Zwischen Genres und Geschlechtern
Inge Stephan
über die Figur der Marie im Kontext der Entstehungszeit
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Inge Stephan
über die Figur der Marie im Kontext der Entstehungszeit
Die 1840 in Paris uraufgeführte Oper La Fille du régiment von Gaetano Donizetti spielt in einer politisch und sozial angespannten und nationalistisch aufgeheizten historischen Epoche, die mit den Lebensdaten des Komponisten eng verbunden ist. Der Verweis auf die historischen Koordinaten soll keiner biographischen Lesart Vorschub leisten, sondern dient der Vergegenwärtigung von Kontexten, von denen her sich die Oper als aktueller Beitrag zu gegenwärtigen Debatten neu entdecken lässt.
Donizetti, der mit Gioachino Rossini und Vincenzo Bellini zu den erfolgreichsten Repräsentanten der italienischen Belcanto-Oper im 19. Jahrhundert zählte, wurde 1797 in Bergamo geboren. Infolge der zahlreichen Grenzverschiebungen, zu denen es aufgrund der Französischen Revolution und der nachfolgenden Koalitionskriege in Europa kam, gehörte das norditalienische Bergamo damals zur Cisalpinischen Republik und war eng mit den Entwicklungen in Frankreich verbunden. Der Staatsstreich von Napoleon 1799, dessen Kaiserkrönung 1804 sowie die anschließenden Eroberungskriege, die 1812 mit dem Russlandfeldzug desaströs endeten, hatten Auswirkungen auch auf die Heimatregion Donizettis. Durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses von 1815, auf dem die Neuordnung Europas nach dem Sieg über Napoleon geregelt wurde, geriet Bergamo nunmehr unter die Herrschaft Österreichs. Als Donizetti in seinem Heimatort 1848 starb, war Bergamo zwar noch immer Teil der Habsburger Monarchie, aber die Revolutionen von 1830 und 1848, die Europa in Aufruhr versetzten, signalisierten deutlich, dass die alten Ordnungen brüchig geworden waren. Dass Bergamo im Verlauf des Risorgimentos – ein Begriff, mit dem die wechselvolle Epoche der italienischen Geschichte zwischen 1815 und 1870 bezeichnet wird – schließlich Teil Italiens wurde, sollte Donizetti aufgrund seines frühen Todes nicht mehr erleben.
So sehr er auch seinem Heimatort, der noch heute mit dem Namen des Komponisten touristisch wirbt, verbunden war, so verstand sich Donizetti doch eher als „Europäer“, für den die Opernhäuser in Neapel, Rom, Mailand und Genua, später auch in Paris und Wien zur eigentlichen Heimat wurden. Von Kollegen wurde das durchaus mit Neid beobachtet. So schrieb Hector Berlioz 1840 – im Jahr der Uraufführung von La Fille du régiment in Paris – im Journal des débats: „Monsieur Donizetti scheint uns wie ein erobertes Land zu behandeln; es ist eine regelrechte Invasion. Man kann nicht länger von den Opernhäusern von Paris sprechen, sondern nur noch von Monsieur Donizettis Opernhäusern.“ Auch in Wien, wo er zum Kammerkapellmeister und Hofkomponisten avancierte, wurde sein unstetes Leben zwischen Italien, Paris und Wien mit Argwohn betrachtet. Im Verständnis der damaligen Zeit galt er als österreichischer Bürger, und durch seine Anstellung bei Hofe war er ein Mitglied des kaiserlichen Haushalts, von dem Präsenz vor Ort erwartet wurde. Sein früher Tod mag auch der Preis sein, den er für sein aufreibendes und kräftezehrendes Leben zwischen Italien, Frankreich und Österreich zahlte.
In die revolutionären Koordinaten seiner Zeit ist Donizetti jedoch noch in einer weiteren Hinsicht eingebunden. Seine Herkunft aus äußerst einfachen Verhältnissen scheint die Überzeugung der Französischen Revolutionäre zu bestätigen, dass nicht Abstammung und Besitz, sondern allein die Leistung eines Menschen zählen. Zwar zeichnete sich die Musikalität des jungen Gaetano schon in der Kindheit ab – auch der ältere Bruder Giuseppe sollte als Militärkapellmeister im fernen Konstantinopel erfolgreich sein –, aber ohne die frühe professionelle Förderung durch den Opernkomponisten Simon Mayr, der als Kapellmeister an der Basilica Santa Maria Maggiore tätig war und eine Musikschule für Knaben aus ärmlichen Verhältnissen in Bergamo gegründet hatte, ist Donizettis nachfolgende steile und vielseitige Karriere als Komponist nicht vorstellbar. Für Donizetti war Mayr wie ein „zweiter Vater“, dem er – wie seinen anderen zahlreichen Lehrern – lebenslang dankbar verbunden blieb. Donizettis Aufstieg ist eine Emanzipationsgeschichte, die durch die Auflösung der starren Ständeordnung in der Revolution und die Verschiebung der nationalen Grenzen durch die Koalitionskriege ohne Zweifel begünstigt wurde, auch wenn für Künstler:innen auch in jenen Zeiten andere Bedingungen galten als für normale Bürger.
La Fille du régiment wurde im Februar 1840 in der berühmten Pariser Opéra-Comique uraufgeführt. Der Aufführungsort ist ebenso bedeutungsvoll wie die Gattungsbezeichnung. Als eine spezielle, ursprünglich populäre Form des Musiktheaters, deren Wurzeln bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen, entwickelte sich die französische Opéra-comique in einer langen, wechselvollen Geschichte zu einer Gattung, die im Verlauf der Französischen Revolution an die Stelle der höfischen Tragödie trat und sich im 19. Jahrhundert als bürgerliche Alternative zwischen der Grand opéra und der neu entstehenden Operette etablierte. Von der Grand opéra unterschied sich die Opéra-comique dadurch, dass sie nicht an die traditionellen fünf Akte gebunden war – La Fille du régiment bestand nur aus zwei und überdies unterschiedlich umfangreichen Teilen –, und dass in ihr die musikalischen Nummern durch gesprochene Dialoge und nicht durch Rezitative verbunden waren. Abgesehen davon orientierte sie sich ausdrücklich an dem hohen musikalischen Anspruch der Grand opéra, um sich von der Operette als angeblich niederer Form abzugrenzen.
Für die Aufführung in Mailand, die noch im Oktober 1840 erfolgte, wurde auf die Schnelle eine italienische Fassung hergestellt, die nicht nur um einige Nummern gekürzt war, sondern in der die Dialoge durch Rezitative ersetzt wurden. Die französische Opéra-comique hatte sich auf diese Weise in eine italienische Opera buffa verwandelt – ein deutlicher Hinweis darauf, dass nationale Konkurrenzen auch auf dem Gebiet der Oper ausgetragen wurden.
Der Ort der Handlung spielt bezeichnenderweise weder in Italien noch in Frankreich, sondern in Tirol, das – hierin ähnlich dem Gebiet um Bergamo, aus dem Donizetti stammte – im Kontext der Koalitionskriege zum Spielball der europäischen Mächte wurde. Eine konkrete Zeitangabe fehlt, was bis heute zur Verwirrung in der Forschung geführt hat, in der sich unterschiedliche Daten finden: Das Jahr 1805, in dem Österreich die Grafschaft Tirol im Pressburger Frieden an das Kurfürstentum Bayern abtreten musste, das damals mit Frankreich verbündet war, ist zu früh, das Jahr 1815, in dem die Verhältnisse auf dem Wiener Kongress neu geordnet wurden und Tirol wieder an Österreich fiel, dagegen zu spät. Die Handlung ist irgendwo zwischen diesen beiden Eckdaten angesiedelt. Offensichtlich kam es den beiden Librettisten und auch dem Komponisten nicht auf eine präzise historische Angabe an, sondern es ging darum, die Verunsicherung und zugleich die Aufbruchstimmung jener Zeit in Szene und Musik zu setzen.
Wie in einem Vexierbild treffen in der Oper „alte“ und „neue“ Ordnungen und unterschiedliche Wertvorstellungen aufeinander: Der abgelebte Adel und der Tiroler Naturbursche, das reizende Findelkind und die väterlichen Soldaten, die doppelte Moral und die tugendhafte Liebe, der Widerspruch zwischen Kalkül und Gefühl sind die zentralen Themen des Librettos. All das kennen wir aus dem bürgerlichen Trauerspiel vor 1789, die neue Mischung und die Verschiebung dieser bekannten Themen in die Opéra-comique machen jedoch den besonderen Charme von Donizettes La Fille du régiment aus. Vor allem Marie, die als Findelkind von den Soldaten liebevoll aufgezogen wird und sich ohne mütterliche Fürsorge zu einer selbstbewussten jungen Frau jenseits gängiger weiblicher Normen entwickelt, ist eine erstaunlich starke Figur.
Im Libretto wird Marie als Marketenderin bezeichnet. Als „Tochter des Regiments“ besitzt sie viele Väter und viele Freiheiten, sie ist Teil der soldatischen Gemeinschaft und befindet sich als Frau zugleich außerhalb der männlichen Ordnung. Als Marketenderin steht sie in einer zwielichtigen literarischen Tradition. In Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Roman Der abenteuerliche Simplicissimus (1668) versorgt die „Courasche“ als Händlerin im Dreißigjährigen Krieg die Truppen mit Lebensmitteln, gerät aber immer wieder in Situationen, in denen sie der Gewalt der Männer ausgesetzt ist und zur Prostitution gezwungen wird. Als „Mutter Courage“ taucht sie in der Brecht’schen Version, die 1938 / 39 im schwedischen Exil entsteht, als Prototyp einer Frau wieder auf, die ihre Geschäfte im Krieg zu machen versucht und dabei ihre drei Kinder verliert.
In der öffentlichen Wahrnehmung verschmelzen Marketenderin und Prostituierte zu einer Person. Das ändert sich erst in der Französischen Revolution, in der die Frauen einen wichtigen Anteil an den revolutionären Umwälzungen gehabt haben. Als sogenannte Amazonen der Revolution kämpften sie an der Seite von Männern an der Verteidigung der bedrohten Republik, organisierten sich in eigenen Frauenklubs und formierten sich als Soldatinnen in eigenen Amazonenlegionen. Dass sie dabei häufig als „Hure“ diffamiert wurden, zeigt, dass kämpferische und selbstbewusste Frauen als Bedrohung der gängigen Geschlechtervorstellungen wahrgenommen wurden.
Die Französische Revolution war – was häufig vergessen wird – zugleich die Geburtsstunde der modernen Frauenbewegung. 1791 verfasste Olympe de Gouges ihre „Erklärung der Rechte der Frau“ als ein radikales und provozierendes Gegenstück zur „Erklärung der Menschenrechte“ und machte damit deutlich, dass diese nur die Rechte des Mannes formuliert hatten. In Artikel 1 heißt es bei Olympe de Gouges programmatisch: „Die Frau wird frei geboren und bleibt dem Mann ebenbürtig in allen Rechten.“ Olympe de Gouges schreckte nicht einmal davor zurück, Robespierre, den sie für einen Verräter der revolutionären Ideale hielt, öffentlich zum Duell zu fordern. Damit überschritt sie entschieden die Grenzen des Möglichen in der damaligen Zeit: 1793 wurde sie durch die Guillotine hingerichtet – als eine „Frau, die vergessen hatte, was sich für ihr Geschlecht ziemt“, wie der Moniteur in Paris damals nicht ohne Häme kommentierte. Tatsächlich war Olympe de Gouges nicht die einzige Frau, die die Postulate der Freiheit und Gleichheit auf die eigene Person und auf die der Frauen insgesamt bezog. Nicht zufällig entsteht Mary Wollstonecrafts einflussreiche Emanzipationsschrift Verteidigung der Rechte der Frauen 1791 / 93 in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Französischen Revolution. Diese ist nicht nur der Kulminationspunkt der bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen, sondern zugleich ein Höhepunkt weiblicher Forderungen nach Freiheit und Selbstbestimmung.
Die muntere Figur der Marie, die weder dem Bild der hurenhaften Marketenderin noch dem der kämpferischen Amazone entspricht, gewinnt vor dem Hintergrund der Emanzipationsbewegung der Frauen in der Französischen Revolution als eine Figur des Dazwischen ihr besonderes Profil, das sich durch die Beschäftigung mit zwei ihrer literarischen und musikalischen „Schwestern“ weiter schärfen lässt.
Es gibt spannende Parallelen und zugleich auffällige Differenzen zwischen Donizettis Marie und zwei anderen weiblichen Figuren, die ähnlich wie die „Fille du régiment“ eng in den militärischen Komplex verstrickt sind. Im Zentrum des vorrevolutionären Dramas Die Soldaten (1776) von Jakob Michael Reinhold Lenz, einem bedeutenden Autor der Sturm-und-Drang-Zeit, steht die junge Bürgerstochter Mariane, die von den adeligen Offizieren zum „Luder“ gemacht wird. Dabei unterläuft der Autor das gängige Bild der tugendhaften Heldin als Opfer zügelloser männlicher Sexualität, wenn er das eigene Begehren von Mariane nach Lust und sozialem Aufstieg thematisiert, ohne dabei jedoch die bestehenden Machtverhältnisse zwischen Adel und Bürgertum, dem Militär und der Zivilbevölkerung, den Männern und den Frauen aus den Augen zu verlieren. Lenz entwirft ein Weiblichkeitsbild, das mit der Aufspaltung der Frau in „Hure“ und „Heilige“ bricht, auch wenn die Offiziere im Drama aus Eigeninteresse an der Vorstellung festhalten, dass „eine Hure [...] immer eine Hure“ sei und nur der Feldprediger des Regiments den vorsichtigen Einwand formuliert, dass eine Frau „niemals eine Hure“ von Natur aus sei, sondern erst durch die Gesellschaft „dazu gemacht“ werde. Wie stark Lenz in diese Debatten verwickelt war, zeigen seine umfänglichen Reformschriften Über die Soldatenehen, in denen der Autor das Sexualitätsverhalten der Soldaten durch Vorschläge zu regulieren versuchte, die zumindest von einer heutigen Perspektive her äußerst bizarr anmuten.
In seiner Zeit fand das Stück kaum Resonanz. Erst im 20. Jahrhundert entfaltete das Drama seine Wirkung. Bernd Alois Zimmermanns Oper Die Soldaten (1965) gab Impulse für eine Wiederentdeckung des historischen Autors und seiner Stücke weit über das Musiktheater hinaus. Musikalisch schloss Zimmermann an Alban Bergs Oper Wozzeck (1925) an, durch die der damals weitgehend vergessene Autor Georg Büchner seine Wiederauferstehung auf der Opernbühne erlebte und als widerständiger Klassiker neu entdeckt wurde.
In Büchners Dramenfragment Woyzeck (1836 / 37) treffen wir auf eine weitere Figur, die eng in die militärischen Strukturen eingebunden ist. Marie lebt mit dem Soldaten Franz und ihrem gemeinsamen, unehelich geborenen Kind in prekären Verhältnissen. Als sie eine Affäre mit dem attraktiven Tambourmajor beginnt, verliert Franz zunehmend die Kontrolle über seine Gefühle und sein Leben. Der Mord an Marie erfolgt am Ende eines Stücks, das keinerlei moralischen Diskurs führt. Auch wenn Franz als gedemütigter Mann im Zentrum der unklaren Szenenfolge steht, so ist Marie doch ebenso ein Opfer der sozialen Misere, der sie beide vergeblich zu entkommen suchen. Als Frau befindet sich Marie in einer zusätzlichen, für sie unauflösbaren Abhängigkeit von Franz, der freilich ebenfalls nur äußerst beschränkte Handlungsmöglichkeiten hat und mit dem Mord an Marie den Menschen tötet, den er am meisten liebt.
Donizettis Marie unterscheidet sich von ihren beiden Vorgängerinnen auf den ersten Blick so sehr, dass die strukturellen Ähnlichkeiten erst bei genauerer Betrachtung plausibel werden. Vor allem die Einbindung aller drei Figuren in das soldatische Milieu und in den Geschlechterdiskurs der Zeit stellt Gemeinsamkeiten her. Bereits von den Namensvarianten sind alle drei Frauen auf ihre Namenspatronin Maria als Vorbild jungfräulicher Mütterlichkeit bezogen. Bezeichnenderweise setzt Donizettis Oper mit einer Anrufung der Madonna ein, bei der die Frauen des Dorfes Schutz vor dem befürchteten Kriegsgeschehen suchen:
Heilige Madonna!
Süße Beschützerin!
Vor deinen Füßen
flehen wir dich an!
Jungfrau Maria,
beschütze uns!
Dass Donizettis Oper ein glückliches Ende für seine Marie und ihren geliebten Tiroler Tonio bereithält, ist nicht nur der Opéra-comique und ihren dramaturgischen Freiheiten geschuldet, sondern hängt auch mit der Konzeption der Titelpartie als mutter- und vaterlosem Findelkind zusammen. Die Soldaten, die das kleine Mädchen aufziehen und es als „Fille du régiment“ adoptieren, bilden mit Marie zusammen einen ungewöhnlichen Familienverband, in dem Tod, Gewalt und Missbrauch utopisch getilgt sind und die Männer sich als die besseren Mütter erweisen. Sie haben Marie liebevoll auf ihrem „Rücken getragen“ und in ihren Rucksäcken hat sie „wie in einer Wiege“ friedlich geschlafen. Für die Soldaten ist sie „die Ehre, die Zierde, die Perle“ ihres Regiments, und Marie ist stolz auf die Männer, die ihr „Vater, Familie und Verwandte“ ersetzt haben. Die Väter sind vor allem von der Schönheit ihrer Tochter entzückt, die ihnen „hübsch wie ein Engel“ erscheint, Marie jedoch ist vor allem stolz auf ihr „Herz eines Soldaten“, von dem sie glaubt, dass sie es von ihren Vätern geerbt hat. In ihrem Selbstverständnis sind amazonische Anklänge unüberhörbar:
Im Kriegslärm
bin ich geboren,
ich liebe den Klang
der Trommel über alles.
Kurzum, ich marschiere
mutig zum Triumph –
Vaterland und Sieg,
das ist meine Losung!
Obgleich sie als Marketenderin an den Kriegshandlungen nicht direkt beteiligt ist, kann sie sich vorstellen, an der Seite ihrer Väter in den Kampf zu ziehen:
Ja, ich glaube, wenn es sein muss
marschierte ich sogar in die Schlacht!
[...]
Ja, ich trotzte den Geschützen
und schlüge mich wie ihr!
Hinzu kommt eine weitere Besonderheit: Marie ist mütterlicherseits von adeliger Herkunft, wie sich im Verlauf der verwickelten Handlung herausstellt. Sie ist ein Kind der Liebe, die in der damaligen Ständegesellschaft verborgen werden muss. Ihre Mutter, die Marquise de Berkenfield, ist eine intime Beziehung zu einem französischen Hauptmann eingegangen, der als Ehemann allerdings nicht standesgemäß für sie ist. Aus Rücksicht auf ihre Herkunft kann sich die Marquise nicht zu der Tochter bekennen, der Vater gibt den Säugling in die Obhut von Sulpice, dem Sergeanten des 21. Regiments, und findet wenig später den Tod auf dem Schlachtfeld. Sulpice erweist sich als eine hervorragende Wahl, er nimmt die Vaterschaft sehr ernst und wird zusammen mit dem ganzen Regiment zur Familie für das verwaiste Kind.
All dies muss sich in den Anfangsjahren der Revolutionszeit zugetragen haben, denn inzwischen ist das Findelkind Marie zu einer jungen Frau geworden, deren erwachende Sexualität die „Väter“ vor Probleme stellt. Sie können sich nur vorstellen, dass die Tochter einen Mann aus ihren Reihen wählt. Marie wird von ihrer Liebe zu dem Tiroler Naturburschen Tonio, der in der Logik des Krieges eigentlich ihr Feind sein müsste, jedoch so überwältigt, dass sie sich in ihrer Zugehörigkeit zum französischen Regiment und zu ihren „Vätern“ verunsichert fühlt:
Ich liebte den Krieg.
Ich hasste unsere Feinde.
Aber nun, aufrichtig gesprochen,
zittre ich für einen von ihnen!
Ebenso überrascht wird sie von der Eröffnung, dass die Marquise ihre Mutter ist. Der Abschied aus dem väterlichen Verband fällt ihr schwer, und die Eingewöhnung in die adelige Umgebung verläuft keineswegs reibungslos, wie die vergeblichen Versuche der marquise zeigen, ihrer burschikosen Tochter „Soldatenreden und -manieren“ abzugewöhnen. Marie gerät in eine emotionale Krise, die sich zum Glück jedoch rasch auflöst. Die standesgemäße Ehe, die die Marquise für ihre Tochter zu arrangieren versucht, wird durch das beherzte Auftreten und entschlossene Eingreifen der Adoptivväter verhindert. Mit den Worten „Wir sind ihre Familie“ ebnen sie den Weg für eine Verbindung zwischen Marie und Tonio, der inzwischen Offizier im Regiment der Väter geworden ist. Die Marquise beugt sich der geballten Übermacht der vielen Väter, überwindet ihren Standesdünkel und setzt der Liebesheirat zwischen Marie und Tonio keinen Widerstand mehr entgegen. Die Oper endet mit einem Lob auf die Liebe und die Freiheit und einem gemeinsamen vielstimmigen „Hurra auf Frankreich“, das bei der Uraufführung in Paris sicherlich freundlich aufgenommen worden ist.
Wohl nicht zufällig wurde La Fille du régiment über Jahre hinweg regelmäßig am 14. Juli, dem Tag der Erstürmung der Bastille, in Paris aufgeführt. Mit seiner Opéra-comique brach Donizetti ironisch mit dem revolutionären und nationalen Pathos der Vergangenheit und bewahrte zugleich die Erinnerung an eine Zeit auf, in der die Überwindung der Grenzen zwischen den Ständen, Geschlechtern und Nationen erstmals als reale politische Möglichkeit aufscheint und Familie und Verwandtschaft neu gedacht werden. Genau diese Erinnerungen machen die Oper von Donizetti auch auf der Handlungs- und Figurenebene für das gegenwärtige Musiktheater zu einer überraschenden und aufregenden Wiederausgrabung.
Dr. Inge Stephan ist Professorin im Ruhestand am Institut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Gastprofessuren führten sie in die USA, nach Japan, China und Afrika. Sie ist Verfasserin zahlreicher Veröffentlichungen zur deutschen Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert sowie zur Frauenforschung, zur feministischen Literaturwissenschaft und zu Geschlechterstudien. Seit ihrer Emeritierung ist sie als freie Autorin im Bereich der Kulturgeschichte der Geschlechter tätig. Zuletzt erschienen von ihr Eisige Helden (2019) und Verweigerte Männlichkeit (2024).