Listige Teufel und tanzende Kaffeekannen
Albert Gier über Pique Dame im Spannungsfeld der Phantastischen Literatur
Fotografie: Vrinda Jelinek / Conneted Archives
Albert Gier über Pique Dame im Spannungsfeld der Phantastischen Literatur
Fotografie: Vrinda Jelinek / Conneted Archives
Die Oper Pique Dame beginnt mit einer heiter-idyllischen Szene. Am ersten warmen Frühlingstag spielen Jungen und Mädchen im Park, Kindermädchen und Gouvernanten schauen zu. Von dem fröhlichen Treiben sticht Hermann, der Protagonist, seltsam ab. Sein Kamerad Surin sagt über ihn: „Als wenn er mindestens drei Verbrechen auf dem Gewissen hätte … Wie ein Dämon der Hölle, trübselig … bleich …“ Hermann ist deutscher Abstammung und hat nur wenig Vermögen. Er ist verliebt in Lisa, die Enkelin der alten Gräfin – hoffnungslos, denn er ist bürgerlich. Wenn er sie aber nicht heiraten kann, will er nicht weiterleben.
Lisa und die Gräfin haben ihn sehr wohl bemerkt: „Mir ist so bang! Wieder steht vor mir der geheimnisvolle, düstere Unbekannte!“ Lisa ist mit dem Fürsten Jelezki verlobt, aber am Abend ihres Verlobungstags gesteht sie sich ein, dass sie Hermann liebt: „Wie ein gefallener Engel ist er schön, in seinen Augen brennt das Feuer der Leidenschaft, wie ein wunderbarer Traum lockt er mich, und meine ganze Seele ist in seiner Macht.“ Sie fasziniert, so scheint es, gerade das „Düstere“, Wilde, der Überschwang der Gefühle an Hermann – ein bisschen wie in Bertolt Brechts und Kurt Weills Dreigroschenoper („Und als er kein Geld hatte, / und als er nicht nett war, / und sein Kragen war auch am Sonntag nicht rein, / und als er nicht wusste, was sich bei einer Dame schickt, / zu ihm sagte ich nicht ‚nein‘“). Wenn er dann erscheint, um „Abschied zu nehmen“ – geradezu obsessiv wiederholt er, dass er nicht weiterleben kann, wenn sie einem anderen angehört –, will sie ihn wegschicken, aber sie kann ihr Gefühl doch nicht unterdrücken: „Nein! Bleib am Leben!“ Ohne langes Zögern wird sie sich ihm hingeben. Den Schlüssel, mit dem er ins Schlafzimmer der Gräfin, und von dort zu ihr gelangt, soll er erst in der folgenden Nacht benutzen, er aber drängt: „noch heute!“ und sie gibt nach: „Dann sei es halt! Denn ich bin deine Sklavin!“
„Wie ein gefallener Engel ist er schön, in seinen Augen brennt das Feuer der Leidenschaft [...]“
Hermann sitzt nächtelang am Spieltisch, obwohl er selbst nie spielt. Aus der Ballade, die sein Freund Tomski vorträgt, erfährt er vom Geheimnis der Gräfin. Als sie beim Spiel eine hohe Summe verloren hatte, habe ihr der Graf von Saint-Germain, ein Abenteurer, Alchemist und Scharlatan, wie es im 18. Jahrhundert viele gab, für ein Schäferstündchen drei Karten verraten, die immer gewinnen. Da sie das Geheimnis weitergegeben hat (an ihren Mann und einen „hübschen Jüngling“), ist ihr ein „Gespenst“ erschienen und hat gedroht: „Du
wirst einen tödlichen Schlag erhalten von dem dritten, der, leidenschaftlich liebend, kommt – um mit Gewalt von dir zu erfahren das Geheimnis der drei Karten!“ Das ist mehrdeutig wie die Orakelsprüche von Delphi. Die nächstliegende Vermutung ist, dass sie von einem Liebhaber ermordet werden wird (so versteht es Surin, der meint, da habe die alte Frau wohl nichts mehr zu befürchten), aber schuld an ihrem Tod wird Hermann sein, der Lisa liebt. Nebenbei bemerkt fragt man sich, woher der Dichter der Ballade über die Drohung des Gespenstes Bescheid wissen konnte: Dass der Graf Saint-Germain sich um die Gräfin bemühte, war der Pariser Gesellschaft sicher aufgefallen; die (angeblichen) Künste des Grafen waren allgemein bekannt, zwei und zwei zusammenzuzählen, war da nicht allzu schwer. Von dem „Gespenst“ dagegen wusste nur die Gräfin, und die wird diese Geschichte sicher für sich behalten haben.
Für Hermann werden die Karten zur Obsession, selbst Lisa tritt daneben in den Hintergrund. Zunächst denkt er noch an eine gemeinsame Zukunft: „Drei Karten! Die drei Karten wissen, und ich bin reich! ... Dann kann ich zusammen mit ihr der Welt davonlaufen … Verdammt! Dieser Gedanke bringt mich um den Verstand!“ Beim Maskenball im 2. Akt flüstern Tschekalinski und Surin ihm die Drohung des „Gespenstes“ ins Ohr, um ihn zu „necken“. Der Chor wiederholt sie – natürlich nur in Hermanns Phantasie, woher sollten die Festgäste die Geschichte der Gräfin kennen? Hermanns Reaktion – „Verrückt, verrückt bin ich!“ – zeigt, dass er selbst bemerkt, wie die idée fixe allmählich von ihm Besitz ergreift.
Im Schlafzimmer der Gräfin fragt sich Hermann: „Und wenn es nun überhaupt kein Geheimnis gibt? Wenn das alles nur ein Wahngebilde meiner kranken Seele ist?“ Bis zu diesem Zeitpunkt, so scheint es, ist er noch Herr seiner Sinne, er könnte sich die Karten aus dem Kopf schlagen und vielleicht mit Lisa glücklich werden. Der Tod der Gräfin markiert den Wendepunkt – von diesem Zeitpunkt an scheint er in der Tat wahnsinnig.
Vor einem Porträt, das die Gräfin als schöne junge Frau zeigt, überlegt Hermann: „Durch irgendeine geheime Macht ist mein Schicksal mit ihr verbunden. Ich an dir oder du an mir, das fühle ich – einer von uns beiden wird an dem anderen zugrundegehen!“ Das ist nicht mehr als eine dunkle Vorahnung, aber sie wird sich bewahrheiten. Das lässt sich nicht allein damit erklären, dass Hermann geistig und psychisch krank ist. Hier geraten wir in den Bereich des Phantastischen.
Die Literaturwissenschaft bezeichnet als phantastisch Phänomene, für die es zwar eine natürliche Erklärung gibt; es bleibt aber ein Restzweifel, ob nicht doch Übernatürliches im Spiel ist. Unter dem Einfluss von E.T.A. Hoffmann entstand in Frankreich seit etwa 1830 die Gattung der phantastischen Erzählung; ein frühes Beispiel ist Die Kaffeekanne (La cafétière, Conte fantastique, 1831) von Théophile Gautier.
Der Erzähler unternimmt mit zwei Freunden eine Reise zu Fuß in die Normandie. Unterwegs werden sie von heftigem Regen überrascht, sie stapfen durch den Morast und kommen nur langsam vorwärts. Als sie endlich ankommen, sind sie erschöpft und gehen bald zu Bett. Das Zimmer des Erzählers ist im Rokoko-Stil eingerichtet, mit vielen Porträts aus dem 18. Jahrhundert an den Wänden. Das Kaminfeuer erhellt den Raum nur unzureichend, und der Erzähler glaubt, die dargestellten Figuren würden lebendig, stiegen aus den Rahmen und setzten sich hin, um Kaffee zu trinken. Die Kaffeekanne ist vom Tisch gehüpft und zum Kamin gewackelt, um ihren Inhalt aufzuwärmen. Dann beginnt ein Tanzvergnügen.
Das ist zwar seltsam, aber leicht zu erklären: Der Erzähler ist übermüdet, vielleicht auch etwas fiebrig, weil er sich im strömenden Regen eine Erkältung geholt hat. Die ungewöhnliche Einrichtung regt seine Phantasie an, und im flackernden Schein des Feuers mag es scheinen, als bewegten sich die Figuren.
Er entdeckt dann ein schönes Mädchen namens Angéla, mit dem er tanzt und das auf seinem Schoß sitzt, bis der Morgen graut. Dann will sie fliehen, aber sie stürzt. Der Erzähler findet nichts als die zerbrochene Kaffeekanne und verliert das Bewusstsein. (Ihre exzessive Tanzlust erinnert ein wenig an die Wilis im Ballett Giselle, Libretto von Gautier und Jules-Henri Vernoy de Saint Georges [1841]: Das sind junge Frauen, die vor der Hochzeit gestorben sind und deren Geister nachts an Wegkreuzungen Männer, die ihnen begegnen, zu Tode tanzen.)
Zweifellos ist der junge Mann aufgestanden, und im Fieber hat er die Kanne in den Arm genommen, um mit ihr zu tanzen. Am Nachmittag aber zeichnet er die Kaffeekanne; der Gastgeber
erkennt auf dem Blatt das Profil seiner Schwester Angéla, die vor zwei Jahren an einer Lungenentzündung gestorben ist, die sie sich auf dem Heimweg von einem Ball zugezogen hat. Lebt ihre Seele etwa in der Kaffeekanne weiter? Das bleibt in der Schwebe.
Den Tod der Gräfin (vermutlich durch Herzschlag) verursacht Hermann unwillentlich (er will ja, dass sie redet!), indem er sie mit einer Pistole bedroht. Lisa, die hinzukommt, erkennt, dass er nicht um ihretwillen in das Haus eingedrungen ist, sondern nur, um das Kartengeheimnis zu erfahren, und jagt ihn fort. Hermann wird vom Bild der Gräfin verfolgt. Wenn er beim Begräbnis an ihrem offenen Sarg steht, hat er den Eindruck, sie habe ihm „plötzlich, gleichsam spöttisch die Augen zukneifend“, zugezwinkert – das kann man auf seine überreizten
Nerven und das schlechte Gewissen zurückführen. Wenn das „Gespenst“ der Gräfin ihn etwas später aufsucht, ans Fenster klopft und dann zur Tür kommt, ist das allerdings ungleich konkreter. Zweifellos hat der geistig zerrüttete Hermann Halluzinationen. Es macht allerdings einen Unterschied, ob in einem Roman von einer Figur gesagt wird, sie halluziniere, oder ob eine Geistererscheinung von einer Sängerin verkörpert auf der Bühne steht. Im zweiten Fall ist es ungleich schwerer, sie für ein bloßes Trugbild zu halten. Die Erscheinung erklärt, sie komme gegen ihren Willen, aber ihr sei aufgetragen, seine Bitte zu erfüllen. Da sie sich mit Dämonen eingelassen hat, ist sie wohl auf ewig verdammt, der Auftrag kommt also vermutlich von höllischen Mächten, was natürlich nichts Gutes erwarten lässt. Sie nennt ihm die drei Karten (Drei, Sieben und As) und verlangt, er möge Lisa heiraten. Diese hat ihm unterdessen geschrieben, weil sie fürchtet, ihm Unrecht getan zu haben: Inzwischen ist sie überzeugt, dass er den Tod ihrer Großmutter nicht gewollt hat, und will ihn um Mitternacht am Winterkanal treffen. Sie hat sich zu der Überzeugung durchgerungen:
„Er ist Opfer eines Zufalls, ein Verbrechen kann er einfach nicht
begehen.“
Er kommt (mit ganz leichter Verspätung), sie umarmen sich, alles scheint gut. Hermann aber ist immer noch besessen von der Idee, dank der drei Karten ein Vermögen zu gewinnen, er will sofort zur Spielbank. Lisa ist verzweifelt. Auf ihre Frage: „Das heißt, dass du sie getötet hast?“ antwortet Hermann zunächst: „O nein! Wozu? Ich habe nur die Pistole gezogen, und die alte Hexe fiel tot um!“, aber dann wird er konkreter: „Es ist wahr, die drei Karten weiß ich jetzt! Ihrem Mörder hat sie die drei Karten genannt! So war es vom Schicksal bestimmt. Ich musste das Verbrechen begehen, die drei Karten konnte ich nur um diesen Preis kaufen.“ Lisas Verzweiflung scheint er nicht zu bemerken. Sie will trotzdem bei ihm bleiben, aber er stößt sie weg: „Wer bist du? Dich kenne ich nicht! Fort! Fort!“ Dann läuft er davon; dass sie sich verzweifelt ins Wasser stürzt, bemerkt er schon nicht mehr.
Ihrem Mörder hat sie die drei Karten genannt!
Hermanns idée fixe hat unterdessen ganz von ihm Besitz ergriffen, erst im allerletzten Moment, wenn er den Schuss, der ihn töten wird, schon abgefeuert hat, glaubt er Lisa vor sich zu sehen, und hofft auf ihre Vergebung. Dass er über seiner Spielwut die Frau, die er doch so sehr liebt, völlig vergisst, hat eine Parallele in einer phantastischen Erzählung von Guy de Maupassant, Le Horla, Aufzeichnungen eines Mannes, der ein glückliches Leben geführt hat, bis er glaubt, unter den Einfluss eines rätselhaften, unsichtbaren Wesens geraten zu sein, das er „den Horla“ nennt. Dieses Wesen trinkt die Wasserkaraffe und Milch auf seinem Nachttisch aus; in Albträumen glaubt er, dass es auf sein Bett klettert, sich (wie der Incubus der Mythologie) auf seine Brust setzt und ihn erwürgen will. Er versucht, Beweise für die Anwesenheit des Horla zu finden. Um auszuschließen, dass er selbst (schlafwandelnd) die Karaffe austrinkt, umwickelt er sie mit weißem Musselin und reibt Lippen, Bart und Hände mit Graphit ein: auf dem Stoff sind später keine Graphitspuren sichtbar, dennoch ist die Karaffe leer. Er leidet an fieberhafter Nervosität und Panikattacken, allerdings bessert sich sein Befinden schlagartig, sobald er sein Haus verlässt, um nach Paris oder Rouen zu reisen. Schließlich nimmt er sich vor, den Horla zu töten. Er lässt im Haus Jalousien und eine Tür aus Eisen anbringen und legt Feuer. Dabei hat er seine Dienstboten schlicht und einfach vergessen. Sie gehen in dem brennenden Haus elend zugrunde. Da es keinen Beweis gibt, dass das Feuer den Horla getötet hat, bleibt das
Ende offen.
Die Psychose Hermanns gleicht der von Maupassants namenlosem Erzähler. Wenn Hermann im Spielsaal erscheint, fällt sein Zustand den anderen sofort auf. Surin fragt ihn: „Wo kommst du her? Wo warst du? Nicht etwa schon in der Hölle? Schau, wie du aussiehst!“ Wenn er zum ersten Mal setzt und gewinnt, bemerken die anderen: „Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu! Seiner Augen Flimmern verheißt nichts Gutes, er ist wie ohne Besinnung!“ Nachdem er auch das zweite Spiel gewonnen hat, steigert er sich in eine aufgesetzte Lustigkeit: „Was ist unser Leben? Ein Spiel! Gut und Böse, das sind nur Phantasien! Arbeit und Ehrlichkeit, das sind Märchen für Weiber! […] Was ist zuverlässig? Der Tod allein!“
„Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu! Seiner Augen Flimmern verheißt nichts Gutes, er ist wie ohne Besinnung!“
Dass Hermann das erste Spiel gewinnt, mag man als Zufall abtun. Das zweite Spiel allerdings könnte ein Indiz dafür sein, dass an Saint-Germains Kartengeheimnis doch etwas dran ist (ob auch der Mann der Gräfin und der „Jüngling“, denen sie die Karten verraten hat, damit erfolgreich waren, wird nicht explizit gesagt, man wird es aber wohl annehmen dürfen). Vor einem dritten Spiel schrecken alle zurück. „Der Teufel selbst spielt mit dir in einer Person!“, sagt Tschekalinski. Einzig Jelezki, der Lisas wegen eine Rechnung mit Hermann offen hat, nimmt die Herausforderung an. Hermann aber verliert: Er hatte das As setzen wollen, hält aber die Pique Dame (die Karte, der die Gräfin ihren Spitznamen verdankt) in der Hand.
Im selben Augenblick erscheint das Gespenst der Alten. Offensichtlich ist es nur für Hermann sichtbar, denn niemand anders reagiert darauf. Er aber fragt: „Was ist? Was willst du von mir? Das Leben, mein Leben? Nimm es, nimm es“ und erschießt sich. In seinen letzten Augenblicken scheint er beruhigt – er bittet Jelezki und Lisa, die er vor sich zu sehen glaubt, um Verzeihung und stirbt wohl friedlich.
Die zweite Erscheinung der toten Gräfin ist noch spektakulärer als die erste. In seinem Zimmer war Hermann allein, jetzt zeigt sie sich ihm (für einen kurzen Moment) in einem Saal voller Menschen, die sie aber offensichtlich nicht wahrnehmen können. Das mag einerseits darauf hindeuten, dass es sich um eine Wahnvorstellung Hermanns handelt. Andererseits liegt die Vermutung nahe, dass Hermann ohne das Eingreifen der Alten auch das dritte Spiel hätte gewinnen können: Er wollte das As spielen, und er hat sich sicher nicht in der Karte geirrt, die Gräfin hat ihm die Pique Dame wie auch immer untergeschoben. Hermann hat jeden Bezug zur Realität verloren; dennoch fällt es schwer, die beiden gewonnenen und das dritte verlorene Spiel für reine Zufälle zu halten; wer will, wird durchaus Gründe dafür finden können, dass der Teufel hier seine Hand im Spiel hatte. Und wie sagte André Gide? „Die größte List des Teufels ist, uns einzureden, dass es ihn nicht gibt.“
Albert Gier, Promotion in Bonn und Habilitation in Heidelberg, ist Professor im Ruhestand für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Bamberg. 1994 begründete er dort ein „Dokumentationszentrum für Librettoforschung“, das nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst im Herbst 2016 dem „Archiv für Textmusikforschung“ am Institut für Romanistik der Universität Innsbruck eingegliedert wurde. 1998 erschien Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung, das sofort zum Standardwerk avancierte. Zahlreiche Artikel zum Thema Libretto in überregionalen Zeitungen sowie Beiträge in Programmheften, Rundfunksendungen u.v.m. (Notiz Sarah: das ist doch kein Satz, oder?