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Katja Bertsch über die Psychologie des Glücksspielens
Katja Bertsch über die Psychologie des Glücksspielens
Pique Dame zeigt einen zunehmend verzweifelten Menschen auf seiner Suche nach persönlichem Glück.
Der „tragische Held“ Hermann verbindet dieses Glück stark mit gesellschaftlicher Anerkennung und sozialem sowie finanziellem Aufstieg – unauflöslich verquickt mit seiner Liebe für Lisa. Seine Geschichte folgt dabei mehr oder weniger dem klassischen Verlauf einer Glücksspielsucht. Zunächst gewinnt das Glücksspiel in einem positiven Anfangsstadium, das auch als Gewinnphase bezeichnet wird, an Reiz. Gewinnfantasien, positive Gefühle und das Gefühl der Kontrolle und Selbstwerterhöhung verstärken in dieser ersten Phase das Spielverhalten.
Die Frequenz und auch die Neigung zu höheren Einsätzen und riskanteren Spielen steigt. Bei Hermann spielen hier vor allem positive soziale Aspekte eine zentrale Rolle: Das Glücksspiel steht im Zentrum des sozialen Geschehens, und die Spielenden erhalten die Aufmerksamkeit der versammelten Abendgesellschaft, so dass das Mitspielen allein ein sozialer Gewinn zu sein scheint. Darüber hinaus sind jedoch weitere Anreize von Bedeutung, etwa die Chance auf finanziellen Erfolg, der eine Liaison mit Lisa und den damit verbundenen möglichen gesellschaftlichen Aufstieg verspricht.
Obwohl der Ausgang von Glücksspielen in der Realität durch eigenes Verhalten kaum beeinflussbar ist, neigen viele Spielende ähnlich wie Hermann zu „magischem Denken“. Sie gehen davon aus, durch bestimmte Spielzüge, Tricks oder Glücksbringer den Spielausgang positiv beeinflussen zu können. Bei Hermann ist dies die Kenntnis dreier bestimmter Karten, für die er alles geben würde. Zu diesem Zeitpunkt ist Hermanns Suchtverhalten allerdings schon weit fortgeschritten.
Das zweite Stadium der kritischen Gewöhnung, auch als Verlustphase bezeichnet, ist durch steigende Spielintensität und Einsätze gekennzeichnet. Ähnlich wie bei Hermann kreisen die Gedanken vorwiegend um das Glücksspiel, Verluste sollen durch immer neue Spiele „ausgeglichen“ werden. Ein Teufelskreis entsteht, welcher letztlich im Suchtstadium beziehungsweise in der Verzweiflungsphase mündet. Ähnlich wie bei Hermann ist es für Betroffene in diesem Stadium schwer, allein den Ausstieg zu finden. Viele Lebensbereiche
sind nun auf das Glücksspiel ausgerichtet, und das Glücksspiel selbst hat eine enorme Anziehungskraft.
Kleine, unvorhersehbare Gewinne halten stets die Attraktivität des Spiels aufrecht und locken mit der Option auf weitere, potenziell große Gewinne. Andere Lebensbereiche verlieren an Reiz – in der Psychologie spricht man von reduziertem Verstärkerwert oder Verstärkerverlust. So dreht sich auch in Pique Dame die Beziehung zwischen der Liebe zu Lisa und dem Glücksspiel im Laufe der Geschichte.
Zu Beginnder Oper stellte das Glücksspiel einen Weg zu Lisa dar. Im Laufe der Handlung wird Lisa beziehungsweise ihr Zugang zur Gräfin und deren Kenntnis über die Gewinnerkarten Mittel zum Erfolg im Spiel. Nicht selten nutzen Spielende in dieser Phase neben den eigenen auch die finanziellen Ressourcen anderer Menschen, sei es von Partner oder Partnerin, Eltern, Kindern oder des Freundes- und Bekanntenkreises. Nahestehende Menschen werden belogen und teilweise kriminelle Aktivitäten begangen, um Spieleinsätze oder
Schuldenbegleichung zu finanzieren. Die negativen Konsequenzen werden nun zunehmend deutlicher.
Neben Schulden sind hier die Entfremdung von anderen wichtigen Menschen ebenso zu nennen wie psychische Folgen. Das Gefühl des Kontrollverlusts sowie Angst und Schuldgefühle machen sich bemerkbar, die bis zu Depression und Suizidalität führen können. In Pique Dame wird diese Phase besonders dramatisch dargestellt.
Für den großen Gewinn geht Hermann buchstäblich über Leichen und zerstört sich letztlich selbst.
Dass Glücksspielsucht ein immer noch hochaktuelles Thema ist, zeigt unter anderem der Glücksspielatlas Deutschland 2023. Gemäß der darin präsentierten repräsentativen Studie nahmen im Jahr 2021 etwa 30 Prozent der Bevölkerung in Deutschland an Glücksspielen teil. Bei 2,3 Prozent der Bevölkerung – in absoluten Zahlen: bei 1,3 Millionen Personen – ist von einer Glücksspielsucht auszugehen. Glücksspielsucht oder „Störung durch Glücksspiel“ ist eine klinische Diagnose, die sich ähnlich wie die Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen durch bestimmte Kriterien oder Merkmale beschreiben lässt. Bei Personen, bei denen mindestens vier dieser Merkmale innerhalb eines Jahres erfüllt sind, spricht man von pathologischem Glücksspiel beziehungsweise Glücksspielsucht oder „Störung durch Glücksspiel“, bei weniger als vier von problematischem Glücksspiel.
Ein Merkmal der Glücksspielsucht ist das Bedürfnis, mit immer höheren Einsätzen zu spielen. Der Versuch, das Spielverhalten einzuschränken, führt zu Unruhe, Gereiztheit oder Nervosität. Alle bisher unternommenen Versuche, das Glücksspiel einzuschränken, waren erfolglos. Die Gedanken Betroffener kreisen stark um das Glücksspiel und die Vorbereitung des nächsten Spiels. Oftmals wird das Glücksspiel betrieben, wenn die Betroffenen sich nicht gut fühlen, sie zum Beispiel gestresst oder traurig sind. Verluste sollen durch neue Spiele wiedergutgemacht werden. Um das Ausmaß des Glücksspielverhaltens zu verheimlichen, werden Mitmenschen häufig angelogen. Letztlich wird sich auf die finanzielle Unterstützung anderer verlassen, und es werden wichtige Lebensbereiche gefährdet, beruflich wie privat.
Dank epidemiologischer Studien konnten Risikofaktoren für pathologisches Glücksspiel ermittelt werden, die sich interessanterweise auch in einigen Zügen der Figur des Hermann entdecken lassen. Neben männlichem Geschlecht und jüngerem Erwachsenenalter, könnten dies ein Migrationshintergrund, finanzielle Probleme und eine psychische Vulnerabilität sein. Hermann könnte man nach der Differenzierung unterschiedlicher Störungsbilder bei pathologischen Glücksspielern von Körber (1996) als „Glücksritter“ bezeichnen, gekennzeichnet durch narzisstische Züge mit einem fragilen Selbstwert, den er eng mit sozialer Anerkennung und gesellschaftlichem Aufstieg zu verbinden scheint. Das Glücksspiel wird dieser Theorie zufolge als Ausgleich für narzisstische Kränkungen betrachtet, hier etwa das „Außenseitertum“, das mit Zurückweisung und Zurückdrängung durch gesellschaftlich höhergestellte Personen verbunden ist. Gerade die Vermeidung negativ getönter Gefühle wie Angst, Trauer oder Einsamkeit ist eine charakteristische Funktionalität des Glücksspielens. Diese kurzfristige psychische „Entlastung“ stellt lerntheoretisch ein wichtiges Element bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Glücksspielsucht dar. Durch die nicht vorhersehbare, unmittelbare Belohnung, die geringe Anstrengung, die mit einem einzelnen Spiel verbunden ist, und die wiederholte Erfahrung von Erregung während des Spiels wird das Glücksspielverhalten gefestigt. Seine Anziehungskraft erhält das Glückspiel auch durch seine Ähnlichkeit zum kindlichen Spielen. Das kindliche Spiel dient der symbolischen Realitätsaneignung und dem Ausprobieren von Verhaltensoptionen. Der Umgang mit Regeln und Rollen wird geübt. Kinder und Erwachsene spielen, um kurzzeitig die Realität in den Hintergrund rücken zu lassen. Das Spielgeschehen und sein Ergebnis haben keine Auswirkungen auf das reale Leben. Hiervon grenzt sich das Glückspiel durch den Einsatz von Geld klar ab, wodurch die typische Zweckfreiheit des (kindlichen) Spielens außerhalb des Spielgeschehens aufgehoben wird. Die Glücksspielenden setzen sich dem Zufall aus, der über Gewinn oder Verlust entscheidet. Diese Ungewissheit erzeugt einen spezifischen, rauschartigen Reiz, der den Rest der Welt in Vergessenheit geraten lässt. Häufig schätzen Spielende Wahrscheinlichkeiten, die Unabhängigkeit von Ereignissen sowie eigene Einflussmöglichkeiten falsch ein. Sie schreiben Gewinne eher der eigenen Person und dem eigenen Handeln zu und schieben Verluste auf den Zufall. Auch ist die Annahme unter Spielenden weit verbreitet, dass auf eine bestimmte Anzahl an Verlusten „logischerweise“ ein – potenziell besonders hoher – Gewinn folgen müsste, was Unsinn ist. Auch wurde bei Betroffenen eine Neigung zu impulsiven, risikoreichen Handlungen beschrieben. Diese Befunde stimmen mit den Ergebnissen neurowissenschaftlicher Studien überein, die insbesondere Veränderungen in der Aktivierung des Belohnungsnetzwerk und den hierfür wichtigen Transmittersystemen fanden. Auf alltägliche Belohnungsreize reagieren Betroffene weniger stark als nicht Betroffene. Der empfundene „Rausch“ während des Glücksspiels scheint vor allem mit einer hohen Ausschüttung der Transmitter Dopamin und Serotonin im ventralen Striatum, einer zentralen Struktur des Belohnungssystems, zusammenzuhängen.
Betrachtet man Glücksspiel aus einer gesellschaftlichen Perspektive, so ist der hierdurch entstehende Schaden enorm. Neben der Verschuldung des Einzelnen und seines sozialen Umfelds sind Arbeitsausfälle und die Kosten für Behandlung und Rehabilitation zu nennen. Die gesellschaftliche Betrachtung des Glücksspiels ist aber auch aus einem anderen Grund von entscheidender Bedeutung, denn verhaltenspräventive Maßnahmen gelten als besonders wirksam für die Reduktion der Gefahr für ein pathologisches Spielverhalten. Sie verändern den Rahmen, in dem Glücksspiele angeboten werden. Hierzu zählen in erster Linie Verfügbarkeitsbeschränkungen, wie spürbare Angebotsbeschränkungen oder die Spielersperre. Daher fordern die Autor:innen des Glückspielatlas Deutschland 2023 als Konsequenz der von ihnen ausgewerteten Daten auch ein Verbot von Glücksspielen im Nachmittags- und Frühabendprogramm und eine Einschränkung der Werbung, insbesondere für Sportwetten, sowie wirkungsvollere Maßnahmen gegen das illegale Automatenund Onlinespiel. Gerade Onlinespiele stellen aufgrund der ständigen Verfügbarkeit und schweren Kontrollierbarkeiten einen besonders problematischen Bereich dar.
Neben Onlinespielen gehören Lotterien, Sportwetten, Automatenspiele und Glücksspiele im Kasino wie Poker, Black Jack oder Roulette zu beliebten Glücksspielen, deren Spieleinsätze auf dem legalen Glücksspielmarkt 2021 bei etwa 44 Milliarden Euro lagen. Die Dunkelziffer des unerlaubten Glücksspielmarktes, der hauptsächlich aus illegalen Zweitlotterien, Online-Kasinospielen, virtuellen Automatenspielen und Sportwetten besteht, ist unbekannt.
Er wird mit weiteren Spieleinsätzen von 0,7 bis 2,3 Milliarden Euro pro Jahr beziffert.
Gerade weil Glücksspiele und damit auch die Einstiegsmöglichkeiten ins Glücksspiel so gegenwärtig sind, ist es für Betroffene so schwer, den Ausstieg allein zu bewerkstelligen. Schuld- und Schamgefühle führen oft zur langen Geheimhaltung oder Untertreibung des wahren Problems. Ähnlich wie bei Hermann wird auf „den einen großen Gewinn“ gesetzt, der alles wieder in Ordnung bringt und verspricht, ein neues, finanziell sorgenfreies Leben zu bescheren. Das Öffnen gegenüber vertrauten Personen und Aufsuchen von Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen ist ein erster wichtiger Schritt. Häufig sind darüber hinaus aber weitere Schritte notwendig, die neben einer Schuldenberatung auch eine ambulante oder stationäre Psychotherapie umfassen können.
Die Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlungen ist für pathologisches Spielen gut belegt und wird dann besonders relevant, wenn, wie bei Hermann, selbst- und fremdgefährdende Gedanken oder Handlungen vorliegen. In der Psychotherapie werden Betroffenen Informationen über ihre Störung vermittelt und die Auslöser und verstärkenden Folgen des Spielverhaltens erarbeitet. Betroffene lernen einen Umgang mit Rückfällen und erobern nach und nach alternative positive Bereiche ihres Lebens zurück – Strategien, die möglicherweise lebensrettend für die Gräfin, Lisa und Hermann gewesen wären.
Katja Bertsch ist Inhaberin des Lehrstuhls für Psychologie I – Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Nach Studium und Promotion in Psychologie an der Universität Trier war sie in der Klinik für Allgemeine Psychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg tätig und schloss dort ihre Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin ab. Sie war an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie tätig und wechselte im Oktober 2023 an die Universität Würzburg. In ihrer Forschung interessiert sie sich insbesondere für zwischenmenschliche Probleme im Zusammenhang mit psychischen Störungen, also soziale Angst und Vermeidung, aber auch Aggressivität und Gewalt.