Warum spielen wir „Krieg und Frieden“?
Als Vladimir Jurowski und ich uns Ende 2018, Anfang 2019 bei der Programmplanung für die Bayerische Staatsoper für die Oper „Krieg und Frieden“ entschieden, lag der Angriffskrieg Russlands noch in der Ferne. Wir waren uns einig darüber, dass wir Sergej S. Prokofjews monumentale Vertonung von Lew N. Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ als ein Meisterwerk sehen, das zudem bisher noch nie in München gezeigt wurde.
Tolstois pazifistischer Roman zählt unbestritten zu den Hauptwerken der Weltliteratur und eröffnet – dies greift Prokofjew auf – ein ganzes Panorama an Themen, welches sich aus Begebenheiten und Ereignissen auch jenseits des eigentlichen Kriegsgeschehens zusammensetzt: der Ruhm Russlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die Leibeigenschaft, die Befreiung des Volkes, die Freimaurerei, das alltägliche Leben der Aristokratie, das Fehlen einer identitätsstiftenden Kultur in den hohen russischen Gesellschaftsschichten und vieles mehr. Tolstoi ermöglicht den Leser:innen seines Romans einen weit gefächerten Blick auf individuelle und kollektive Phänomene und Themen der russischen Kultur.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat unsere Welt – uns alle – schlagartig verändert und stellte auch für unser Produktionsteam von „Krieg und Frieden“ einen gravierenden Einschnitt bei seinen Vorbereitungen dar. Seither spaltet die Frage, ob man denn noch russische Werke aufführen dürfe, die öffentliche Meinung. Dabei ist es doch keinesfalls die russische Kunst und Kultur an sich, die für die politischen Handlungen eines Regimes und seiner Machthaber verantwortlich ist. Große Werke überschreiten Grenzen und thematisieren globale Probleme. Michelangelo ist ein italienischer Künstler, aber er spricht zu allen. Picasso – war er nur ein Spanier? Wir dürfen die Kunst nicht auf die Nationalität derjenigen beschränken, die sie erschaffen haben. Mussorgski, Schostakowitsch, Tschaikowsky – diese Komponisten haben Werke hinterlassen, die der Menschheit gehören.
Wäre es nicht absurd, die ganze russische Musik, die ganze russische Kultur aus unseren Sälen zu verbannen? Dennoch ist das Dilemma offensichtlich: Spielt man russische Musik, unterstützt man Putins Propaganda, sagen die einen. Spielt man keine russische Musik, bestätigt man das Bild des russlandfeindlichen Westens und unterstützt damit ebenfalls Putins Propaganda, sagen die anderen. Man könnte Tschaikowsky, Schostakowitsch, Rachmaninow, Prokofjew und Co. einfach ersetzen, das Repertoire wäre auch so umfangreich genug – mit Strauss, Wagner, Puccini würde es allerdings nicht unbedingt einfacher werden. Denn auch bei diesen Komponisten bleiben Fragen zurück. Wenn wir strenge Maßstäbe ansetzen, müssten wir bald mehr aus unseren Programmen und Spielplänen streichen als uns lieb ist.
Es gibt keine einfachen Antworten auf diese Fragen. Vladimir Jurowski, Dmitri Tcherniakov und ich haben uns dennoch entschieden, dass wir „Krieg und Frieden“ auf die Bühne bringen wollen – gerade jetzt. Insbesondere in der herausfordernden Zeit, in der wir leben, gilt es, die Relevanz der Kunst ständig neu zu stärken. Die Aktualität dieses Werks, vor allem der Zugriff von Dmitri Tcherniakov, wird zeigen, welche gesellschaftliche Bedeutung Oper heute hat.
Tolstoi und insbesondere Prokofjew lassen in „Krieg und Frieden“ keine Grausamkeiten des Krieges aus. Auch in unserer Inszenierung wird uns vieles aufrütteln. Prokofjew bettet die scheiternde Liebesgeschichte ein in die Weltgeschichte, verschränkt Individuum und Gesellschaft unauflösbar, das relativiert den Einzelnen und wertet das Kollektiv auf. Alle sind Opfer des Krieges, es gibt nur Tote, Verwundete, Versehrte, alle Menschen verlieren etwas.
»Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit«, so steht es in goldenen Lettern am Gebäude der Wiener Secession. Ich sehe es als unsere Aufgabe, für diese Freiheit der Kunst einzutreten, uns nicht von totalitärem Gebaren einschüchtern zu lassen. Diese Freiheit der Kunst ist unabdingbar mit Internationalität, Diversität und Dialog verbunden. Erst der Austausch in einem größeren Kontext verleiht einzelnen Stimmen kulturelle Bedeutung. Kultur lässt sich daher weder an geopolitischen Grenzen oder Nationalitäten festmachen noch darf sie ein Mittel sein, um Menschen zu spalten. Sie lebt vom Dialog in einer offenen Gesellschaft. Lassen Sie uns gemeinsam darüber diskutieren, wie wir in einer besseren, friedlicheren Welt leben möchten!
Serge Dorny