„Salut à la France“

Uwe Schweikert
über Donizetti und seine Opéra-comique La Fille du régiment

Foto: Cecilia Miraldi

 

„DONIZETTI! PARTOUT DONIZETTI!“

1837 war ein Katastrophenjahr für Donizetti. Am 30. Juli starb seine Frau Virginia, nachdem sie kurz zuvor bereits ihr drittes Kind verloren hatte. Die in der Trauerzeit entstandene Oper Maria de Rudenz fiel ein halbes Jahr später bei der Premiere in Neapel gnadenlos durch. Der anschließend komponierte Poliuto kam erst gar nicht auf die Bühne, weil König Ferdinando II. die Aufführung persönlich verbot und Donizetti überdies bei der Nachfolge des verstorbenen Nicco­lò Zingarelli als Direktor des Konservatoriums überging.

In dieser Situation entschloss er sich im Oktober 1838, wie viele italienische Opernkomponisten vor ihm, sein Glück in Paris zu suchen. Am Théâtre-Italien, dem italienischen Opernhaus der französischen Hauptstadt, war er längst kein Unbekannter mehr. Sein Ehrgeiz zielte aber höher, auf die Pariser Opéra, das renommierteste Opern­haus Europas. Gleichzeitig knüpfte er Kontakte zur Opéra-Comique wie zum privaten Théâtre de la Renaissance. Nicht weniger als drei neue Opern, zwei an der Opéra und eine an der Comique, waren es schließlich, mit denen er 1840 Paris im Sturm eroberte.

Dass die französischen Musiker diesen strategisch meisterhaft ge­führten Feldzug ihres italienischen Konkurrenten mit Ressentiments, ja unverhohlenem Neid begleiteten, ist verständlich. „Donizetti! Über­all Donizetti! ... Das ist eine Schande, das ist ein Skandal“, posaunte mit xenophoben Untertönen Hippolyte Prévost in der Zeitung Le Commerce. Aber auch Hector Berlioz, damals Kritiker am Journal de débats, hat sich in seinem schneidenden Verriss der Premiere von La Fille du régiment über den „seltsamen Eindruck“ erregt, „den die Ankündigung hervorgerufen hat, dass Donizetti unsere vier lyri­schen Theater mit seinen Werken überfluten will … Monsieur Doni­zetti scheint uns wie ein erobertes Land zu behandeln; es ist eine regelrechte Invasion.“ Trotz seiner Pariser Erfolge schrieb er weiter­hin für Italien und seit 1842 als kaiserlicher Hofkomponist auch für die Wiener Oper. Wie der große Konkurrent Giacomo Meyerbeer hätte er eine Figur von europäischer Wirkung werden können, wäre er nicht 1845 körperlich und psychisch erkrankt und drei Jahre später in einer psychiatrischen Klinik gestorben.
 

PATRIE ET VICTOIRE

Dass Donizetti es sich in Paris nicht leicht machte, zeigt gleich das erste neue Werk, mit dem er sich dem Pariser Publikum am 11. Fe­bruar 1840 in der Opéra-Comique präsentierte. La Fille du régiment genießt heute keinen besonders guten Ruf und gilt selbst unter Donizetti-Kennern als eher anspruchslose Militärklamotte mit einer Glanzrolle für einen leichten Koloratursopran. Zu diesem Eindruck trägt vor allem die Tatsache bei, dass es sich um keine Opera buffa, sondern um eine Opéra-comique handelt, jene typisch französische Form, bei der die Musiknummern von gesprochenem Dialog und nicht wie in der italienischen Buffa von Rezitativen unterbrochen werden. Zwar hatte sich die Opéra-comique, nicht zuletzt dank der brillanten Libretti Eugène Scribes und der Italianisierung des Genres unter dem auch in Frankreich allmächtigen Einfluss Gioachino Rossinis, längst von der „comédie meleé d’ariettes“, der von Musik­einlagen unterbrochenen Komödie, zu einer eigenständigen Form emanzipiert. Die gesprochenen Dialoge besaßen aber weiterhin ein großes Eigengewicht und beschränkten sich keinesfalls, wie heut­zutage fast immer praktiziert, auf die stichwortartige Überbrückung der Musiknummern. Die skurrile Duchesse de Crakentorp ist sogar eine reine Sprechrolle.

Die beiden Librettisten Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges (1799– 1875) und Jean-François-Alfred Bayard (1796–1853) folgen Scribes Modell des „pièce bien faite“. Der Romancier und Dramatiker Saint- Georges war einer der wichtigsten Librettisten der Opéra-comique während der Juli-Monarchie des Bürgerkönigs Louis Philippe. Das Libretto zur Fille du régiment ist nicht nur dem Geist und der Hand­lung, sondern auch der Form nach typisch französisch. Anders als in Donizettis italienischen Buffa-Opern hat die Commedia dell’arte mit ihrem stereotypen Figurenarsenal hier kaum Spuren hinterlassen. Saint-Georges und Bayard orientieren sich vielmehr bei der Schürzung ihrer Verwicklungskomödie ganz an der Opéra-comique mit ihren drei Hauptrollen: dem lyrischen Koloratursopran (Marie), dem lyri­schen Tenor (Tonio) und dem Spielbass (Sulpice) – ein Muster, das sie noch dadurch zuspitzten, indem sie die Rolle des Sergeanten Sulpice, der über keine eigenständige Solonummer verfügt, aber auch die des tenoralen Liebhabers Tonio zurückdrängten und die psychologisch komplexe Figur der Marketenderin Marie ganz ins Zentrum der Handlung und damit auch der Musik rückten.

Was uns heute als anspruchsloser Boulevardstoff erscheint – das vom 21. Regiment der französischen Armee großgezogene Findel­kind Marie stößt durch Zufall auf seine adelige Mutter, kriegt am Schluss aber doch den Tiroler Bauernburschen Tonio zum Mann –, besitzt trotz der märchenhaften Handlung durchaus zeittypische, ja geradezu politische Züge. Liberale Ideologie, Neopatriotismus und bürgerliche Vorstellungen von Individualität gehören zu seinen Vo­raussetzungen. Die Herrschaft des 1830 an die Macht gekommenen Louis Philippe war – wie schon sein Beiname „Bürgerkönig“ zum Ausdruck bringt – ein Klassenkompromiss zwischen Adel und Bour­geoisie, politisch instabil und bis zu seinem Sturz 1848 von Unruhen, Streiks und Aufständen erfüllt. Überdies huldigte die Nation dem immer mächtiger anschwellenden Napoleon-Kult, den sowohl das liberale Bürgertum als auch Louis Napoleon, der Neffe des 1815 aus Frankreich vertriebenen und 1821 im Exil verstorbenen Kaisers, an­heizten. Ihren Höhepunkt erreichte diese Bewegung mit der Über­führung der sterblichen Reste Napoleons, die am 15. Dezember 1840 in den Pariser Invalidendom überführt und dort beigesetzt wurden.

Saint-Georges, der trotz seiner adeligen Herkunft in seinen Werken den bürgerlichen französischen Geist des 19. Jahrhunderts vertrat, hat mit der Marketenderin Marie eine Figur geschaffen, in der sich gleichsam idealtypisch die ideologische Konstellation des Siegs der Bourgeoisie über den Adel, aber auch der Napoleon-Kult mit seiner Verherrlichung der Grande Armée verkörpern. Der Sergeant Sulpi­ce hat das Mädchen einst als ausgesetzte Waise auf dem Schlacht­feld gefunden – Frucht eines Fehltritts, aber auch einer Mesalliance zwischen einem bürgerlichen Soldaten und der Marquise de Ber­kenfield, wie sich im Verlauf der Handlung herausstellt. Das 21. Re­giment, „le régiment par excellence“ – eine Einheit, die zur legendä­ren Garde des Kaisers gehörte –, hat das Kind großgezogen. Der Trommelwirbel war ihr Wiegenlied. Kein Wunder, dass die „fille mili­taire“ das Herz eines Soldaten besitzt. Das Regiment ist ihre Familie. Mit den Soldaten zog sie durch Europa, nahm an den Schlachten teil und brachte es schließlich zur Marketenderin. Die Handlung spielt in einem Tiroler Dorf, am Ende der Napoleonischen Kriege. Marie, die zum Zeitpunkt der Handlung 20 Jahre alt ist, verkörpert die Grande Armée, die trotz des ungeheuren Blutzolls und ihrer schließ­lichen Niederlage für die „petite bourgeoisie“, das Stammpublikum der Opéra-Comique, längst zu einem Mythos jenseits von Zeit und Raum geworden war.

Marie ist eine Ikone des napoleonischen Patriotismus, Symbolfigur für das zwischen konstitutioneller Monarchie und Napoleon-Sehn­sucht hin- und hergerissene Frankreich der 1840er Jahre. Das Re­giment, Marie sagt es selbst, ist ihr „Adoptiv-Vater“. Es symbolisiert aber auch Napoleon, den Adoptiv-Vater aller, und steht damit für die ganze Nation. Zerreißender ist der Kompromiss, den Marie in sich selbst austrägt: Als Soldatenkind und Marketenderin gehört sie dem Lumpenproletariat an, als illegitime Tochter der Marquise ist sie adeliger Herkunft. Sie verfügt über einen gemischten Charakter, der proletarische Direktheit mit pathetisch-sentimentalen Zügen ver­bindet. Donizetti hat diese Mischung in seiner Musik auf höchst originelle Weise eingefangen.

„RATAPLAN“

La Fille du régiment besitzt, wie später die Opern Giuseppe Verdis, eine ganz eigene „tinta musicale“, eine spezifische Klangmischung aus vitaler Lebensfreude, sentimentaler Rührung und satirischer Ironie. Donizettis Musik reflektiert die Konfrontation der Stände – Tiroler Bauern, französische Soldaten und der Landadel werden von der Handlung bunt zusammengewürfelt – in unterschiedlich abge­stuften Lokalklängen: die Welt der Bauern im naiv-inbrünstigen Ge­bet der Introduktion, die aristokratische Welt der Marquise in der Stilkopie der Tyrolienne, die sentimentale Liebesgeschichte von Marie und Tonio im bewusst naiven, melancholischen Romanzenton. Sie alle sind unterfüttert von der Militärmusik mit ihrer charakteris­tischen Besetzung für Piccoloflöte, Kornett, Trompete, Schellenbaum, kleine und große Trommel.

Zur Erkennungsmarke des Regiments wird dabei das „Rataplan“- Motiv, das als Signal der buffonesken Kriegsbegeisterung immer wieder in der Musik erklingt – erstmals im Duett Marie / Sulpice im ersten Akt. Mit seiner lautmalerischen Nachahmung eines Trompe­tensignals und der martialischen Untermalung durch die Militär­trommel wird es zum Inbegriff des Marschierens, ja der Unbesieg­barkeit der Grande Armée (Sulpice: „En avant!“ / „Vorwärts!“ – Marie: „C’est la cri du régiment!“ / „Das ist der Ruf des Regiments!“). Doni­zetti war nicht der Erste, der diese militärische Klangikone in der Oper aufgriff. Die Anregung dazu dürfte er vor allem aus Meyerbeers 1836 uraufgeführter Grand opéra Les Huguenots bezogen haben, in deren drittem Akt hugenottische Soldaten lautmalerisch die Trom­mel imitieren.

Verständlicherweise kommt dem Chor, der das Regiment – also die Kollektiv-Adoptivväter Maries – repräsentiert, eine dramatische Funk­tion zu, wie er sie in der italienischen Buffa nicht besitzt. Er nimmt an fast allen Nummern, insbesondere an den Soloauftritten von Marie, Teil. Das gilt gleich für die in der Partitur als „Entr’acte“ be­zeichneten dritten Musiknummer, einer additiven Aneinanderreihung von rezitativischen, chorischen und solistischen Passagen, die dem Prinzip der Steigerungstechnik folgen. Im Zentrum steht das von Marie angestimmte Regimentslied „Chacun le sait, chacun le dit, le régiment par excellence“ / „Jeder weiß es, jeder sagt es, das Regiment der Regimenter“ – übrigens ein kurioses Selbstzitat Donizettis, näm­lich der feierlichen Anrufung Noahs aus dem szenischen Oratorium Il diluvio universale (1830) –, dessen Refrain „Il est là, il est là, mor­bleu!“ / „Es rückt an, es rückt an, Sapperment!“ mit seinem leicht­füßig marschierenden Rhythmus ein weiteres Mal den des Rataplan zitiert. Die freche Mischung aus Nonsens-Reimen („corbleu“ / „mor­bleu“) und in die Beine gehender Musik nimmt bereits den Geist der Offenbach’schen Operette vorweg.
 

„FILLE MILITAIRE“

Höhepunkt der ironisch-satirischen Schicht der Regimentstochter ist die Musikszene zu Beginn des zweiten Aktes. Marie, deren ade­lige Herkunft am Ende des ersten Aktes zur Überraschung aller offenkundig wurde, befindet sich inzwischen auf dem Schloss der Marquise, die sich als ihre Tante ausgibt, in Wahrheit aber – der weitere Verlauf der Handlung offenbart es – ihre Mutter ist. Die Marquise, die auf eine standesgemäße Heirat drängt, sucht Marie die soldatischen Reden und Manieren auszutreiben und ihr das in der höheren Gesellschaft schickliche Benehmen beizubringen. Zu dieser Benimmerziehung gehört auch der Gesangsunterricht. Als Modell diente den Librettisten eine Szene aus Beaumarchais’ Ko­mödie Le Barbier de Séville, in der der als Musikmeister verkleidete Graf Almaviva Rosine Gesangsunterricht erteilt – dort für die beiden der Vorwand, sich ihre Liebe zu gestehen –, während der misstrau­isch zuhörende Bartholo eine galante Ariette aus seiner Jugend vor sich hin trällert. Donizetti hatte als zusätzliches Modell die Vertonung dieser Szene durch Rossini vor Augen.

Es spricht für sein kompositorisches Selbstbewusstsein, dass er Rossini weder kopiert noch zu übertrumpfen sucht, sondern das Aufeinanderprallen der beiden Welten – des aristokratischen Tonfalls der Marquise, die den alten Zeiten nachtrauert, und des militärischen Patriotismus Maries, die die Soldaten nicht vergessen kann – in seiner ganzen Unvereinbarkeit mit Mitteln der musikalischen Situa­tionskomik zum Ausdruck bringt. Verschärft wird dieser Gegensatz noch durch die Anwesenheit des derben Sulpice, der in diesem Terzett Maries „stimmgewordenes Unterbewusstsein“ (Ulrich Schrei­ber) verkörpert. Marie singt zur Klavierbegleitung der Marquise ein schmachtendes Salonlied, dessen Musik angeblich vom „Meister Fettuccine“ stammt – ein Wortwitz, der auf die geschnittenen „Band­nudeln“ des Koloraturgesangs zielt. Das empfindsame Lied mit sei­nen sinnlos tändelnden Trillern und Rouladen steht für die Zopfzeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts, der der in der Vergangenheit lebende Adel noch immer anhängt. Marie, der diese Musik wider­strebt – allen Seufzern der Schönen zieht sie auch weiterhin die Trommel vor – fällt immer wieder, von Sulpices „Rataplan“-Einwürfen gleichsam souffliert, in ihren alten militärischen Ton. Sie kann ihre Herkunft zum Ärger der die Romanze mehr einbläuenden als ein­studierenden Marquise nicht vergessen. Schließlich entlädt sich ihre Wut über den richtigen Vortrag eines Trillers in einen regelrech­ten Ausbruch von Skalen und Arpeggien, der endgültig in das zu­sammen mit Sulpice angestimmte Regimentslied mündet, von des­sen rhythmischem Elan selbst die empört widersprechende Mar­quise mitgerissen wird. Der syllabische, gleichsam natürliche Gesang des Regimentslieds fegt die mit Koloraturen verzuckerte Schäfer­poesie der stilisierten Romanze hinweg. Auf dem Theater ist die Wirkung dieses Konflikts zweier sozial einander entgegengesetzter Gesangsstile, des proletarischen Chansons mit seiner lautmaleri­schen Trivialität und der aristokratischen Air mit ihrer preziösen Anakreontik, von unwiderstehlicher Komik. Gleichzeitig werden wir aber auch, ganz im Sinne von Saint-Georges’ bürgerlicher Ideologie, zu Augen- und mehr noch zu Ohrenzeugen eines musikalischen „Siegs der Revolution über das ‚Ancien régime‘“ (Schreiber).
 

MARIE

In ihren ersten beiden musikalischen Nummern, dem Duett mit Sul­pice und dem Regimentslied, tritt Marie uns mit den klingenden In­signien ihrer Herkunft als Regimentstochter entgegen, die mit dem Zapfenstreich und auf dem Kasernenhof groß wurde und ihre Feuer­probe in keiner Schule, sondern auf den Schlachtfeldern Europas bestand. Erst durch die Liebe zu Tonio, einem Tiroler Bauern, der sie bei einem Sturz auffing und vor dem Tod rettete, wächst sie über die burschikos-buffoneske Rolle der Soldatenbraut hinaus. Hier er­hält sie ihre zweite Erziehung, wobei sowohl Saint-Georges / Bayard wie Donizetti bei der Zeichnung der pathetisch-sentimentalen Züge Maries auf Elemente der Comédie larmoyante, des bürgerlichen Rührstücks, zurückgegriffen haben. Maries musikalische Entwicklung vom Typus zum Charakter, von der frivolen Marketenderin zur Lie­benden bringt dabei die komisch-satirische Seite der Handlung ins Gleichgewicht mit den ernsteren Untertönen.

Ihre charakterliche Reifung vollzieht sich in vier musikalischen Sta­tionen. Zum Auslöser wird dabei die in ein Duett mündende Wieder­begegnung mit ihrem Lebensretter Tonio. Auf Tonios emphatisch bis zur None aufsteigende Liebeserklärung – „Depuis l’instant où dans mes bras, je vous recus toute tremblante“ / „Seit dem Moment, als ich Euch zitternd in meinen Armen hielt“ (As-Dur, Andante non mosso, 3/4-Takt) – antwortet Marie zunächst mit einer kontrastie­renden Phrase („De cet aveu si tendre“ / „Bei solch süßem Geheim­nis“), die Tonios Melodie umspielt, Tonart und selbst None beibehält, dem Ganzen aber durch das schnellere Allegretto-Tempo, den 2/4-Takt sowie den Staccato-Vortrag eine entschieden spielerische Wendung gibt. In der zweiten Strophe allerdings streckt die zuvor Genierliche die Waffen. Sie übernimmt Note für Note, allerdings einen Halbton höher in A-Dur, Tonios zärtliche Melodie und bekennt allein schon auf diese Weise, dass auch sie ihn liebt. Und jetzt wird sogar der kecke Refrain zum Siegel der gemeinsamen Liebe in diesen Couplets à deux.

Da Marie gegenüber ihren „Adoptiv-Vätern“ im Wort steht, nur einen Soldaten zu heiraten, schreibt Tonio sich für das 21. Regiment ein. Unerwartet zögert die Entdeckung von Maries adeliger Herkunft das Happy End der beiden hinaus. Es kommt zum schmerzlichen Augen­blick des Abschieds, der sich nicht, wie zu erwarten, in Form eines machtvoll anschwellenden Concertatos, sondern einer Solonummer Maries unter Beteiligung der übrigen Solisten und des Chores voll­zieht – eine der schönsten Eingebungen Donizettis in der Regiments­tochter. Angestimmt wird die melodisch wiederum auf die None als Spitzenton zielende Romanze („Il faut partir“ / „Ich muss fort“ – f-Moll, Larghetto, 6/8-Takt) von den melancholisch verhangenen Tönen des Englischhorns. Der für die Liedform typische Übergang vom Moll der ersten beiden Stollen zum Dur des dritten Stollens, des Refrains („Mais par pitié, cachez-moi bien vos larmes“ / „Aber, um Himmels willen, verbergt Eure Tränen“), dient hier überraschenderweise nicht der Aufhellung der Stimmung, sondern der Intensivierung des Ge­fühls, „das eher noch schmerzlicher wirkt in dem Versuch, den Schmerz zu überdecken“ (Schreiber).

Dass Maries Übersiedlung auf das Schloss und die von der Marqui­se eingefädelte Heirat mit dem Sohn der Herzogin von Crakentorp nicht die Lösung bringen wird, lässt schon die mit einem schrillen Misston endende Musikszene zu Beginn des zweiten Aktes ahnen. Auch der sich anschließenden Arie gelingt es nicht, den zerreißenden Zwiespalt in den Gefühlen Maries zu überbrücken oder gar auszu­gleichen. Sie ist neben der Kavatine Tonios im ersten Akt die einzige Solonummer der Oper, die der dreiteiligen italienischen Form (Can­tabile, Tempo di mezzo, Cabaletta) folgt. Im elegischen, vom Solo­cello angestimmten langsamen Teil („Par le rang et par l’opulence, en vain l’on a cru m’éblouir“/ „Durch Rang und Reichtum, vergebens hat man mich geblendet!“ – f-Moll, Cantabile, 4/4-Takt) beklagt Ma­rie, dass Rang und Reichtum sie nicht blenden können. Der Mittelteil, in dem ein Militärmarsch das von außen wie ein Deus ex Machina nahende 21. Regiment ankündigt, bringt den Umschwung: In einer emphatischen, marschartigen Cabaletta bricht Marie in eine be­geisterte, patriotische Huldigung auf Frankreich aus: „Ah! Salut à la France!“ Glück, Hoffnung und Liebe – all das verbindet sich für sie mit ihrem Bekenntnis zu Frankreich.

Das Siegel unter dieses musikalische Bekenntnis zu ihrer Herkunft als Regimentstochter und Marketenderin setzt Marie dann mit ihrem „Oui!“, ihrem kleinen sechzehntaktigen Solo, einem Vierzeiler, den Donizetti aus Saint-Georges’ Finalversen isoliert und ins Zentrum rückt: „Quand le destin, au milieu de la guerre, enfant, me jeta, me jeta dans leurs bras, ils ont recueilli, recueilli ma misère, ils ont guidé mes premiers pas!“ / „Als mitten im Krieg das Schicksal mich als Kind in ihre Arme warf, haben sie sich meiner angenommen, und meine ersten Schritte bewacht!“ Alle sind gerührt, auch die Marquise, die nun der Wahl ihrer Tochter zustimmt. Das Ganze endet freudig, wenn auch arg abrupt, mit der verkürzten Wiederholung des Refrains „Sa­lut à la France!“ Dass Donizetti diese Abrundung in der für Mailand revidierten italienischen Fassung gestrichen und durch ein Schluss­duett von Marie und Tonio ersetzte, hatte nicht nur musikalische Gründe. Der gute Ausgang von Maries Schicksal, so Paolo Cecchi, „bedeutete für das französische Publikum der Jahre um 1840 eine Bestätigung, dass der Individualismus, der dem Wertesystem der neuen bürgerlichen Klasse zugrunde lag, letzten Endes jedem Indi­viduum das Recht zusprach, sein eigenes Geschick zu bestimmen“. Darum setzt sich am Schluss nicht nur das gattungstypische glück­liche Ende einer jeden Komödie durch, sondern feiert gleichermaßen die Ideologie des bürgerlichen Individualismus ihren Triumph.
 

„FRANZÖSISCHE MUSIK“

Donizetti hat sich mit seiner Opéra-comique La Fille du régiment ganz auf Paris eingestellt. Das gilt nicht nur für die unüberhörbare Huldigung des Selbstbewusstseins der französischen Nation, nicht nur für den Esprit, sondern auch für die Form der Musik. Gewiss hat er seine italienische Herkunft nicht verleugnet. Aber seine Musik nimmt doch in dieser Partitur einen unüberhörbar gallischen Ton an – vor allem in der Präferenz für die strophischen Couplets mit ihrem charakteristischen Wechsel von Vers und Refrain. Das Terzett Ma­rie / Tonio / Sulpice im zweiten Akt („Tous les trois réunis“ / „Alle drei vereint“) etwa scheint mit seinem frivolen Elan schon den Tonfall Offenbachs vorwegzunehmen – in Wirklichkeit ist es eher eine Hul­digung an die Meister der Opéra-comique der 1830er Jahre, Adolphe Adam und Ferdinand Hérold, die Donizetti sorgfältig studiert hat und bei denen später nicht nur Offenbach, sondern noch der Georges Bizet der Carmen in die Schule ging.

„Französische Musik und Theaterdichtung“ – so schrieb Donizetti seinem alten Lehrer Giovanni Simone Mayr am 8. April 1839 – „haben ein ganz eigenes Gepräge, dem sich jeder Komponist anpassen muss, ob es sich um die Rezitative oder die gesungenen Nummern handelt“. Die französische Sprache erforderte neue Formen, neue Melodien und insbesondere eine sorgfältigere Ausarbeitung des musikalischen Details. In welchem Ausmaß Donizetti sich auf die Erfüllung dieser Forderungen einließ, zeigen die zahlreichen Änderungen, ja der Aus­tausch ganzer Nummern für die italienische Premiere der Figlia del reggimento an der Mailänder Scala am 3. Oktober 1840, wobei er sich wieder stärker an der Opera buffa orientierte.

La Fille du régiment bescherte Donizetti nicht nur den durchschla­gendsten, sondern auch den am längsten anhaltenden Erfolg beim Pariser Publikum. Die Oper wurde bis zum Beginn des Ersten Welt­kriegs allein auf der Bühne der Opéra-Comique mehr als tausendmal gespielt und stand Jahr für Jahr am Abend des 14. Juli des franzö­sischen Nationalfeiertags auf dem Programm. „Salut à la France“, die Schlussnummer der Marie, war während des Zweiten Kaiserreichs sogar eine Art zweiter französischer Nationalhymne.

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Uwe Schweikert

Uwe Schweikert studierte Germanistik, Musikwissenschaft und Geschichte in Göttingen und München und wurde 1969 mit einer Arbeit über Jean Pauls Spätwerk promoviert. Nach langjähriger Tätigkeit als Verlagslektor ist er freiberuflich als Autor und Kritiker tätig. Er hat u. a. das Gesamtwerk von Hans Henny Jahnn herausgegeben und zahlreiche Bücher über die Oper veröffentlicht, darunter „Das Wahre erfinden“ – Verdis Musiktheater (Königshausen & Neumann) und die Essaysammlung Erfahrungsraum Oper. Porträts und Perspektiven (Metzler / Bärenreiter). Gemeinsam mit Anselm Gerhard ist er Herausgeber des Verdi-Handbuchs (2., vollständig überarbeitete Auflage 2013), außerdem ist er Mitherausgeber des Schubert-Liedlexikons (Bärenreiter). Seit 1991 ist er Jurymitglied im Preis der deutschen Schallplattenkritik. Jüngst erschien von ihm das Buch Bald sind wir aber Gesang. Essays zu Oper, Musik und Literatur (Metzler).

La Fille du régiment