The Taming of the Tomboy
Mattia Palma
Im Sommer 2025 feiern die Münchner Opernfestspiele Jubiläum: 150 Jahre einer glanzvollen Tradition, die dieses Festival zu einem der ältesten und renommiertesten der Opernwelt machen. Feiern Sie mit uns dieses Jubiläum und bestellen Sie bis 1. Februar 2025 Ihre Karten.
Mattia Palma
„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“, stellte Simone de Beauvoir in Das andere Geschlecht fest. Und das ist ganz schön beschwerlich, scheint Marie sagen zu wollen, wenn sie zu Beginn des zweiten Akts von La Fille du régiment die Gesangsstunde mit „quel ennui“ kommentiert – fast schon eine Art „Konversionstherapie“ der Marquise de Berkenfield für ihre Nichte (in Wirklichkeit Tochter, wie sich herausstellen wird), diesem „Mannsbild“, das sich einen Teufel um gute Manieren schert. Dies ist eine der dramaturgischen Scharnierstellen in Gaetano Donizettis Opéra-comique, eine Passage, die an eine andere Gesangsstunde, die in Rossinis Il barbiere di Siviglia, erinnert, aber eine andere Bedeutung anzunehmen scheint; die nicht nur komisch ist, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, sondern einen bitteren, ja gewalttätigen Beiklang bekommt.
La Fille du régiment, die zumeist je nach Ausrichtung entweder als italienische Opera buffa oder als französische Operette begriffen wird, verbirgt unter ihrer glanzvollen Oberfläche ein durchaus komplexes Geflecht tiefgreifender Identitätsfragen, die bei kritischer Betrachtung der Oper diese gar nicht so leichtgewichtig erscheinen lassen. Heute können wir die Geschichte von Marie, der Adoptivtochter eines Militärregiments, ohne Weiteres als Ausgangspunkt für Überlegungen zu Gender als Konstruktion nehmen, und zwar auch im Hinblick auf die musikalische Sprache.
Judith Butler sagt, dass das Geschlecht performativ ist, in dem Sinne, dass es vom Verhalten bestimmt wird. Nicht, weil wir „so tun“, als wären wir ein Mann, wie eine gespielte Rolle in einer Theateraufführung, sondern weil Gender nicht so sehr eine intrinsische Realität als vielmehr ein „Tun“ ist. Betrachten wir Marie, eine Figur, die dank abenteuerlicher Fügungen den Kontrollfunktionen der institutionellen Mächte entkommen ist. Marie ist aufgewachsen, indem sie jene „manières soldatesques“ entwickelt oder besser „performt“ hat, die dann um jeden Preis korrigiert werden müssen, von Lehrmeistern, die Marie „plus docile“ machen. Diese Art „Taming of the Tomboy“, was ursprünglich der Komik diente, nimmt heute eine ganz andere Bedeutung, eine ganz andere Dimension an.
Die Darstellung von Maries Weiblichkeit ist nonkonform, weil sie mittels einer Reihe von Handlungen und Gesten aus der Welt des Militärs konstruiert ist. Dieser Aspekt zeigt sich auch in der Militärmusik, die Marie beigegeben ist: Donizetti weist der Figur rhythmisierte Melodien mit einer einfachen, aber prägnanten Struktur zu, die an die Kraft und Energie des militärischen Lebens erinnern. Doch dies ist nicht die einzige Konstruktion von Gender in der Partitur (es gibt auch Konstruktionen außermusikalischer Art). Da ist nämlich noch eine zweite, gleichermaßen kodifizierte: die der aristokratischen Welt, in der Marie nach der Entdeckung ihrer wahren Herkunft gewissermaßen gefangen ist. Donizetti betont die Künstlichkeit jener der Protagonistin aufgezwungenen Tiroler Menuette, gegen die sie während der Gesangsstunde rebelliert, indem sie die vertrauten Melodien des Regiments, mit denen sie sich, wie wir heute sagen würden, identifiziert, wieder ins Spiel bringt. Natürlich ist die Militärmusik, von der die Figur der Marie durchdrungen ist, ebenso künstlich wie die aristokratische Musik, doch sie hat Marie ein Leben lang die Möglichkeit geboten, sich in einem männlichen Kontext auszudrücken, der sich von demjenigen unterschied, der ihr von Geburts wegen zugewiesen worden wäre.
Kurzum, die beiden musikalischen „Masken“ der Oper, die aus dem militärischen und dem aristokratischen Makrobereich stammen, können mit dem „Männlichen“ bzw. dem „Weiblichen“ in Verbindung gebracht werden. Und genau in dem Kontrast zwischen diesen beiden Gesangsstilen tritt die spezifische Komik der Fille zutage. Komik, die immer dann entsteht, wenn eine der beiden Dimensionen den Blick auf die andere zulässt, wenn also beispielsweise eine hochrangige Adelige auf dem Schlachtfeld auftaucht oder sich ein Haudegen von Soldat in einem edlen Palast wiederfindet. Es sind vor allem diese „Fenster“, die sich zwischen den beiden Welten öffnen, die einen zum Lachen bringen und eine Reaktion auf die Erstarrung der gesellschaftlichen Konventionen herbeiführen. Donizetti behandelt sie in Form einer Parodie, wie William Ashbrook hervorhebt, und erinnert damit an die alte Vorliebe des Komponisten für diese Art von Situationen, wie er sie schon in Opern wie Il fortunato inganno oder Le convenienze ed inconvenienze teatrali gezeigt hatte.
Marie ist keineswegs das erste Beispiel für eine weibliche Opernfigur, die mit einer anderen Geschlechtsidentität, in männlicher Kleidung oder „en travesti“ dargestellt wird: von der tragischen Figur der Clorinda in Claudio Monteverdis dramatischen Madrigal, die als Ritter verkleidet tapfer gegen Tancredi kämpft, der sie nicht erkennt, über Ludwig van Beethovens Fidelio-Leonore, die sich als Mann ausgibt, um in das Gefängnis einzudringen, in dem ihr Mann Florestan gefangen gehalten wird, bis hin zu den zahllosen Hosenrollen der Barockoper, nicht zu vergessen Cherubino in Wolfgang Amadeus Mozarts Le nozze di Figaro, Oscar in Giuseppe Verdis Un ballo in maschera, Octavian in Richard Strauss’ Der Rosenkavalier usw. Aber der Einsatz von Frauenfiguren, die auf die eine oder andere Weise ihre geschlechtliche Identität hinterfragen, geht auf eine viel ältere Theatertradition zurück, wenn wir an die Commedia dell’arte, an William Shakespeare (Katharina in Der Widerspenstigen Zähmung) oder an Aristophanes’ Frauen in der Volksversammlung denken. Es war das 19. Jahrhundert, das die Geschlechterrollen vor allem im Musiktheater starrer festlegte und die Überschreitungen und Zweideutigkeiten, die frühere Epochen kennzeichneten, einschränkte. In diesem Zusammenhang stellt La Fille du régiment eine wertvolle Ausnahme dar.
Es gibt noch eine weitere Dimension von La Fille, die unter dem Gesichtspunkt der Dramaturgie des Stücks erwähnenswert ist: jene eher sentimentale, die die Dynamik des Stücks bereichert. Szenen wie „Il faut partir“, als Marie sich im ersten Akt von ihrem Regiment verabschiedet, oder „Pour me rapprocher de Marie“, eine Romanze, in der Tonio der Marquise gegenüber seine Liebe zu Marie gesteht, und ganz allgemein alle Momente, in denen die beiden Figuren ihre Gefühle zum Ausdruck bringen, rühren das Publikum nicht nur, sondern verleihen den Figuren jenen Hauch menschlicher Wärme, den die Komik sonst meist zu unterdrücken droht. Sie führen eine Dialektik zwischen Ausdruck und Gefühl, zwischen dem Künstlichen und dem Spontanen ein, die dem Charakter der Oper keineswegs widerspricht, sondern ihm mehr Tiefe verleiht.
Marie und eigentlich auch Tonio, der nur wenig Militärgeist hat, entziehen sich den Konventionen, weil ihre klangliche Identität die gesellschaftlichen Erwartungen unterläuft. Beide Figuren suchen nach einem Weg, ihr Selbstbild zu erforschen, und lehnen dabei alle vorherrschenden, von oben diktierten Interpretationen ab. Auf diese Weise gelingt es dem Werk, vermeintlich frivole Elemente aufzugreifen, sie aufzuwerten und in eine Reflexion über Freiheit zu verwandeln, darüber, wie man das Gewohnte in unerwarteten Formen neu erfinden kann.
Vor dem Hintergrund der heute nicht mehr wegzudenkenden Gender Studies ist die kulturelle Produktion unserer Zeit voll von Beispielen, die sich auf just diese Themen berufen. Eines der erfolgreichsten und gelungensten der letzten Jahre ist zweifellos Greta Gerwigs Barbie, der Film über die berühmte Puppe, der mit der Spielwarenfirma als Koproduzentin entstanden ist. Darin werden – eigentlich gar nicht so überraschend – Überlegungen zu Gender und zur scheinbaren Leichtigkeit der Sprache angestellt, die unweigerlich an Donizettis Opéra-comique erinnern.
Wie Marie rebelliert auch die Barbie des Films gegen ein von außen aufgezwungenes weibliches Ideal, das sich in seiner unerreichbaren Perfektion als künstlich und erdrückend erweist. Beide Protagonistinnen begeben sich auf eine Selbstfindungsreise, auf der sie sich mit der Diskrepanz zwischen ihrem eigenen Wesen und den Erwartungen der Welt an sie auseinandersetzen. Auf dieser Reise kritisieren sie – mehr oder weniger explizit – die gesellschaftlichen Zwänge und zeigen, dass die wahre Freiheit in der Möglichkeit liegt, sich eine eigene Identität jenseits von auferlegten Stereotypen zu erschaffen.
In Barbie gibt der feine Riss in der perfekten Welt Barbieland den Anstoß zur Reise der Puppe von der künstlichen Perfektion zur Selbstentdeckung in der realen Welt, eine starke Metapher für persönliches Wachstum und Selbstbestätigung. In ähnlicher Weise stellt Marie in La Fille du régiment fest, dass die Welt außerhalb ihres idealisierten Regiments viel komplizierter und anspruchsvoller ist: Die Konfrontation mit ihrer Vergangenheit und die Entdeckung ihrer Gefühle zwingen sie zur Auseinandersetzung mit der „normalen“ Gesellschaft, die, als sie von ihrem Sonderstatus erfährt, alles in ihrer Macht Stehende tut, um sie zurückzuholen, zu heilen und ohne viel Aufhebens wieder in die bestehende Ordnung einzugliedern.
In beiden Fällen führt das Ende zu einer neuen Entdeckung, zu einer Authentizität, die sowohl der Gewalt der Unterdrückung als auch der Idealisierung von Scheinwelten entgeht. Aus dieser Perspektive betrachtet, verkörpert Marie den Wunsch, die herkömmlichen Rollenmuster abzustreifen und ihre eigene, nicht mehr durch äußere Erwartungen gefilterte Wahrheit zu entdecken. Sie wird so zu einem Symbol des Widerstands. Diese Botschaft, auf leichte, aber eindringliche Weise vermittelt, macht La Fille du régiment zu einem Werk, das auch heute noch in der Lage ist, Generationen anzusprechen, die mehr denn ja darum ringen, ihre eigene Identität zu definieren.
Der diplomierte Physiker Mattia Palma arbeitet als Journalist, Theater- und Musikkritiker sowie als Dramaturg. Er ist redaktioneller Koordinator von La Scala Magazine, der Monatszeitschrift des Teatro alla Scala in Mailand, und redaktioneller Berater des Museo Teatrale alla Scala, wo er 2021 die digitale Ausstellung Caruso, Corelli und Di Stefano. Miti del canto italiano kuratierte. Gemeinsam mit dem Regisseur Pier Luigi Pizzi erarbeitete er mehrere Ausstellungen über die Geschichte der Scala. Zu seinen Veröffentlichungen gehören Dizionario minimo del gesto. Corpo, movimento, comunità nella danza di Virgilio Sieni und ein Essay in La mia Biennale. Cronaca della rassegna musicale veneziana 1983–1986. Als Dramaturg arbeitete er mit den Regisseuren Gianluca Falaschi und Damiano Michieletto, mit dessen Aida-Inszenierung er sein Debüt an der Bayerischen Staatsoper gab.