„Es wird eine Oper, du wirst in Tränen ausbrechen!“
Francis Maes über die musikalisch-textliche Faktur der Oper Pique Dame
Fotografie: Yannick Schuette / Connected Archives
Francis Maes über die musikalisch-textliche Faktur der Oper Pique Dame
Fotografie: Yannick Schuette / Connected Archives
Alexander Puschkin hat bekanntlich die russische Literatur auf ein neues Niveau gehoben. Mit seinem breitgefächerten Œuvre erwies er sich als den großen Schriftstellern Westeuropas ebenbürtig. Auch russische Künstler anderer Disziplinen nahmen ihn sich zum Vorbild. Sein Werk gab wichtige Impulse für die Entwicklung einer russischen Operntradition. Die Komponisten der Pioniergeneration – Michail Glinka, Alexander Dargomischski, Modest Mussorgski – entlehnten seinen Werken Themen und Ideen. Von Ruslan und Ljudmila über
Boris Godunow bis zu Igor Strawinskis Mawra ist Puschkin in der russischen Oper sehr präsent. Von Pjotr Tschaikowskis drei auf Puschkin-Vorlagen basierenden Opern steht Eugen Onegin der literarischen Vorlage, Puschkins gleichnamigem Versroman, am nächsten. Etliche Literaturkritiker:innen haben sich abfällig über die Oper geäußert und Tschaikowski bezichtigt, sich nicht an Puschkins Original gehalten zu haben. Vladimir Nabokov übertraf alle anderen in seiner Verachtung der Oper, die er rundweg als Beleidigung von Puschkins Meisterwerk empfand. Die Vorbehalte der Literaturkritik sind insofern verständlich, als es nahezu unmöglich ist, Puschkins außergewöhnliche Erzählweise ohne beträchtliche Einbußen auf ein anderes Medium zu übertragen. In Eugen Onegin hält Puschkin die Handlung bewusst einfach, um sich umso mehr auf die Form des Erzählens zu konzentrieren.
Auf die Essenz der Geschichte reduziert, bleibt nur eine minimale Handlung übrig. Dennoch wahrt Tschaikowski auf seine Weise dem Original die Treue. Ins Libretto ist viel von dem ursprünglichen Text übernommen worden. Die Situationen, die in der Oper dargestellt werden, finden sich auch in Puschkins Original oder sind leicht erweitert. Tschaikowski besorgte wahrscheinlich die Umarbeitung von Eugen Onegin selbst, während er zugleich die musikalische Form für Puschkins Szenen ausarbeitete. Konstantin Schilowski wird als Co-Librettist
genannt, spielte aber vermutlich keine große Rolle. Für Mazeppa und Pique Dame verwendete er ein bereits bestehendes Libretto von einem professionellen Textdichter: Victor Burenin bei Mazeppa, Modest Tschaikowski bei Pique Dame. Beide Libretti waren nicht für ihn geschrieben worden. Mazeppa war für Karl Dawidow gedacht, Pique Dame für Nikolai Klenowski.
Anders als Tschaikowski bei Eugen Onegin fügten beide Librettisten Puschkins Original Erweiterungen hinzu. Burenin erfand einen Handlungsstrang unerwiderter romantischer Liebe, das auf einem Detail in Puschkins Versepos Poltawa basiert. Die Anpassungen und Ergänzungen zu Puschkins Erzählung Pique Dame gehen sogar noch weiter.
Modest Tschaikowski bastelte an fast allem herum: an der Zeit, in der die Handlung spielt, an den sozialen Beziehungen der Figuren, der Intensität des Dramas und der psychologischen Tiefenschärfe. Die Novelle Pique Dame (1813) bietet wenig Handlung für eine abendfüllende Oper. Es konnte damit gerechnet werden, dass Modest Tschaikowski die Erzählung anreichern würde. Wie er diese Aufgabe ausfüllte, hatte beträchtliche Auswirkungen auf die Form und den Charakter der Oper, die Pjotr Tschaikowski schließlich schreiben würde. Modest verlegte die Handlung ins achtzehnte Jahrhundert. Puschkins Erzählung spielt im frühen neunzehnten Jahrhundert.
Modest entschied sich für die Epoche von Katharina der Großen. Dadurch ergab sich die Möglichkeit, Texte russischer Autoren jener Zeit einzubauen. Sein Libretto bietet eine kleine Anthologie von Dichtern des achtzehnten Jahrhunderts und auch des frühen neunzehnten Jahrhunderts.
Der Tribut an die Kultur des achtzehnten Jahrhunderts war ein Erfolgsrezept des Kaiserlichen Theaters unter Intendant Iwan Wsewoloschski. Er war ein glühender Verehrer der französischen Kultur und liebte es, seine Produktionen mit Bezügen auf die glorreichen Tage von Versailles zu überladen. Die frankophile Mode, die er initiierte, beinhaltete eine implizite politische Botschaft. Indem er der prachtvollsten Ausprägung der absoluten Monarchie Zoll zahlte, ließ er zugleich die autokratische Regierung des Zaren hochleben. Selbst Katharina die Große tritt in der Oper persönlich auf. Am Ende der Ballszene wird ihr Erscheinen an der Seite des französischen Botschafters angekündigt. Dass sie den Saal nicht betritt, bevor der Vorhang fällt, ist der russischen Zensur jener Tage geschuldet. Sie ließ nicht zu, dass eine historisch verbürgte Zarenfigur in einer Oper auftrat. Katharina die Große wird daher durch eine Polonaise versinnbildlicht, die Osip Koslowski 1791 schrieb, um ihren Sieg im russisch-türkischen Krieg zu feiern. Pjotr Tschaikowski fand Gefallen an der Verlegung der Handlung ins achtzehnte Jahrhundert, nachdem nun klar geworden war, dass Klenowski die Oper nicht komponieren würde. Die Liebe zu den musikalischen Formen und Stilen des achtzehnten
Jahrhunderts durchzieht Tschaikowskis gesamtes Œuvre, von den Variationen über ein Rokoko-Thema bis zu Mozartiana. Diese Liebe gründete auf seiner grenzenlosen Verehrung für Wolfgang Amadeus Mozart.
Das Schäferspiel in der Ballszene bot ihm Gelegenheit für einen Tribut an den Wiener Meister. Die Übertragung ins 18. Jahrhundert stellt dabei nur die Oberfläche von Modests Adaption dar.
Seine Eingriffe in die Psyche und die gesellschaftliche Situation der Figuren sind viel entscheidender. Der Charakter Lisas wandelte sich von einem armen Mündel der Gräfin zu deren vermögender Enkelin. Die ursprüngliche Lisa hatte weder das Geld noch den Bildungshintergrund, um sie für einen Freier interessant zu machen. Sie war eher eine Gesellschafterin der alten Dame. Puschkin bezeichnet sie als tief unglückliches Geschöpf. In der Oper ist Lisa eine gute Partie für die höchsten Kreise. So begegnen wir ihr auch als Verlobte eines prominenten Aristokraten, Fürst Jelezki. Hermann steht also nicht nur die Herkunft Lisas im Weg. Obendrein hat er auch noch einen Rivalen. Wie in der Erzählung Puschkins überschneiden sich Hermanns Obsession für das Kartenspiel mit der für Lisa. In der Erzählung wird die Besessenheit für das Spiel als erstes erwähnt. Hermann benutzt Lisa vor allem, um Zugang zur Gräfin zu bekommen. Die Oper dagegen beginnt mit Hermanns Leidenschaft für Lisa. Die Obsession für die drei Karten setzt sich erst später in seinem Hirn fest. Wie in Puschkins Erzählung gewinnt das Verlangen, unbedingt spielen zu müssen und reich zu werden, schließlich die Oberhand.
Im Januar 1890 nahm Tschaikowski das Libretto mit nach Florenz. Er wollte sich dorthin zurückziehen, um eine neue Oper für die kommende Saison zu schreiben. Modests Diener Nazar Litrow begleitete ihn. Wir verdanken ihm anschauliche Zeugnisse während der Kompositionsphase. Nazar war insbesondere von der Arbeitsdisziplin Tschaikowskis beeindruckt:
„Ich kam um sieben Uhr ins Zimmer. Pjotr Iljitsch war noch nicht fertig. Ich sagte ,Zeit, Schluss zu machen.‘ Er antwortete sofort, hörte aber nicht auf, kleine Fähnchen zu zeichnen. ,Jawohl.‘ Ich sagte: ,Es ist gleich sieben Uhr.‘ ,Komme‘, erwiderte er, brachte ein weiteres kleines Fähnchen zu Papier, und schlug mit der Hand auf den Klavierdeckel. Ich stand regungslos da. Er zog seine Uhr aus der Tasche und klappte sie auf. ,Es ist erst zwanzig vor, da kann ich noch zehn Minuten arbeiten.‘ Ich erwiderte etwas, und er sagte: ,Lass mich noch zehn Minuten arbeiten.‘ Ich ging hinaus. Nach zehn Minuten kam er heraus. ,So, jetzt bin ich fertig‘, sagt er und fragte mich nach meinem Tag. Zum ersten Mal hörte ich Pjotr Iljitsch voller Überschwang über seine künftige Komposition sprechen.
,Es wird eine Oper, gebe Gott, dass sie so gut wird, dass du in Tränen ausbrichst, Nazar.‘“
Es wird eine Oper, gebe Gott, dass sie so gut wird, dass du in Tränen ausbrichst
Tschaikowski komponierte die Oper in 44 Tagen. Für die Orchestrierung brauchte er etwas mehr als zwei Monate. Im Juni 1890 war die Oper fertig. Am 7. Dezember 1890 wurde Pique Dame am Mariinski-Theater in Sankt Petersburg uraufgeführt. Eduard Nápravník dirigierte, Nikolai und Medea Figner sangen die Hauptrollen Hermann und Lisa.
Die Verlegung der Handlung ins 18. Jahrhundert trug zweifellos dazu bei, dass Tschaikowski sich zu dem Stoff hingezogen fühlte. Ein weiterer Grund war die Möglichkeit, die Psychologie und die sozialen Beziehungen, die in Eugen Onegin angelegt waren, weiter vertiefen zu können. Ein Vergleich der Handlung der beiden Stücke bringt Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen ihnen zutage.
Der Unterschied findet sich in der besonderen Intensität des Dramas in Pique Dame, dort wo es an das Phantastische grenzt. In Eugen Onegin bleibt der Konflikt strikt innerhalb der menschlichen Grenzen. Tatjana und Onegin haben zwar ihren eigenen spezifischen Charakter, aber es sind ganz normale Leute. Keiner der beiden Liebenden stirbt. Tatjana verlässt Onegin. Er ist in jenem Augenblick am Boden zerstört, aber sein Schicksal nach dem Ende der Oper bleibt unklar. Pique Dame dagegen endet mit dem doppelten Selbstmord der beiden Liebenden.
In Eugen Onegin ist es die Idealvorstellung von Liebe, die Tatjanas Handlungen beeinflusst. Wie ihr Gegenstück bei Puschkin konstruiert sie ihr Weltbild auf Basis der Lektüre romantischer Romane. Liebe ist für sie das höchste Gut, und dieses Ideal überträgt sie auf Onegin, als sie ihm begegnet. Sie erleidet eine Enttäuschung. Onegin erweist sich als bindungsunfähiger Mann ohne Verantwortungsbewusstsein. Tatjana zieht ihre Schlüsse daraus. Sie versucht, sich mit der Realität zu versöhnen, indem sie eine Vernunftehe eingeht.
So wird sie zu einer allseits respektierten Fürstin, die sich die Bewunderung der höchsten Adelskreise erwirbt. Ihre neue Rolle macht sie wiederum für Onegin attraktiv. Tatjana bringt ihn wieder zurück in die Realität.
In Pique Dame sind die Einsätze bedeutend höher. Für Tatjana war die Auseinandersetzung mit dem romantischen Ideal eine Phase ihrer inneren Entwicklung. Für Hermann ist es eine Besessenheit. Seine Leidenschaft für die schöne Unbekannte, die seine Seele berührt hat, ist absolut. Sein unbeirrbares Streben nach seinem Ideal stellt seine Obsession außerhalb der Realität. Er akzeptiert keinen Kompromiss mit der sozialen Welt in der Form, wie sie existiert. Als er erkennen muss, dass sein Objekt der Begierde die Braut eines anderen wird, führt dieser Abgleich mit der Realität zu wahrhaft zerstörerischer Eifersucht. Der Entscheidungsprozess zwischen Realität und Ideal verläuft bei Lisa ganz ähnlich. Auch sie spürt, dass ihre bevorstehende Heirat nicht all ihre Wünsche befriedigen wird. Auch sie verstrickt sich in die Leidenschaft für ein unerreichbares Ideal, das sich außerhalb gesellschaftlicher Konventionen befindet. Im Gegensatz zu Hermann wird ihr allerdings bewusst, dass sie einen Fehler begangen hat. Dennoch, es ist zu spät für sie, wieder auf den alten Pfad zurückzukehren. Ihr Selbstmord ist die logische Folge ihrer nicht mehr korrigierbaren Entscheidung.
Hermanns Leidenschaft ist wahrhaft dämonisch.
Hermanns Leidenschaft nimmt dämonische Züge an. Die Intensität, mit der er eine idealisierte Geliebte verfolgt, erklärt, warum er empfänglich ist für seine andere zerstörerische Leidenschaft, das Kartenspiel. Puschkin schildert diese Leidenschaft als Folge eines inneren Triebs, dessen sich Hermann nicht bewusst war und den er lange Zeit zu unterdrücken versuchte. In Tschaikowskis Oper scheint die Ursache seiner Obsessionen tiefer zu liegen.
Hermanns Leidenschaft ist wahrhaft dämonisch. Er spürt augenblicklich, dass er und die Gräfin durch eine geheimnisvolle Macht verbunden sind, die sie nicht kontrollieren können.
In Kunstwerken, in denen das Dämonische eine Rolle spielt, taucht unweigerlich die Frage auf, wo es herrührt. Ist es lediglich eine Geistesverwirrung, eine Sinnestäuschung? Oder gehört es zu einer eigenen Sphäre – spiritueller, übersinnlicher Natur – außerhalb unserer Welt?
Puschkins Erzählung ist ein Meisterwerk der Phantastischen Novelle. Etwas Geheimnisvolles schwebt über allem. So wie Puschkin es darstellt, könnte Hermanns Obsession vollständig auf sein inneres Wesen zurückgeführt werden. Er wird beschrieben als jemand mit einer regen Phantasie, dem Aberglauben deutlich zugeneigt.
Es ist absolut vorstellbar, dass er sich die Begegnung mit dem Gespenst der Gräfin nur einbildet. Das bedeutet aber nicht, dass Puschkins Erzählung nicht auch die Deutung zuließe, dass hier Übernatürliches am Werk sei.
Wie lässt sich Hermanns fataler Irrtum erklären? Hat ihn seine Gier fehlgeleitet oder hat ein dämonisches Schicksal die Karte im letzten Augenblick ausgetauscht? Puschkins Erzählung liefert hier keine Antwort.
Die Mehrdeutigkeit zwischen dem Realen und dem Phantastischen ist einer der hauptsächlichen Reize dieser Novelle.
Puschkins Erzählung ist ein Meisterwerk der Phantastischen Novelle
Tschaikowskis Oper hingegen legt nahe, dass hier durchaus das Dämonische am Werk ist. Seine Ursprünge liegen im Übernatürlichen. Es steht über der Realität und nimmt diese in Besitz. Dies zeigt sich an den Figuren Hermanns und der Gräfin. Die erste Szene der beiden zeigt, wie eng die beiden mit dem Übersinnlichen verbunden sind.
Sie erkennen, dass der jeweils andere ein Geheimnis in sich trägt, das sich für den anderen als tödlich erweisen wird. Die Musik unterstreicht diesen Eindruck. Die Gräfin wird musikalisch eingeführt durch das Leitmotiv der drei Karten. Innerhalb der Handlung wurde die Herkunft dieses Themas noch nicht geklärt. Dies geschieht erst, als Graf Tomski seine Ballade singt. In seiner Erzählung wird der mysteriöse Graf Saint-Germain, der das Geheimnis an die Gräfin weitergab, als dämonische Figur gezeichnet. Dass Hermann von einem dämonischen Geist beherrscht wird, zeigt sich wiederum in der Gewalt, die er über die Elemente zu haben scheint. Seine Eifersucht entfesselt den Sturm, der das erste Bild beschließt. In der Traumszene, in der der Geist der Gräfin das Geheimnis der drei Karten enthüllt, lotet Tschaikowski die Spannung zwischen dem Dämonischen und dem Heiligen voll aus. Bei Puschkin wird Hermanns Erinnerung an das Begräbnis erwähnt, doch Tschaikowskis Musik macht diese Erinnerung greifbar.
Tschaikowskis Gebrauch der Ganztonskala für die Erscheinung der Gräfin geht auf den Code für Übersinnliches zurück, wie ihn erstmals Glinka in Ruslan und Ljudmila als Leitmotiv für einen bösen Zauberer eingeführt hat.
Die Vorstellung einer metaphysischen Schlacht zwischen Gut und Böse lässt sich am Ende der Oper erkennen. Hermanns Tod wird von den Gesängen eines orthodoxen Chores beklagt. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass die Spieler im Spielsalon einen derartigen Gesang anstimmen würden. Man kann darin entweder einen Funken der Erkenntnis des sterbenden Hermann sehen – oder die Stimme des Heiligen, das Vergebung und Erlösung in Aussicht stellt.
Die Darstellung der Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts bildet einen Gegenpol zum Phantastischen. Das achtzehnte Jahrhundert steht hier für Normalität. Tschaikowski verband die Schilderung der gesellschaftlichen Ordnung mit dem poetischen Bild des Bukolischen. Das instrumentale Vorspiel, ein Siciliano, kündigt an, dass dieses Element gleich eine Rolle spielen wird. Das Bukolische dient der Schilderung des Landlebens und der damit verbundenen menschlichen Empfindungen wie Schlichtheit und Unschuld.
Wie die Oper zeigt, bleibt es nicht auf die Schäferszene beschränkt. Das erste Bild könnte man als urbane Pastorale bezeichnen. Ein angenehmer Frühlingsmorgen im Sommergarten in Sankt Petersburg ist die Szenerie für eine Art Schäferspiel für Stadtbewohner:innen. Dennoch bekommt das idyllische Bild schon bald Risse. Der Sturm, der es zerstört, deutet auf die plötzlich hervorbrechenden negativen und destruktiven Emotionen hin, die menschliche Beziehungen durchkreuzen.
Die Funktion, die das bukolische Element für die Entwicklung des Dramas hat, wird im zweiten Bild vollends deutlich. Lisas Treffen mit ihren Freundinnen findet im Zimmer eines Landhauses mit Blick auf einen Park in der Dämmerung statt. In Lisas und Polinas Duett wird die Veränderlichkeit der Natur im Wechsel von Tag und Nacht besungen. Das Bild der Veränderung nimmt in Polinas Romanze eine dramatische Wendung. Das idyllische Arkadien ist nicht nur Thema der Tages- und Jahreszeiten, sondern deutet auch auf die Vergänglichkeit menschlichen Lebens hin. Polinas Lied – Epitaph einer Schäferin– ist die klassische Umsetzung einer Idee, die im Lateinischen „Et in Arcadia ego“ (Auch ich in Arkadien) lautet, sprich: auch der Tod ist in einer idealen Landschaft anwesend.
Batjuschkows Verse spielen auf die klassische Darstellung des Themas in der Bildenden Kunst an: Die arkadischen Hirten von Nicolas Poussin im Louvre. Die Verse passen perfekt zu der Inschrift auf dem Grabstein, den Poussins Hirten lesen. Polinas Romanze ist eine Vorankündigung des Schicksals, das Lisa erwartet. Das Bild der verliebten Schäferin taucht auch in der Ballszene auf. Den Gästen auf dem Maskenball wird ein Intermezzo mit dem Titel Die treue Schäferin dargeboten. Die schlichte Handlung dreht sich um eine Schäferin, die sich zwischen Reichtum und wahrer Liebe entscheiden muss. Sie wählt die unwandelbare Liebe des mittellosen Schäfers. Hier wird auf Lisas Situation angespielt.
Das Dilemma, dem sie sich gegenübersieht, wird noch komplexer durch die Darstellung der Figur ihres Verlobten, Fürst Jelezki. Wie Fürst Gremin in Eugen Onegin bekommt er Gelegenheit, seinen Gefühlen für sie musikalischen Ausdruck zu verleihen. Er erweist sich als nobler Charakter, der das Herz auf dem rechten Fleck hat. Seine Liebe und Fürsorge für Lisa sind aufrichtig. Er ist kein eitler Aristokrat, der nur Reichtum zu bieten hat. Er strahlt eine moralische Integrität aus, die ihn schließlich zum einzig legitimen Gegner Hermanns in dessen letztem Kartenspiel werden lässt.
Das Libretto zu Pique Dame wurde durchaus kritisch bewertet. Erfahrener Textdichter, der er war, bauschte Modest Puschkins Erzählung um gewisser Operneffekte willen auf. Die Entscheidung für den Stil des achtzehnten Jahrhunderts kann als Äquivalent der couleur locale in konventionellen Opern angesehen werden. Auch bleibt die symbolhafte Ebene in der Anlage seiner Oper ziemlich durchsichtig und oberflächlich: Die Ziffern der drei Karten – drei, sieben, As – spiegeln sich in der Struktur der drei Akte, sieben Bilder und der daraus entstehenden einen Oper. Tschaikowski setzte all seine Vorstellungskraft und musikalisches Feingefühl ein, um das Libretto zum Leben zu erwecken. Zwar ist das Werk zu einem Großteil von traditionellem Zuschnitt. Dennoch ging Tschaikowski über die Komposition einer Standard-Oper hinaus. In drei entscheidenden Szenen ließ er all seine Vorgänger weit hinter sich. Diese drei aufeinanderfolgenden Szenen sind: das Schlafzimmer der Gräfin (4. Bild), die Kaserne (5. Bild) und die Szene am Winterkanal (6. Bild). In diesen Szenen erschließt Tschaikowskis Musik Ausdrucksmöglichkeiten, die der Oper bis dahin verschlossen waren.
Diese drei Szenen können als Studien in abnormalem psychologischem Verhalten bezeichnet werden. Tschaikowski verzichtet hier auf musikalische Rückgriffe aufs achtzehnte Jahrhundert, mit Ausnahme des Liedes, das die Gräfin in ihrem Schlafzimmer singt. Es handelt sich hierbei um eine Arie des französischen Komponisten André Ernest Modeste Grétry. Vermutlich schob Modest das Stück als Verweis auf Puschkins Charakterisierung der Figur als einen der Vergangenheit verhafteten Menschen ein. Die Erinnerung an ihre Jugend soll ihre Furcht vor dem Alter und dem bevorstehenden Tod fernhalten. Was die drei Szenen musikalisch verbindet, ist die beeindruckende Verwendung von Ostinato-Mustern.
Tschaikowski erschafft musikalisches Gewebe, das aus verschiedenen übereinandergelegten Ostinato-Schichten besteht. Auf diese Weise tilgt die Musik jegliches Zeitempfinden. Sie erschließt uns den direkten Zugang zur Psyche der Figuren.
Die Musik erschließt uns den direkten Zugang zu Psyche der Figuren
Als Hermann das Schlafzimmer der Gräfin betritt, ist er völlig von seiner Begierde, das Geheimnis zu erfahren, beherrscht. Die Szene findet kein musikalisches Ende. Das Ostinato könnte ewig so weitergehen. Diese ständig wiederholten Muster sind ein Hinweis auf Hermanns zerrütteten Realitätssinn. Die Musik des Kasernenbildes verwendet ebenfalls verschiedene musikalische Schichten. Hermann spukt noch die Begräbnismusik im Kopf herum. Die Wahrnehmung seiner realen Umgebung – die ihn in Form von Trompetensignalen erreichen könnte – ist ausgeschaltet. Auch diese Szene hat keinen musikalischen Schluss. Das Ostinato zeigt hier an, dass Hermann nicht mehr aus seiner Illusion erwachen wird.
Die Szene am Winterkanal beginnt wiederum mit mächtigen Ostinati, die Lisas innere Zerrissenheit widerspiegeln. Sie versucht ihre Angst in einem wunderbar geformten Arioso zu beschwichtigen. Als ihr bewusst wird, dass Hermann tatsächlich verrückt ist, setzen die Ostinati erneut ein. Sie zerschmettern sie buchstäblich durch ihre massive Kraft und ihre absichtlich unausgeglichene, verzerrte Instrumentation.
Die musikalische Schilderung eines gestörten Verstandes in diesen drei Szenen ist so überzeugend, dass Kritiker sich gezwungen sahen, die Musik in einen breiteren kulturellen Kontext zu stellen. Interpretationen jüngeren Datums argumentieren, dass Pique Dame mehr ist als nur ein ganz besonderes phantastisches Drama. Der Begriff des Surrealismus wurde herangezogen, um den Effekt der Verzerrung zu beschreiben, mit dem diese Musik die dunklen Bereiche im Verstand eines Menschen nachzeichnet. Vor kurzem hat sich die Ansicht,
Pique Dame sei eine frühe Form dessen, was schließlich Symbolismus genannt wurde, weitgehend durchgesetzt. Die extreme Spannung zwischen dem 18. Jahrhundert-Pasticcio einerseits und der verstörenden Studie des Abnormalen und Dämonischen andererseits scheint ein Vorbote der Dekadenz des Fin de Siècle zu sein. Die Tatsache, dass Tschaikowski nicht mehr lebte, als das Silberne Zeitalter – wie die russische Fin de Siècle-Kultur bezeichnet wird – anbrach, ändert nichts an der Tatsache, dass Künstler:innen und Kritiker:innen zu jener Zeit besonders empfänglich für seine Musik waren. Sicher ist jedoch, dass Tschaikowskis Oper solche Assoziationen nur dank ihres außergewöhnlichen musikalischen Gehalts
erweckt.
Tschaikowski war ein Meister in der Kunst der Charakterisierung mit Tönen. In Eugen Onegin blieb die Charakterisierung menschlichen Verhaltens im Rahmen überschaubarer Verhältnisse. In Pique Dame begab sich die Musik auf unbekanntes Terrain bei der Erforschung der geheimsten Winkel der menschlichen Seele.
Dieser Artikel ist die Kurzfassung von Francis Maes Artikel Queen of spades – a tale of an obsession, and much more? in der deutschen Übersetzung.
Die englische Langfassung finden Sie hier.
Der Musikwissenschaftler Francis Maes war Künstlerischer Direktor des Festival van Vlanderen und wurde dann zum Professor für Musikwissenschaft an der Universität Gent in Belgien berufen. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf russischer und osteuropäischer Musik. Er veröffentlichte A History of Russian Music from Kamarinskaya to Babi Yar (University of California Press, 2002) und war Beiträger des The Cambridge Companion to Shostakovich. Zu seinen jüngeren Arbeiten zählen die musikgeschichtliche Abhandlung über die europäische Musik bis 1900 Een Geschiedenis van de Europese muzik tot 1900 (2019) und eine Monografie über Tschaikowskis Eugen Onegin (2023).