Absurdität der Existenz?

Constantin Floros über György Ligetis Le Grand Macabre

Fotografie: © Jerome Sessini/Magnum Photos / Agentur Focus

György Ligeti, einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, lässt sich als Künstler nicht leicht in eine bestimmte Richtung einordnen. Er selbst verstand sein vielseitiges Schaffen als jenseits von Avantgarde und Postmoderne. Sein Wesen war in erster Linie durch Skeptizismus gekennzeichnet. Er grenzte sich von der Musik des 19. Jahrhunderts insofern kategorisch ab, indem er verkündete: „In meiner Musik gibt es keine Weltanschauung“. Auch bekannte er emphatisch: „Ich glaube nicht an große Ideen, Lehrgebäude, Dogmen …“ Allerdings hatte er zeitlebens ein Faible für das Imaginäre und das Absurde. Ligetis Oper – zwischen 1974 und 1977 entstanden – basiert auf La Balade du Grand Macabre des flämischen Dichters Michel de Ghelderode, einem Theaterstück, das von dem bevorstehenden Weltende und der kreatürlichen Angst des Menschen vor dem Tod handelt. Gleich nachdem Ligeti die Balade kennengelernt hatte, war er von ihr begeistert. „Dieses Stück war“ – so äußerte er sich später – „für meine musikalisch-dramatischen Vorstellungen wie geschaffen: ein Weltuntergang, der dann gar nicht wirklich stattfindet, der Tod als Held, der aber vielleicht nur ein kleiner Gaukler ist, die kaputte und doch glücklich gedeihende, versoffene, verhurte Welt des imaginären Breughellandes.“ Er erkannte freilich sofort, dass Ghelderodes ironisch-pathetische Sprache sich zur Vertonung wenig eignete, und bat deshalb Michael Meschke, den Regisseur und Direktor des Stockholmer Marionettentheaters, ein Libretto nach Art von Alfred Jarry zu verfassen, „ganz knapp, unpsychologisch, wie ein Puppenspiel, ganz direkt, aber doch sinnlich“.

ZUR PHILOSOPHIE DES ABSURDEN

So paradox es auch anmuten mag: Das fundamentale Problem des Menschen, der Tod, ist Ausgangspunkt des absurden Denkens. Wer sich davon leiten lässt, glaubt nicht an den tiefen Sinn der Dinge und hofft nicht auf ein anderes Leben nach dem Tode. Was nach dem Tode kommt, ist ihm belanglos. Deshalb ist ihm die menschliche Existenz eine absolute Absurdität. Absurdes Denken ließe sich in die Parolen fassen, es gebe keinen Gott, keine Transzendenz, kein Jenseits, kein Morgen, keine Wertskala, keine Hoffnung und auch keinen Trost. Nach Albert Camus – dem wichtigsten Vertreter der Philosophie des Absurden – kreist der Mythos von Sisyphos um die fundamentale Entscheidung, ob das Leben sich lohnt oder nicht. „Es gibt“ – so Camus – „nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.“ Camus bezeichnet den mythischen Sisyphos als „Helden“ des Absurden: „Seine Verachtung der Götter, sein Hass gegen den Tod und seine Liebe zum Leben haben ihm die unsagbare Marter aufgewogen, bei der sein ganzes Sein sich abmüht und nichts zustande bringt.“ Camus’ Philosophie des Absurden ist vom Atheismus geprägt. Sie verhält sich absolut konträr zum christlichen Jenseitsglauben, zu dem sich der Philosoph Gabriel Marcel bekennt, und praktisch zu allen klassischen Philosophieversuchen. Manche Anregungen empfing Camus von Friedrich Nietzsche und Fjodor Dostojewski, aber auch von Søren Kierkegaard und seinem Rivalen Jean-Paul Sartre. Camus’ Der Mythos des Sisyphos erschien 1943 während des Zweiten Weltkrieges in französischer Sprache und fand bald große Beachtung. 1957 wurde der inzwischen berühmt gewordene Schriftsteller mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, am 4. Januar 1960 setzte ein tragischer Autounfall seinem Leben ein Ende. Seit den fünfziger Jahren verbreitete sich das absurde Denken schnell und faszinierte viele Literaten, bildende Künstler und manche Musiker. 1952 kam Samuel Becketts Warten auf Godot heraus. Beckett gehört neben Eugène Ionesco und Jean Genet zu den repräsentativsten Vertretern des Absurden Theaters. Dessen wichtigste Prämisse ist der Verlust aller endgültigen Gewissheiten.

KATEGORIEN DES ABSURDEN „WELTTHEATERS“

Ohne zu übertreiben, könnte man die Oper als „verrücktes Welttheater“ bezeichnen. Vertieft man sich in die Struktur des Stückes, so kristallisieren sich vor allem fünf Kategorien des Absurden heraus: das Widersinnige / Verrückte / Paradoxe; das Doppelbödige; das Tragikomische; das Groteske; die Ironisierung. Der absurd denkende Mensch ist überzeugt von der Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins und der Unzulänglichkeit rationaler Anschauungsformen. In seinem Essay über Franz Kafka schreibt Eugène Ionesco: „Wird der Mensch losgelöst von seinen religiösen, metaphysischen oder transzendentalen Wurzeln, so ist er verloren. All sein Tun wird sinnlos, absurd, unnütz, erstickt im Keim.“ (Martin Esslin, Das Theater des Absurden) Ausgangspunkt der bedeutendsten Existenzphilosophen ist das Irrationale. Das Absurde wird zur Chiffre des Irrationalen, an dem alle idealistischen Systeme scheitern müssen. In Ligetis Oper besteht das Widersinnige darin, dass Nekrotzar, der nach Breughelland mit der Absicht kam, mit Hilfe eines Kometen das ganze Volk und damit auch die Welt auszulöschen, zuletzt aus Gram stirbt, sein heiliges Ziel verfehlt zu haben. In einer Regieanweisung heißt es ausdrücklich: „Nachdem die Sonne langsam aufgegangen ist, steht er eine Weile bewegungslos, dann beginnt er zu schrumpfen, fällt zusammen, wird immer kleiner, wird zu einer Art Kugel, schrumpft weiter und verschwindet schließlich: er wird eins mit dem Erdboden.“ Die verrückte Welt, in der Le Grand Macabre spielt, kann sich nur in einer verrückten Klangwelt widerspiegeln. Folgerichtig bediente sich Ligeti eines „regelwidrigen“ Instrumentariums. Die apokalyptische Basstrompete, die dem Nekrotzar zugeordnet ist, ist nur eines der vielen außergewöhnlichen Instrumente, die die Partitur vorschreibt: Mundharmonikas, Sirenen, Autohupen, verschiedene Lotus-, Signal- und Trillerpfeifen und viele Blechbläser, oft in extremen Registern. Das Vorspiel zum ersten Bild hat die Monteverdi’sche Toccata zum Vorbild. Doch anstelle von Trompeten, Clarinen und Posaunen spielen zwölf Autohupen. Ligeti darüber: „Der denaturierte, erstickende, ungelenke Klang der Autohupen – eine Art Blechbläser, die aber nicht richtig funktionieren – signalisiert die kaputte Welt von Breughelland.“ Als eines der tragenden Prinzipien des Werkes erweist sich die Verfremdung. Falsches Latein, falsche Reime, aus dem Zusammenhang gerissene Zitate, Pseudozitate, Verdrehungen und Verballhornungen sind an der Tagesordnung. Bei seinem dritten Auftritt paraphrasiert Nekrotzar das Dies irae und zitiert falsch Stellen aus der Offenbarung. Bekanntes wird verzerrt, erscheint in ironischer Brechung. Die Musik übernimmt vielfach die Funktion zu ironisieren, zu parodieren und travestieren.

DER FADENSCHEINIGE NEKROTZAR

Von Ghelderode wird behauptet, er entführe uns in eine Scheinwelt, ins Unwirkliche; jenseits von Normalität und kausaler Logik. Seine Domäne ist das Doppelbödige. Nekrotzar – der große Makabre – ist bei Ghelderode „riesenlang, klapperdürr“ und hat „tiefliegende, stechende Augen“. In Ligetis Oper erhielt er wesentlich dämonischere Züge. „Nekrotzar ist“ – so lautet eine wichtige Regieanweisung – „als Tod kostümiert. Sein Kopf kann ein Totenkopf, sein Körper ein Skelett sein. Die Kostümierung und Maskierung soll aber auch etwas Doppelbödiges, Fadenscheiniges einbeziehen; es soll der zwiespältige Eindruck entstehen, Nekrotzar könnte der Tod sein, oder vielleicht auch nur ein Gaukler, der vorgibt, er sei der Tod. Da es sich am Ende der Oper herausstellt, dass Nekrotzar tatsächlich der Tod ist, soll der Charakter ‚Tod‘ überwiegen. Das Gauklerhafte, das ,Falscher Messias‘-hafte soll nur unterschwellig mitspielen.“ Nekrotzar ist eine sinistre, zwielichtige, demagogische Figur mit unerschütterlichem Sendungsbewusstsein. Er behauptet, der Tod selbst zu sein. Zwar zieht er in finsterem, großartigem Pomp in einen fürstlichen Palast ein und verkündet dort siegessicher seine apokalyptischen Drohungen. Doch gerät er in den Sog des allzu irdischen Treibens der Breughelländer und wird vom Hofastrologen und von dessen Zechkumpan Piet vom Fass dermaßen unter Alkoholeinwirkung gesetzt, dass er, als es Mitternacht läutet, so berauscht ist, dass seine erhaben-pathetische Geste, mit der er das Ende der Welt vermeldet, wirkungslos verpufft. In ihrem Rausch wähnen sich die Bewohner Breughellands schon im Himmel, doch allmählich stellt sich heraus, dass sich im Himmel alles genauso zuträgt wie auf Erden. Alle sind noch am Leben, allein Nekrotzar, der Große Makabre, stirbt.

ÜBERWINDUNG DER ANGST DURCH VERFREMDUNG

Wiederholt äußerte Ligeti, seine Absicht sei gewesen, die existentielle Angst des Menschen zu verfremden. Als geeignetstes Mittel dazu diente ihm die Ironisierung. Fast alles in der Oper wird persifliert. Sowohl die verschiedenen Formen der Liebe als auch die Laster und Beziehungen der Menschen, ja, selbst der Tod. Im ersten Bild wird zuvörderst die Liebesbeziehung zwischen Amando und Amanda ironisiert – die Liebe wird ausschließlich auf das Sexuelle reduziert. Bezeichnenderweise tragen die Liebenden im Meschkes ursprünglichem Libretto die „sprechenden“ Namen Clitoria und Spermando. Im zweiten Bild (der sadomasochistischen Szene zwischen Astradamors und Mescalina) wird eine bestimmte Form der Geschlechterbeziehung drastisch persifliert – dabei steigern sich das Grobe, Derbe, Ordinäre und Obszöne bis zum beinahe Ekelhaften. Mescalina steht für die animalische Natur des Menschen und für menschliche Grausamkeit. Im dritten Bild werden der totalitäre Staat und das Staatswesen, der kindische Potentat, die korrupten Funktionäre des Staates und deren Steuerpolitik travestiert. In den Prozess der Ironisierung wird auch der Tod einbezogen. Man muss zugeben, dass er in der endgültigen Fassung des Stückes vielfach mit dämonischen Zügen ausgestattet ist. Doch erliegt er dem Rausch und kann sein Vernichtungswerk nicht vollbringen. Der gefürchtete Weltuntergang bleibt aus. Nahezu alles bleibt im Schlussbild in der Schwebe. Ein totaler Illusionismus beherrscht die Szene. Offen bleibt am Ende, ob die Brueghelländer sich im Himmel oder auf Erden befinden, ob schon das ewige Leben anbrach oder ihnen der Tod noch bevorsteht. Amando und Amanda erläutern ihren Begriff von Ewigkeit so: Nämlich das Beste, was es gibt, ist, wenn man sich ausführlich liebt. Wenn man das tut, dann steht die Zeit still, es gibt nur Ewigkeit. Die vorliegenden Ausführungen wollen nicht als ein Plädoyer für die Philosophie des Absurden verstanden werden, sondern lediglich als ein Bericht über ein tief bewegendes Thema. Die Sinnfrage ist allerdings eine Lebensfrage. Deshalb fordert uns die Philosophie des Absurden zu einer persönlichen Stellungnahme heraus, sei es im Sinne einer Zustimmung, sei es im Sinne einer totalen Ablehnung.

Wie gefällt Ihnen der Artikel?

282 Reaktionen

Constantin Floros

Constantin Floros, geboren 1930 in Saloniki, darf als der Nestor der Ligeti-Forschung gelten. Er studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Philosophie und Psychologie in Wien. 1955 Promotion, 1961 Habilitation. Von 1967 bis 1995 war er Professor für Musikwissenschaft an der Universität Hamburg mit Schwerpunkt Musik des Mittelalters und des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Eine umfangreiche Vortragstätigkeit führte ihn zu bedeutenden internationalen Musiksymposien. Neben diversen Studien zu Ligeti, darunter das Referenzwerk Jenseits von Avantgarde und Postmoderne (1996), liegen die Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Publikationen auf Schriften zu Mozart, Bruckner, Mahler, Brahms und Berg.

LE GRAND MACABRE

Oper in zwei Akten (1978)