Von Puschkin emanzipiert
Andreas Ebbinghaus über die Genese des Pique Dame-Librettos
Fotografie von Iacopo Pasqui / Connected Archives
Es kommt am Wochenende vom 14. bis 16. Februar 2025 zu Verkehrsbehinderungen im Innenstadtbereich.
Andreas Ebbinghaus über die Genese des Pique Dame-Librettos
Fotografie von Iacopo Pasqui / Connected Archives
Nach den Komponisten Michail Glinka (Ruslan und Ljudmila, 1842), Modest Mussorgski (Boris Godunow, 1869) und einigen anderen brachte auch Pjotr Tschaikowski Großwerke Alexander Puschkins auf die Opernbühne: Den Versroman Eugen Onegin (1878), das Poem Poltawa (als Mazeppa, 1883) und mit der Novelle Pique Dame (1890) erstmals eine Vorlage in Erzählprosa (erschienen 1834). In ihr wird in sechs Kapiteln nebst Epilog auf etwa 28 Druckseiten dies erzählt: Der deutschstämmige Pionieroffizier (russisch inzhener) Hermann ist stets nur zuschauender Gast in einem privaten Petersburger Salon, in dem man Karten spielt (das seinerzeit weltweit populäre Pharo). Einmal hört er aus dem Munde des Grafen Tomski eine seltsame Geschichte: Dessen Großmutter half in ihrer Jugend in Paris der als Mystiker bekannte Graf Saint-Germain, eine Spielschuld zurückzugewinnen, indem er ihr das „Geheimnis“ dreier Karten eröffnete, die sie nacheinander setzte. Sie gewann und spielte fortan nie wieder. Nur einmal habe sie, so will Tomski von seinem Onkel erfahren haben, das Kartengeheimnis an einen verschuldeten jungen Spieler verraten. Offenbar zufällig gerät Hermann am nächsten Abend vor ein prächtiges Haus, in dem gerade ein Ball stattfindet. Es gehört der Gräfin. Mit leidenschaftlichen Briefen erschleicht sich Hermann das Vertrauen Lisaweta Iwanownas, der Pflegetochter der Gräfin, die ihm eine Gelegenheit verschafft, unbemerkt ins Haus zu gelangen, als sie mit der Gräfin ausgefahren ist.
Nach deren Rückkehr bedrängt Hermann die Alte in ihrem Schlafzimmer:„Ich weiß, dass Sie hintereinander drei Karten erraten können.“ „Das war ein Scherz. Ich schwöre es Ihnen!“, erklärt die Gräfin und stirbt vor Schreck, als Hermann eine Pistole zieht. Abergläubisch gestimmt geht Hermann auf das Begräbnis. Als er sich auf den Stufen des Katafalks verneigt, „schien es ihm, dass ihn die Tote belustigt ansah und dabei ein Auge zukniff“.
In der folgenden Nacht erscheint ihm die Gestalt der Verstorbenen, der gegen ihren Willen aufgetragen sei, ihm die drei Karten zu nennen: die Drei, die Sieben und das As. An zwei Abenden gewinnt Hermann mit den ersten beiden Karten. Am dritten Tag aber wird das As, auf das er gesetzt hatte, auf der Seite der Bank (links) aufgelegt. Auf der Seite, auf der er gewonnen hätte (rechts), liegt die Pique Dame. Hermann meint zu sehen, „dass die Pique Dame ein Auge zukniff und höhnisch lächelte“.
Dass Hermann die falsche Karte zieht, kann man als eine Fehlleistung deuten, hinter der sich Unbewusstes und Verdrängtes geltend macht. Es geht in der Erzählung um die Lebensentscheidung zwischen Geld und Liebe (beim letzten Kartenspiel symbolisiert durch das As respektive die Pique Dame). In der Schlafzimmer-Szene (Kapitel III) wird sie sinnfällig in den beiden abgehenden Türen. Hermann geht nicht, wie ihn Lisaweta angewiesen hatte, durch die linke Tür über den Flur zum „Zimmer der armen [!] Pflegetochter“, sondern wählt die rechte Tür, um in einem Kabinett auf die Gräfin zu warten. Seine an sie gerichteten Worte „Sie können mir das Glück meines Lebens verschaffen“ („Vy možete sostavit’ sčastie moej žizni“) verraten Reichtum als das falsche Lebensziel, für das er Lisaweta rücksichtslos getäuscht hatte.
Als ihm die Alte später im Traum erscheint, meldet sich in deren Worten sein schlechtes Gewissen: „Ich verzeihe dir meinen Tod, wenn du meine Pflegetochter Lisatewa heiratest“ (Kapitel V). Das Liebesthema kommt bei Hermann aber auch expliziter zur Sprache. Hermann überlegt, ob er der Liebhaber der Gräfin werden solle, um an das Kartengeheimnis zu kommen, und als er ihr Haus über eine geheime Treppe verlässt, kommt ihm in den Sinn, dass 60 Jahre vorher hier vielleicht ein Liebhaber der Gräfin gegangen war. Die Gräfin gehört zu den Alten, die sehr wohl geliebt und „zu ihrer Zeit all ihre Liebe verausgabt haben“ („otljubivšie v svoj vek“). Hermann aber kommt nicht von einem Stelldichein mit Lisaweta, als er das Haus über die Geheimtreppe verlässt. Die Differenz in der Parallele lässt sein Versagen noch einmal sinnfällig werden. Die Vorgänge könnte als psychopathologischen Fall verstehen, wer sich an die Wertungen des Erzählers hält, der von einer abergläubischen Disposition des Helden, von der zunehmenden Fixierung des „berechnenden“ Offiziers auf die mitgehörte Geschichte, von seinen „wirren Phantasien“ (die ihm Objekte seiner Umgebung als Kartenbilder
erscheinen lassen) usw. spricht. Auf dieser Ebene sind die Vorgänge im Ansatz psychologisch erklärbar.
Die Kartenwerte etwa (die Drei, die Sieben) könnten aus Hermanns vor sich hin gesprochenem Wunsch hervorgegangen sein, sein Vermögen „zu verdreifachen, zu versiebenfachen“ (und selbst ein ‚As‘ zu werden).
Gegen eine nüchtern-rationale Auflösung der Vorgänge stehen aber die mystisch-okkulte Quelle des möglichen Kartengeheimnisses, seine ungesicherte Tradierung und die nicht recht durchschaubare Figur des Tomski, der seinerseits ein Geheimnis um Hermanns Charakter andeutet (der habe „sicherlich drei Verbrechen auf seinem Gewissen“ und erinnere physiologisch an Napoleon). In der Atmosphäre des Ungesicherten und Rätselhaften wird der Leser durch eine Vielzahl unklar miteinander verbundener oder aufeinander beziehbarer Details (nicht nur die vielen Zahlenangaben) dazu animiert, in Betracht zu ziehen, dass hier nicht rational erklärbare Kräfte am Werke sein können. Nicht zuletzt sind es Analogien bestimmter Bildmotive zu Elementen freimaurerischer Zeremonien (die Gräfin auf dem Katafalk, der Rosenschmuck, die Zahlen), die die Frage aufwerfen:
Die Verführung zu einer vertikalen Sinnsuche in die Motiv-Tiefe des Textes ist im Pique Dame-Libretto in jedem Falle suspendiert. Die Oper hat daran kein Interesse. Auch will sie keine Interpretation der literarischen Vorlage sein.
Sie will Musik mit einem hohen Anteil an gesungenen Partien darbieten. Eine Vielfalt an Rollentexten kann sie leichter realisieren mit mehr Figuren, mehr Handlungssequenzen und mehr Schauplätzen, als die Puschkinsche Erzählung bereitstellt. Für die Bedürfnisse der Oper sollten im Libretto daher Handlung, Räume und Figuren ausgeweitet werden. Hilfreich war die auf eine Idee Iwan Wsewoloschskis, des Direktors der Kaiserlichen Theater in Petersburg, zurückgehende Entscheidung, die Handlung in die Regierungszeit Katharinas II. vorzuverlegen. Diese Maßnahme versprach, dem Publikum ein vielfältigeres und opulenteres szenisches und musikalisches Geschehen darbieten zu können. Bei den beiden wichtigsten Änderungen an der Handlungsstruktur der Vorlage greift der Librettist auf konventionelle Sujetmodelle zurück.
So ist Hermann bei seinem ersten Auftritt leidenschaftlich verliebt in das Äquivalent zu Puschkins Lisaweta, die in der Oper Lisa heißt und eine Enkelin der Gräfin ist. Dass er den Namen der Angebeteten noch nicht kennt, wird Thema seines ersten Ariosos. Immerhin sieht er, dass er die Dame ohne Vermögen nicht wird ehelichen können.
Das Karten-(Glücks-)Spiel – bei Puschkin die einzige, unbedingte Obsession, der die Figur erliegt – ist im Libretto anfangs nur Mittel zum Zwecke der Verfolgung einer vorläufig vorrangigen anderen Leidenschaft. Neben den erotischen Zielen eine zwanghafte Fixierung auf das Kartenspiel zu entwickeln und die Konkurrenz beider Obsessionen stimmig zu handhaben, würde auch einem reinen Erzähltext nicht leicht von der Hand gehen.
Das Libretto macht es sich zusätzlich schwer. Wo bei Puschkin Tomskis anekdotisches Erzählen über die Gräfin und das Kartengeheimnis den Wirklichkeits- und Wahrscheinlichkeitsvorstellungen der Zuhörer verbunden bleibt, erzählt Tomski in der Oper von einem Geist (prizrak), der der Gräfin die Prophezeiung eröffnet, sie (die das
Geheimnis bereits ihrem Ehemann sowie einem jungen Schönling verraten hatte) werde einen „tödlichen Schlag bekommen durch einen Dritten, der leidenschaftlich liebt und kommt, um die drei Karten zu erfahren“. Mit Hermanns Überzeugung, jener Dritte zu sein, setzt die Fixierung auf den Gewinn von Reichtum ein, die Hierarchie der Obsessionen und damit das Verhältnis von Mittel und Zweck haben sich umgekehrt. Gleichzeitig zeigt Hermanns Verstand zunehmend pathologische Züge. Als Lisa ihn am Ende des 1. Aktes zweimal „Sie wahnsinniger Mensch“ nennt, ist das eher metaphorisch gemeint, als Hermann in der zweiten Szene des 3. Aktes ankündigt, das Kartengeheimnis im Spiel anzuwenden, ist ihr „O Graus, er ist wahnsinnig“ eine laienpsychiatrische Diagnose.
Bei Puschkin, so darf man den Epilog verstehen, verlor Hermann den Verstand erst über der falsch gelegten Karte und das Zwinkern und Lächeln der Pique Dame, das er glaubte gesehen zu haben.
Tomskis Erzählung von einer Geist-Erscheinung irritiert die sichere Sortierung der Fiktionalitätsebenen, mit denen man es zu tun hat. Zudem wird die Prophezeiung eines „tödlichen Schlages“ zwischenzeitlich zu einem blinden Motiv. Bei der tödlich endenden Begegnung mit der Gräfin spielt sie keine Rolle. Deren Tod ist wie bei Puschkin eine Art Betriebsunfall. Dann aber erklärt Hermann „Es ist eingetroffen (sbylos’), aber das Geheimnis habe ich nicht erfahren“. Nach der Erscheinung der Gräfin im Traum sagt er „Ihrem Mörder hat sie die drei Karten genannt. So war es vom Schicksal bestimmt“. Sein „Verbrechen“ sei der „Preis“, zu dem allein er die Karten habe „kaufen“ können. Die Funktion des vorübergehend ausgeblendeten Motivs der Prophezeiung eines „tödlichen Schlages“, der die Gräfin ereilen wird, wird deutlich.
In der Hermann-Lisa-Beziehung wird über die gesamte Oper hinweg – melodramatisch oder theatralisch – immer wieder auf die Instanz des Schicksals (sud’ba, bisweilen rok) rekurriert. Die Todes-Prophezeiung macht es möglich, auch die Gräfin-Hermann-Handlung mit der Macht des Schicksals zu verknüpfen. Darauf hatte es der Librettist abgesehen. Das den beiden Hauptfiguren eingepflanzte Bewusstsein vom Fatum soll den Ereignissen Gewicht geben und Anlässe für theatralische Auftritte schaffen. In Puschkins Novelle dagegen bestätigt sich letzten Endes, auf mittlerer prosaischer Sprachebene dargelegt, die zwischenzeitlich infragegestellte Unbedingtheit des Zufalls.
Eine zweite Erweiterung im Handlungsaufbau wird repräsentiert durch Hermanns Konkurrenten, den Fürsten Jelezki. Die Konstellation bringt einigen musikalischen Ertrag, beispielsweise das Duett Jelezki – Hermann, ein Quintett, als die Gräfin und Lisa dazustoßen, sowie Jelezkis Arie im 3. Bild. Lisas Entscheidung für Hermann findet ihr literarisches Modell im Intermedium, das in der Ball-Szene für die Gäste aufgeführt wird. Das Stück verwendet Pjotr Karabanows Gedicht Herzen werden durch Aufrichtigkeit gewonnen … (erstmals 1786, unter dem Titel Die Aufrichtigkeit der Hirtin erst 1812). Aber nicht alle Textvorlagen der von den Opernfiguren vorgetragenen Stücke stammen noch aus dem 18. Jahrhundert. Das Duett Es wird Abend im 2. Bild entnimmt die Strophen 6–8 der 23-strophigen Elegie Abend (Večer, 1806) von Wassili Schukowski. Polinas „Lieblingsromanze“ stammt von Konstantin Batjuschkow und erschien 1810 als Epigramm auf dem Grabstein einer jungen Hirtin, die gleichsam aus dem Grab heraus die glücklich spielenden und tanzenden Freundinnen in Arkadien grüßt. Mit der Schlussstrophe von Gawriil Derschawins 1791 gedruckter Neujahrshymne Einem Haus, das Wissenschaft und Künste liebt singen die Musizierenden als Eingangschor des 3. Bildes erneut Literatur ihrer eigenen Gegenwart. Der Schlusschor im 3. Bild verwendet Verse aus einer Hymne Derschawins auf einen militärischen Sieg 1794. Im 7. Bild schließlich erklingt aus dem Munde Tomskis ein Scherzlied, für das Derschawin 1802 einen Iwan Barkow (†1768) zugeschriebenen obszönen Zweizeiler bearbeitete.
Großzügig betrachtet helfen die innerfiktional vorgetragenen fremden literarischen Texte (einschließlich der anachronistischen) durchaus, ein Zeitkolorit des späten 18. Jahrhunderts zu schaffen. Mit einer Ausnahme gehören sie alle den Bildern an, die keine Entsprechung in der Erzählung Puschkins haben. Aber auch das 7. Bild hat in seinem ‚lauten‘ Eingangsteil mit einem Trinklied und eben Tomskis Scherz-Lied keinen Bezug zur Darstellung des letzten Spielabends im Kapitel VI bei Puschkin.
Die Szenen, in denen das von Puschkin übernommene Sujet erweitert oder der Text um nicht oder wenig handlungsrelevante Passagen ausgeschmückt wurde, sind somit die Bilder 2, 3 und 6. Das 1. Bild hat im Auftritt Jelezkis keine Entsprechung bei Puschkin. Im 3. Bild wird ein Ball szenisch dargestellt, der bei Puschkin nur in Dialogen Erwähnung findet. Umgekehrt wird ein Handlungsort aus der Erzählung (Kapitel V) in der Oper nicht szenisch präsentiert. Das Erlebnis vor dem Katafalk der Gräfin kommt lediglich in einer halluzinatorischen Erinnerung Hermanns zur Sprache. Vielleicht bot es sich an, diese mit dem geträumten Besuch der toten Gräfin in einem Bild „Kaserne. Hermanns Zimmer“ (5. Bild) zusammenzuführen und sich die Einheit des Ortes atmosphärisch zunutze zu machen. Möglich ist aber auch, dass man sich scheute, kirchliche Hierarchen auf die Bühne zu bringen (bei Puschkin spricht „ein junger Bischof“ die Grabrede), gemäß damals geltenden Restriktionen (so wie man die Zarin am Ende des 3. Bildes als Ehrengast ankündigen, nicht aber aufreten lassen durfte). Eine engere textliche Nähe zwischen Erzählung und Libretto kann es naturgemäß nur in den Passagen geben, die die zentralen Handlungssequenzen der Erzählung aufgreifen. Man gewinnt den Eindruck, dass dort ein textlicher Bezug möglichst bis hin zu wörtlichen Übernahmen angestrebt war, so vor allem in den Dialogen Hermanns mit der Gräfin bzw. ihrem „Geist“ (Bild 4 und 5) und Hermanns mit Lisa, aber auch in Tomskis „Ballade“ (Bild 1). Ein Publikum, das an diesen Stellen den Wortlaut der Novelle wiedererkennt, wird Tschaikowskis Werk bereitwillig als eine Oper nach Puschkin wahrnehmen, obschon diese sich von ihrer literarischen Vorlage in Vielem weiter entfernt als andere Opern nach Puschkin-Texten zuvor.
Der Literaturwissenschaftler und Slawist Andreas Ebbinghaus ist Professor im Ruhestand an der Universität Würzburg.
Er veröffentlichte Studien u. a. zu Nikolai Gogol, Anton Tschechow und besonders zu Alexander Puschkin (Puškin und Russland, 2004). Er ist Herausgeber einer kommentierten Ausgabe des Dramas Boris Godunow mit eigener Neuübersetzung (2013). Zuletzt erschien über die sogenannten „Kleinen Tragödien“, ebenfalls mit kommentierter metrumgetreuer Neuübersetzung, die Untersuchung Don Juan, Mozart, Salieri und ein Gelage während der Pest. Alexander Puschkins Dramatische Szenen und ihre westeuropäischen Stoffe (2020).