hobbys aus, ist Mitglied im „Japanischen Jäger-Club“, liest die Zeitschrift „Jägerfreund“ und glänzt als „starke Persönlichkeit modernen Stils“. Bezüge zur landeseigenen Kultur fallen bei Inoue eher spärlich aus. Entweder beschränken sie sich aufs Ambiente oder beanspruchen keine detaillierten Erklärungen – etwa im Fall der buddhistischen Totenzeremonie für Saiko.
Nur am Rande und wohl noch um Abstand zu den Tragödien bemüht lenkt der Autor vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs das Augenmerk auf einen für das Land tiefgreifenden Einschnitt, wenn er erzählt, wie Saiko, Shōko und Misugi am 6. August 1945 im neu gebauten Luftschutzbunker bei Misugis Villa Zuflucht suchen. Als Zeitzeugen sehen sie Feuer in der Nähe des Hauses auflodern, hören das „Dröhnen der B-29“ am Himmel. Die Erwähnung der Kampf-bomber verweist auf das kostenintensivste Rüstungsprogramm der USA im Zweiten Weltkrieg, wobei Inoue, der sich später, als er von 1981 bis 1985 Präsident des Japanischen PEN Clubs ist, gegen nukleare Bewaffnung wendet, an dieser Stelle keine Ausführungen zu Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August beifügt. Nach auf Das Jagdgewehr und Der Stierkampf folgenden frühen Arbeiten zur japanischen Gegenwartsgesellschaft in den 1950ern beschäftigt sich Inoue in seinen späteren Werken im Wesentlichen mit historischen Stoffen, wie der Irrfahrt eines japanischen Schiffs an die sibirische Küste im späten 18. Jahrhundert in Der Sturm (1968), veröffentlicht aber auch autobiographische Texte wie seine Kindheitserinnerungen im ländlichen Japan der 1910er Jahre Shirobamba (1962).
REZEPTION
Ryōjū erschien 1964 auf Deutsch unter dem Titel Das Jagdgewehr bei Suhrkamp. Als Übersetzer zeichnete der Japanologe Oscar Benl (1914–1986) verantwortlich. Die im deutschsprachigen Raum beliebte Novelle wird in der Version von 1964 bis in die Gegenwart als Vorlage für Hörspiele oder Bühnenaufführungen genutzt. Eine erste Hörspielfassung sendete RIAS 1 bereits im September 1965. Christian Kracht, der wie Peter Handke Das Jagdgewehr zu seinen Lieblingsbüchern zählt, war 2005 daran beteiligt, den Text für eine CD-Aufnahme einzulesen. Thomas Larchers Oper hatte im August 2018 bei den Bregenzer Festspielen ihre Uraufführung. 2023 wurde in New York eine Bühnenfassung der Novelle von Serge Lamothe als „Monolog für drei Stimmen“ mit der japanischen Performerin Miki Nakatani in den drei Frauenrollen und dem Tänzer Michail Baryshnikov als Misugi gezeigt. Dem Thema Einsamkeit sind auch aktuell viele japanische Werke gewidmet. Wie sich Dreiecksbeziehungen im Japan des späten 20. Jahrhunderts darstellen, zeigt Naokos Lächeln (1987) von Haruki Murakami: Der Held Tōru Watanabe steht zwischen der fragilen Naoko und einer lebenslustigen Midori. Am Schluss des Romans hat Naoko Selbstmord begangen. Watanabe hält jedoch nicht mit kühler Gelassenheit eine Flinte in der Hand, sondern relativ ratlos einen Telefonhörer an der Schnur.
Lisette Gebhardt ist Professorin für Japanologie an der Goethe- Universität Frankfurt. Themen ihrer Forschung zur japanischen Gegenwartsliteratur sind Zeitgeschichte und Repolitisierung, Ethnofiktionen (Geister) sowie das Projekt Weltliteratur. Die aktuelle Publikation Ōe lesen (2024) befasst sich mit dem Werk des zweiten japanischen Nobelpreisträgers für Literatur.