Die ganze Tragikomödie des Lebens

Roland Beyen über Michel de Ghelderodes Balade du Grand Macabre

Es ist nur wenig bekannt, was Le Grand Macabre, so der französische Titel, den der ungarische Komponist György Ligeti seiner „Anti-Anti-Oper“ gegeben hat, der Balade du Grand Macabre des belgischen Theaterautors Michel de Ghelderode (1898–1962) verdankt. Offenkundig ist es unmöglich, eine Oper mit einem Schauspiel zu vergleichen. Ich beschränke mich hier auf einige historische Hinweise, um die Umstände zu beleuchten, unter denen dieses wichtige Theaterstück des vergangenen Jahrhunderts entstanden ist, und ich skizziere kurz die Beweggründe, die den ungarischen Komponisten dazu bewogen haben, eine Oper daraus zu machen.

Als Theaterautor debütierte Ghelderode 1920 mit kleineren Stücken (Oude Piet, Les Vieillards, Le Cavalier Bizarre), die an die frühen Schauspiele von Maurice Maeterlinck erinnerten, sich davon aber durch ihren burlesken, ja sardonischen Charakter unterschieden. Es folgte eine experimentelle Phase (La Mort du Docteur Faust, Don Juan), die zunächst unterbrochen und dann gestoppt wurde von dem, was der Autor als „großartiges Abenteuer“ des Flämischen Volkstheaters (Vlaamsche Volkstooneel) bezeichnete. Diese Wandertruppe, zugleich volksnah und avantgardistisch, hatte 1927 sowohl Christophe Colomb als auch Escurial aus praktischen Gründen abgelehnt, führte aber zwischen 1927 und 1930 Images de la vie de Saint François d’Assise, Barabbas und Pantagleize mit großem Erfolg in Brüssel und an einigen anderen Orten in Flandern auf. Nach der Auflösung des Flämischen Volkstheaters im April 1932 erlebte dessen „Hausautor“ einige Monate künstlerischer Ödnis, bis zu dem Tag, an dem James Ensor ihm in der Ghelderode gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift La Nervie vom 4. März 1933 einen beeindruckenden Artikel widmete, mit dem Titel Pour Michel de Ghelderode. Hommage du Peintre des Masques et de la Mer (Für Michel de Ghelderode. Eine Hommage des Malers der Masken und des Meeres). Um sich zu bedanken, begann der Autor am 13. März eine leidenschaftliche Eloge auf James den Ostender, doch Anfang Mai gab er diese „poetische Prosa“ auf, zugunsten des erstaunlichen „Militärepos für Marionetten“ Le Siège d’Ostende (Die Belagerung von Ostende). Die Niederschrift dieses urkomischen, absurden Stückes weckte in ihm das Bedürfnis, für das Theater zu schreiben und läutete eine kurze Phase hoher Kreativität ein, die von einem halben Dutzend Meisterwerken geprägt war: La Balade du Grand MacabreMademoiselle Jaïre, Sortie de l’Acteur, La Farce des Ténébreux, Hop Signor ! und schließlich, 1936–37 die Fastes d’Enfer (Ausgeburten der Hölle), die am Théâtre Marigny eine Welle der Begeisterung für das Werk Ghelderodes auslösten. La Balade du Grand Macabre wurde in wenigen Wochen verfasst, zwischen Ende Juli und Ende September 1934, in Rekordzeit also, da der Autor in Bestform war und weil diese „Farce für Rhetoriker“ die Weiterentwicklung eines Marionettenspiels mit dem Titel La Farce du la Mort qui faillit trépasser (dt. in etwa „Der Tod, der beinahe entschlafen wäre“) darstellte, das angeblich bereits 1919 in den Marolles, einem Stadtviertel von Brüssel, gespielt wurde, tatsächlich aber wohl erst 1924 entstanden war. Anfang 1925 zeigte Ghelderode dieses Projekt einem flämischen Freund, Jef Vervaecke, der von Marionetten ganz besessen und verantwortlich für die Aufführungen der Vorstellungen des Vlaamse Volkstooneel in Brüssel war. Vervaecke schlägt vor, La Farce de la Mort qui faillit trépasser für das Sprechtheater zu adaptieren. Im Juni wird das Stück unter dem flämischen Titel Van den Dood die bijna stierf und unter Nennung der Autoren Jef Vervaecke und Michel de Ghelderode veröffentlicht und schließlich im November desselben Jahres in der Regie des holländischen Meisterregisseurs des Volkstooneel uraufgeführt. Zehn Jahre später führt Ghelderode die Farce de la Mort in der Balade du Grand Macabre weiter, die aus diesem Grunde in der Erstausgabe auf „1924–1934“ datiert ist. Es ist unglaublich, wie es Ghelderode gelungen ist, ein zunächst in der Folklore angesiedeltes Thema innerhalb weniger Wochen in ein Werk wie die Balade du Grand Macabre zu verwandeln. Ohne seine Wurzeln aus dem Geist des Volks- und Marionettentheaters zu verleugnen, spricht das Stück viele Theaterleute durch seinen gedanklichen Reichtum an, bis hin zu einem der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Wir werden sehen, auf welchen Wegen dieses Stück von 1934 vierzig Jahre später zu György Ligeti gelangte.

GALOPPIERENDE GHELDERODITIS

Erstmals erschien das Stück am 15. Dezember 1935. Bei der Publikation der ersten kommerziellen Ausgabe, 1943, war die Balade noch immer nicht aufgeführt worden. Ohne großes Aufsehen kam es im Februar 1953 am Théâtre de la Comédie in Lyon des damals noch weitgehend unbekannten Roger Planchon zur Uraufführung. Sechs Monate später, am 8. Oktober, fand die Pariser Erstaufführung im Studio des Champs-Elysées statt. Ghelderode weigerte sich zu kommen: Er hatte sich sehr über den Stücktitel La Grande Kermesse geärgert. Der Regisseur René Dupuy hatte ihn aus Furcht, der „Makabre“ könne das Publikum verschrecken, abgeändert. Dabei handelte es sich um die zugänglichste Farce, die Ghelderode je geschrieben hat. Der Autor gab schließlich nach, da er einsah, dass diese Uraufführung, die nur um fünf Tage derjenigen von L’École des Bouffons vorausging, den Höhepunkt einer Entwicklung darstellte, die man als „galoppierende Ghelderoditis“ bezeichnete. Von Paris aus eroberte Ghelderodes Theater Belgien und einige andere Länder, wo der Name des Autors sofort in einem Atemzug mit Ionesco, Beckett, Genet und Adamov genannt wurde. Ligeti erzählte in einem 1978 erschienen Artikel, dass er die Balade 1972 während einer Arbeitssitzung mit dem Direktor des Stockholmer Marionettentheaters Michael Meschke, der deutschen Bühnenbildnerin Aliute Meczies und dem schwedischen Musikwissenschaftler Ove Nordwall entdeckte. Die Bühnenbildnerin hatte ihn auf eine 1966 auf Deutsch erschienene Anthologie des Absurden Theaters hingewiesen. Ligeti fand sofort Gefallen an der an François Rabelais angelehnten Sprache, die sich „perfekt für das Sprechtheater eignete“, aber er hielt sie für „zu reichhaltig, zu blumig“, um vertont zu werden, und der Text erschien ihm zu lang für ein Opernlibretto. Ohne La Farce du Mort qui faillit trépasser zu kennen, erahnte er die Herkunft des Stückes aus dem Marionettentheater. Daher bat er Michael Meschke um die Umarbeitung zum Libretto. 1973 erhielt er ein Libretto, dessen Handlungsverlauf sich eng an Ghelderode anlehnte, wohingegen die Sprache an Alfred Jarry erinnerte, „sehr intensiv, konzis und direkt“. Während der Kompositionsphase zwischen Dezember 1974 und Ende April 1976 fügte Ligeti der „jarrifiyzierten“ Version Meschkes immer wieder textliche Änderungen hinzu, da seine Musik schlichte Reime und einen leichtverständlichen Text wie in einem Comicstrip brauchte, voller Wortspiele, Kraftausdrücke, Schimpfwörter und Lautmalereien.

DIE LOGIK DER OPER

Le Grand Macabre erlebte seine Uraufführung am 12. April 1978 in Stockholm, auf Schwedisch, und wurde am 15. Oktober desselben Jahres in Hamburg auf Deutsch gespielt. Bis Februar 1997 gab es ein gutes Dutzend Neuproduktionen dieser Fassung, außer auf Deutsch auch auf Italienisch, Französisch und Englisch, und beinahe jedes Mal wurde sie leicht überarbeitet. 1996 widmete Ligeti gut zehn Monate einer Neufassung, auf Englisch, die dann bei den Salzburger Festspielen 1997 herauskam. Der Komponist hat seine Musik leichter spielbar gemacht und vor allem die „utopischen Passagen“ überarbeitet. Außerdem hat er etliche Dialoge in Musik gesetzt. Die Handlung der Oper unterscheidet sich nicht sehr vom Schauspiel. Eine entscheidende Veränderung erfolgt im dritten Bild (Bild 3 und 4 bei Ghelderode, also der gesamte zweite Akt des Schauspiels): Der buntgefiederte Vogel, der Prinz Goulave verkündet, dass dem Volk im Zuge des Auftauchens eines Kometen angst und bange ist, wird durch das Erscheinen des Chefs der Geheimen Politischen Polizei (Gepopo) ersetzt, der Fürst Go-Go über das Herannahen der Menge informiert. Erst im vierten Bild aber (bei Ghelderode Bild 5 und 6, also sein dritter Akt) wird der Text drastisch beschnitten und der atmosphärische Gehalt verändert. Indem er die überbordende Prosa Ghelderodes von ihren literarischen Anspielungen befreit und sie in schlichte Verse übersetzt, gelingt es Ligeti, das Textvolumen auf etwa ein Fünftel zu straffen, einige Passagen sogar auf ein Zehntel. Aber er bewahrt stets den Handlungsverlauf und den Sinn. Ligeti folgt Ghelderode, was das Sujet und den Handlungsverlauf angeht, aber er entwickelt die Doppelbödigkeit der Protagonisten nicht weiter. Er ersetzte die Oden auf die Freiheit, auf die Freundschaft (unter Männern) und auf das Verlangen nach einem natürlichen und friedfertigen Leben im jeweiligen Geburtsland durch eine kurze, aber mitreißende Eloge auf eine Existenz im „hic et nunc“, die ganz dem Vergnügen gewidmet ist. Er empfand das Ende der Balade du Grand Macabre als den Schwachpunkt eines „insgesamt genialen Stücks“. Die Erläuterungen, die der Theaterautor lieferte, hätten seinen Schluss zu lang und zu kompliziert gemacht, um daraus Gesangslinien zu formen. Die Logik der Oper ist eine andere als die des Schauspiels. Die meisten Verweise Ligetis auf Breughel stammen aus der Vorlage von Ghelderode, der Breughel als seinen „Vater“ bezeichnete und der vor allen anderen auf Breughel und Bosch zurückgriff, um das Theater zu erneuern, was ihm die Titel „Der Breughel des Theaters“ und „Der theatrale Bosch“ einbrachte. Auf die Frage, was zu seinen stärksten Einflüssen zähle, erwiderte er bereits 1936: „Bedenken Sie, dass ich vor allem von der Malerei beeinflusst wurde, erst in zweiter Linie von der Musik. Ich habe wenig gelesen, viel angesehen, viel gehört. Die Kunst habe ich über die Augen aufgenommen, nicht über den Verstand. Hieronymus Bosch, Breughel, das waren meine Meister; das gesamte Theater liegt in ihnen, die ganze Tragikomödie des Lebens spielt sich auf ihren Gemälden ab, mit all ihren metaphysischen Ursachen und Folgen. In einem Brief vom 4. Februar 1961 an Gérard Noël von Radio-Hainaut nannte er Bosch „den größten Theatermann, den das Abendland gesehen hat“.

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Roland Beyen

Im Schaffen des belgischen Romanisten Roland Beyen (geb. 1935) ist das Werk des Theaterdichters Michel de Ghelderode von zentraler Bedeutung. Seit seiner Studie Michel de Ghelderode ou la hantise du masque (1971) liegt der Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit auf dem Werk des flämischen Autors, der auf Französisch schrieb und nach einer kurzen Periode des europaweiten Erfolgs wieder weitgehend in Vergessenheit geriet. Beyen wirkte u. a. als Professor an der Katholieke Universiteit Leuven und ist Mitglied der Académie Royale de langue et littérature françaises de Belgique.

LE GRAND MACABRE

Oper in zwei Akten (1978)