Weltbezug und Wirksamkeit
Weltbezug und Wirksamkeit
von Bernhard Günther
Fotografie von David Avazzadeh
Lesedauer: ca. 6 Minuten
Überlegungen zur Musik von Georg Friedrich Haas
Freuen Sie sich, es wird besser: Am Ende des 20. Jahrhunderts war zeitgenössische Musik teilweise noch eine sehr weltfremde Angelegenheit. Ich erinnere mich beispielsweise an einen großen Gaststarauftritt von Karlheinz Stockhausen 1996 bei den Darmstädter Ferienkursen für neue Musik, im bunten Sommercamp der Avantgarde. Der 68 Jahre alte Meister sprach wie tief aus dem Inneren einer jahrzehntelang von der Außenwelt abgeschnittenen Zeitkapsel. Er schwärmte vom herrlichen Klang der Fliegerangriffe im Zweiten Weltkrieg, gab mit reizenden Assistentinnen auf einer übertrieben großen Bühne tagelang den bizarren Oberlehrer und wähnte sich über jede Kritik turmhoch erhaben. Der Nachwuchs bekam von der schlecht getimten Dosis an Pathos, Humorlosigkeit, Sexismus und Autoritätsgehabe allergische Reaktionen. Und prompt erklärten ältere Musikexperten (ja, Männer) den Jüngeren erst einmal das Allerwichtigste an der Musikwissenschaft: Einzig dem Werk und seiner Analyse habe die gesamte Aufmerksamkeit zu gelten. Von der Persönlichkeit, der politischen Einstellung, dem öffentlichen Auftreten, kurz: allen subjektiven „Umweltfaktoren“ rund um das Werk vollständig abzusehen sei eine historische Errungenschaft, an der es unter allen Umständen festzuhalten gelte.
Ich mache es kurz: Dass dieses Ideal einer hermetischen Trennung von Leben und Kunstwerk es nicht ohne etliche Risse und Luftlöcher in die Gegenwart geschafft hat, hat dazu beigetragen, dass das vermeintliche Objekt dieser vermeintlich objektiven Forschung – die sogenannte neue Musik – heute noch gesellschaftliche Relevanz besitzt. An beidem – an der Verbindung von Kunst und Leben wie auch an der gesellschaftlichen Relevanz neuer Musik – war und ist Georg Friedrich Haas nicht ganz unbeteiligt
„Ich verstehe Kunst als etwas das für Menschen gemacht ist. Das meint nicht Menschen, die als existierende Masse definiert werden können, sondern das Ideal mündiger, kritischer Menschen. Dem idealen Hörer, der idealen Hörerin stehe ich als Komponist auf Augen- und Ohrenhöhe gegenüber. Als niemand meine Musik spielen und hören wollte, ganz am Anfang meiner Entwicklung, komponierte ich u. a. Musik für einen Pianisten an zwei um einen Viertelton verstimmten Klavieren, die ich selbst alleine aufführen konnte, und veranstaltete (gemeinsam mit meiner wunderbaren ersten Ehefrau Marie-Luise) Hauskonzerte, wo man sich anschließend am Buffet bediente und gemeinsam aß. Da waren dann mehr Menschen bei uns in der Wohnung als in so manchem Konzert traditioneller neuer Musik …“ (Georg Friedrich Haas)
Das Musikverständnis der Experten (ja, Männer), das bis ins späte 20. Jahrhundert unbeirrt um das große Meisterwerk kreiste, bekam es im 21. Jahrhundert unüberhörbar mit dem ganz normalen Leben und dem Rest der Welt zu tun – oder, wie es der Europarat 2005 in der Faro Convention formulierte, mit der „Notwendigkeit, Menschen und menschliche Werte ins Zentrum einer erweiterten und disziplinüberschreitenden Auffassung von kulturellem Erbe zu rücken.“ Die Politik drängte darauf, „zu erkennen, dass Objekte und Orte nicht für sich genommen das Wichtige am kulturellen Erbe sind. Sie sind wichtig aufgrund der Bedeutungen und Nutzungen, die Menschen mit ihnen verbinden, und der Werte, die sie repräsentieren.“
Dass die Politik Kunst und Gesellschaft wieder stärker verbunden sehen will als in der Epoche weltentrückter Originalgenies, kann der Musik nur recht sein – vor allem den Komponist:innen von heute: „Die Trennung von Leben und Kunst gibt es weder bei Helmut Lachenmann noch bei Olga Neuwirth“, sagt Georg Friedrich Haas mit Blick auf den leidenschaftlichen, gelebten, selbstverständlichen Gegenwartsbezug vieler Komponist:innen. Deren Nähe zur Gesellschaft findet nicht zuletzt in der zeitgenössischen Oper Ausdruck: „Die Verzweiflung in György Ligetis Grand Macabre kommt so sehr aus seinem realen Leben, dass das manchmal geradezu exhibitionistisch erscheint.“
Haas weiss, wie sich Verzweiflung im wirklichen Leben anfühlt. Eine bis 2016 nie beim Namen genannte Dunkelheit war und ist in seinem Werk in vielen Formen präsent, von düsteren Werktiteln bis zu Aufführungssituationen in völliger Finsternis. Im Alter von 63 Jahren fasste der 1953 in Graz geborene Komponist den Mut, offen von einigen zuvor unausgesprochenen Hintergründen seines grundlegenden Pessimismus zu berichten: Er entschloss sich, seine sadomasochistische sexuelle Veranlagung, die er jahrzehntelang unterdrückt und als unmoralisch empfunden hatte, auszuleben und offen darüber zu reden. Wenig später räumte er auch noch auf mit der blutigen NaziVergangenheit seiner Familie, die ihn jahrzehntelang mit Scham und Trauer erfüllt hatte. Unter den schillernden Figuren der Popmusik wären solche Äußerungen ein paar Farbtupfer unter vielen gewesen. In der von Tabus, Regeln und Verboten geprägten Welt der neuen Musik folgte auf Haas’ Bekenntnisse in der Süddeutschen und der New York Times eine hitzige Debatte über das Für und Wider der Trennung von Leben und Kunst.
„Musik kann nicht darüber reden, wen oder was man erotisch begehrt. Aber sie kann den tiefen Schmerz, die Verzweiflung darüber ausdrücken, dass die Verwirklichung dieser Begehren im Leben nicht oder nur unter widrigen Umständen möglich ist. Wenn Schubert oder Tschaikowski ihre Qual angesichts der gesellschaftlichen Repressionen in Bezug auf ihre (Homo-)Sexualität hinausschreien, dann ist das kein romantischer Weltschmerz. Es ist ein existenzielles Sich-Aufbäumen. Es ist Anklage.“ (Georg Friedrich Haas)
„Wenn etwas so klingt, dass es mich glücklich macht, dann wird es auch andere Menschen glücklich machen – nicht alle, aber manche. Und das ist sehr viel.“
- Georg Friedrich Haas
Haas bringt Persönlichkeit ins Spiel. Was heute von seinem Outing bleibt, ist die Erkenntnis, dass auch die Kunstmusik im 21. Jahrhundert angekommen ist: Es geht nicht mehr (wie im Beispiel der Stockhausen-Exegese vor einem Vierteljahrhundert) darum, krampfhaft so zu tun, als gäbe es da gar keine Person hinter dem Werk. Komponist:innen sind Menschen – die sich trauen dürfen, in der Gesellschaft offen Position zu beziehen. Im elegantesten Fall beweisen sie dabei mehr Gegenwartsgespür als jene Kritiker (ja, Männer), die Haas 2016 am liebsten ins leisetretende Biedermeier zurückgewünscht hätten. Das Feld der zeitgenössischen Musik ist endlich offen genug, um sich hier nicht sofort „unmöglich zu machen“, wenn man persönliche Angriffsflächen abseits alter Normen bietet – eine urbane Lektion des Wahl-New-Yorkers Haas für eine der kleineren, langsameren Szenen der Kunstwelt. Und ein befreiender Raumgewinn für jüngere Generationen von Komponist:innen, die Elfenbeintürme heute sowieso für unbewohnbar halten.
Haas denkt über die Wirkung seiner Musik nach. Es gehörte zu den koketten Ritualen zeitgenössischer Komponisten (ja, Männer) des 20. Jahrhunderts, jeglichen Gedanken an das Publikum wie auch an die Wirkung von Musik weit von sich zu weisen. Beides war höchstens etwas für die Niederungen der Filmmusik und galt in der Kunstmusik als rufschädigend. Haas bildete hier früh eine erfrischende Ausnahme. Seinen kompositionstechnischen Werkzeugkoffer hat er in jahrelangen historischen Recherchen und in einer Art wahrnehmungspsychologischer Grundlagenforschung entwickelt. Mikrotonale Stimmungen, Schwebungen und Reibungen, Abwärts- und Aufwärtslinien, Beschleunigungen, Verlangsamungen, Wiederholungen und vermeintliche Endlosschleifen, Illusionen, Brüche, Pausen – all das verwendet er beim Komponieren als bewusstes Experiment mit der Wirkung von Musik, deren Geschichte von traditionellen Chorgesängen am Balkan bis zur besonders spirituell, weil falsch gestimmt klingenden Orgel in der Kirchenmusik reicht.
„Ich denke zunächst einmal an meine eigenen Ohren, auch wenn das Idealbild der eigenen Ohren mit dem Älterwerden irgendwann nicht mehr mit der Realität übereinstimmt. Ich schreibe ganz bewusst für mich selbst als hörenden Menschen. Ich versuche auch an die Menschen zu denken, die das Stück spielen oder singen. Manchmal verliere ich auch da den Zugang zur Realität und die Sachen werden sehr, sehr schwer. Aber ich bin der Überzeugung, dass Komponisten, die ‚für das Publikum schreiben‘, das Publikum im Grunde genommen verachten: Denn dahinter würde ja die Überzeugung stehen, dass Komponierende grundsätzlich gescheiter sind als die Menschen, die ihre Musik hören. Und deswegen glauben sie, von ihrem hohen Ross heruntersteigen zu müssen und so zu reden, dass die Leute sie verstehen. Ich sehe das anders: wenn etwas so klingt, dass es mich glücklich macht, dann wird es auch andere Menschen glücklich machen – nicht alle, aber manche. Und das ist sehr viel.“ (Georg Friedrich Haas)
Haas schafft neue Verbindungen zwischen Alltag und Bühne. In der Oper kommen die ewigen Fragen von Leben und Tod an sich wenig überraschend. Aber wo früher Pathos, Stilisierung, große Gesten und überhöhte Dramatik für maximale Distanz zum Alltäglichen sorgten, stehen in den Opern von Haas und Händl Klaus Figuren wie du und ich auf der Bühne. Es geht dabei um nichts weniger als den Versuch, die Oper in der Verbindung von fühlbar engem Weltbezug und musikalischer Präzision in eine medial hochgerüstete Gegenwart zu bringen. Zwischen den Banalitäten des Alltags und den letzten Fragen der Menschheit setzen immer wieder faszinierende Kippeffekte ein. Anstelle langer Erklärungen hier nur eine abschließende Einladung: Genießen Sie die Wirksamkeit der Musik von Georg Friedrich Haas.
„Um das Medium Fernsehen kommt man nicht herum. Die Verbindungen zwischen Visuellem und Klanglichem sind durch unser gesamtes Leben geprägt, und da spielt das Fernsehen noch immer eine große Rolle. Sogar ich, der ich kein Fernsehen benutze, sehe mehr Fernsehen als Oper. Das Musiktheater muss sich dem Vergleich mit Film und Fernsehen stellen. Das ist seine Konkurrenz. Die erfolgreichste Oper in der Tradition Richard Wagners im späten 20. Jahrhundert war Star Wars – von der Leitmotivik und der Idee des versteckten Orchesters bis hin zum Koloratursopran (R2D2) und dem unverständlich vor sich hin knödelnden Bariton. Hören wir doch der genialen Sprachmelodie von Alec Guiness zu: Da kann Richard Wagner mit seinen ‚unendlichen Melodien‘ einpacken. Mit anderen Worten: Die Tradition der Oper wurde von einem Medium okkupiert, mit dem die Oper allein schon aus finanziellen Gründen nicht mithalten kann. Um das zu kompensieren, ist es unabdingbar notwendig, im Musiktheater etwas zu finden, das stärker ist als Film und Fernsehen. Aber wir können etwas tun, was George Lucas nicht kann. Oper kann etwas, was der Film nicht kann: Klang-Theater. Mit real musizierenden, singenden, sprechenden Menschen. Wir können Menschen im Raum positionieren, die ihr Theater mitten in diesem Klang entstehen lassen. Der Film ist auf ein paar Lautsprecher reduziert. Was in meiner Oper Thomas durch rund 360 umgestimmte Saiten physisch im selben Raum passiert, wie das atmet und lebt – das ist viel mehr als im Kino möglich wäre. Hier spüre ich die Chance für Opern der Gegenwart: Eine szenische Gestaltung, die – wie der Film – das Ziel hat, ein starkes Zusammenwirken von Sprache, Bild und Klang herzustellen. Das aber – im Gegensatz zum Film – von der Musik ausgeht, nicht von der Szene. Die Realität im Opernbetrieb heute geht in die entgegengesetzte Richtung: Da vor allem Werke der Vergangenheit inszeniert werden, muss die Regie eine Distanzierung zum Inhalt herstellen. Man kann zum Beispiel die Zauberflöte oder den Ring nicht auf die Bühne stellen, ohne eine Gegenwelt gegen die hässlichen Aspekte des Inhalts aufzubauen. Bei den Texten von Händl Klaus ist das nicht nötig. Das Inszenieren neuer Opern verlangt einen völlig anderen Zugang zu Komposition und Libretto.“ (Georg Friedrich Haas)
Bernhard Günther setzt sich als Autor, Herausgeber, Dramaturg und Kurator für verschiedene Verlage, Medien und Veranstalter, als Jurymitglied sowie als Gelegenheitsmusiker seit über 25 Jahren intensiv mit neuer Musik und ihrem Umfeld auseinander. Seit 2016 ist er Künstlerischer Leiter des Festivals Wien Modern.
Nicht anders gekennzeichnete Zitate von Georg Friedrich Haas stammen aus einem zwischen New York und Wien geführten Gespräch mit dem Autor vom 7. April 2022.